In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.
„Corona zeigt: Klimaschutz per Degrowth und Verzicht ist gefährlich“
piqer:
Ralph Diermann
Die Pariser Klimaziele verlangen Degrowth? Quatsch, meint Jan Schnellenbach, Professor für Volkswirtschaftslehre an der Brandenburgisch Technischen Universität (BTU) Cottbus-Senftenberg in einem Interview mit dem „Tagesspiegel“ – und liefert ein paar Argumente und Thesen, über die es sich zu streiten lohnt.
Schnellenbach setzt auf ressourcenschonendes Wachstum durch Produktivitätsfortschritte. Nur so lässt sich erwirtschaften, was wir benötigen, um unser Sozial- und Gesundheitssystem zu finanzieren. Technischer Fortschritt gewährleistet, dass das Wachstum klimagerecht geschieht. Um die nötigen Innovationen zu entwickeln und in den Markt zu bringen, braucht es eine angemessene CO2-Bepreisung, egal ob Emissionshandel oder Steuer. Sie sorgt dafür, dass Kostenwahrheit entsteht. Der von der Bundesregierung beschlossene CO2-Preis ist dafür viel zu niedrig, so Schnellenbach.
Degrowth dagegen sei politisch nicht durchsetzbar – zum Glück, meint Schnellenbach, da dieses Konzept viel zu sehr in die Freiheit der Bürger eingreift. Und: Eine schrumpfende Volkswirtschaft würde bedeuten, dass nicht mehr genug Mittel bereitstünden, um künftige Krisen zu bewältigen. Schnellenbach:
Man mag sich gar nicht ausmalen, was passieren würde, wenn eine Pandemie uns nach ein paar Jahrzehnten Degrowth erwischt.
GWB-Novelle – eine netzökonomische Meisterleistung zur Regulierung der Plattform-Giganten
piqer:
Gunnar Sohn
Unter Netzaktivisten erfreut sich das Wettbewerbsrecht keiner allzu großen Beliebtheit. Dabei ist es doch der Kernbestandteil oder gar das Grundgesetz der sozialen Marktwirtschaft, wie es der Wettbewerbsökonom Justus Haucap im YouTube-Video darlegt. In seinem Vortrag beleuchtet Haucap die Eckpfeiler der Novelle des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB). Und da ist den Wirtschaftswissenschaftlern Heike Schweitzer, Justus Haucap, Wolfgang Kerber und Robert Welker eine Meisterleistung gelungen. Denn ihre Studie zur Modernisierung der Missbrauchsaufsicht für marktmächtige Unternehmen ist zu einem großen Anteil in die Modernisierung des GWB eingeflossen und könnte eine Vorbildfunktion in Europa einnehmen. Was ist vom Bundeswirtschaftsministerium aufgenommen worden?
Einführung des Konzepts der „Intermediationsmacht“ als ein Kriterium zur Ermittlung einer marktbeherrschenden Stellung, um die Rolle von Plattformen als Vermittler auf mehrseitigen Märkten besser erfassen zu können. Überfällig.
Neufassung der „essential facilities doctrine“ besonders mit Blick auf Daten, um den Zugang zu „Gatekeepern“ im digitalen und nicht-digitalen Bereich zu verbessern. Wenn ein marktbeherrschendes Unternehmen sich weigert, einem anderen Unternehmen Zugang zu Daten zu gewähren, kann dieses Verhalten künftig unter bestimmten Umständen wettbewerbsrechtlich missbräuchlich sein. Kommt dem Vorschlag zur Pflicht der Datenteilung nahe, der von Thomas Ramge und Viktor Mayer-Schönberger in die netzökonomische Debatte eingebracht wurde.
Etablierung eines Eingriffstatbestandes mit besonderen Verhaltenspflichten für große Plattformen, deren überragende marktübergreifende Bedeutung das Bundeskartellamt festgestellt hat. Das Bundeskartellamt kann ihnen künftig insbesondere folgendes untersagen: Beim Vermitteln des Zugangs zu Beschaffungs- und Absatzmärkten die Angebote von Wettbewerbern und eigene Angebote ungleich zu behandeln (self-preferencing). Wettbewerber auf einem Markt, auf dem sie ihre Stellung schnell ausbauen können, zu behindern. Durch die Nutzung der von ihnen gesammelten wettbewerbsrelevanten Daten ein anderes Unternehmen zu behindern. Die Portabilität von Nutzerdaten zu erschweren und damit den Wettbewerb zu behindern.
Schaffung einer Verbotsnorm zur Verhinderung bestimmter Maßnahmen, die ein „Tipping“ oder „Kippen“ von Märkten ins Monopol herbeiführen können. Das Bundeskartellamt kann künftig unter erleichterten Voraussetzungen einstweilige Maßnahmen erlassen, um den Wettbewerb zu sichern. Der Referentenentwurf setzt ordnungspolitisch die richtigen Akzente und wird dennoch von Justizministerin Christine Lambrecht blockiert. Lambrecht steht Medienberichten zufolge zwar hinter den Verschärfungen, sie wolle ihnen aber nur dann zustimmen, wenn Peter Altmaier im Gegenzug seine Bedenken gegen eine Vorlage ihres Hauses aufgebe. Dabei handelt es sich um den Gesetzentwurf für faire Verbraucherverträge. Was für ein kurzsichtiger Kuhhandel. Frau Lambrecht sollte jetzt sofort die Blockadehaltung zur Änderung des GWB aufgeben, denn schließlich werden gerade kleine- und mittelständische Akteure in der Netzökonomie in der Corona-Krise von den großen Plattformen wegrasiert. Im Live-Talk mit Haucap haben wir das vertieft.
Merkels Masterplan für Europa – wie die Kanzlerin mit einem Milliarden-Fond die EU retten will
piqer:
Hauke Friederichs
Die Corona-Krise hat zu einer Entsolidarisierung innerhalb der EU geführt, die vor dem Ausbruch der Pandemie kaum ein Beobachter für möglich gehalten hätte: Die Mitgliedsstaaten haben Grenzen dicht gemacht, EU-Ausländer ausgeschlossen und um Desinfektionsmittel und Schutzausrüstung konkurriert. Nun übernimmt Deutschland die EU-Ratspräsidentschaft in schwierigen Zeiten, in denen die Idee und die Ideale der Europäischen Union hinterfragt, in denen nationale Interessen stärker betont werden als die Gemeinsamkeiten der Mitgliedsstaaten. Auch Angela Merkel wurde für ihre Nüchternheit gegenüber Europa kritisiert – nicht erst während der globalen Seuche.
Nun tritt die Bundeskanzlerin, zu Beginn der deutschen Ratspräsidentschaft, für ein gigantisches Rettungspaket ein, das von Corona besonders betroffenen Ländern helfen soll. Italien oder Spanien werden, so sieht es Merkels Masterplan vor, einen „außergewöhnlichen Akt der Solidarität“ erhalten.
„Europa steht vor seiner wohl größten ökonomischen Herausforderung. Prognose: ungewiss“, schreiben Daniel Brössler und Stefan Kornelius für die Süddeutsche Zeitung. „Ein Wiederaufbaufonds soll eine Katastrophe abwenden. Merkel wird ihn in der Ratspräsidentschaft durchsetzen müssen. Nun wirbt sie dafür.“
Die Kanzlerin räumt zwar ein, dass der von ihr angestrebte Fonds, den sie gemeinsam mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron vorgeschlagen hat, nicht alle Probleme Europas lösen könne. „Ihn nicht zu haben, würde aber alle Probleme verstärken“, sagt Merkel der SZ. Es liege im „ureigenen Interesse“ aller EU-Mitglieder, einen starken europäischen Binnenmarkt zu erhalten und auch gegenüber der restlichen Welt geschlossen aufzutreten – ohne es zu sagen, denkt sie dabei wohl vor allem an die Vereinigten Staaten unter Donald Trump, der die Belange der USA über alles stellt, und auch an China.
Merkel verweist auf das ungeheure und nie dagewesene Ausmaß der Krise, um ihren tiefgreifenden Schwenk in der Europapolitik zu rechtfertigen. Bislang hatte die Kanzlerin gemeinsame europäische Schulden strikt abgelehnt. Nun hat sie diese Haltung revidiert: „In einer solchen Krise wird erwartet, dass jede und jeder das Notwendige tut.“ Und das Notwendige sei in diesem Fall etwas Außergewöhnliches.
Mit den vielen Milliarden Euros in dem Fonds versucht Merkel, der Erschütterung vieler Demokratien in Europa entgegen zu stemmen. „Eine sehr hohe Arbeitslosigkeit in einem Land kann dort politische Sprengkraft entwickeln. Die Gefährdungen für die Demokratie wären dann größer“, sagte Merkel der SZ. „Damit Europa bestehen kann, muss auch seine Wirtschaft bestehen.“
Deutschland übernimmt die EU-Ratspräsidentschaft – was wird aus dem Green Deal?
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Alexandra Endres
Eigentlich sollte man denken, die Debatte sei schon längst entschieden: Klima und Wirtschaft sind kein Widerspruch. Ganz im Gegenteil: Gute Klimapolitik hilft der wirtschaftlichen Entwicklung, weil sie Strukturen schafft, in denen Wirtschaft auch in Zukunft funktionieren kann. Durch erneuerbare Energien statt fossile Brennstoffe, zum Beispiel, oder durch Produktions- und Konsumformen, die sparsamer mit unseren natürlichen Ressourcen umgehen als bisher.
Umgekehrt gilt natürlich das Gleiche: Gute Wirtschaftspolitik hilft dem Klima, indem sie darauf achtet, die Wirtschaft auf lange Sicht nicht ihrer eigenen Grundlagen zu berauben, sondern diese zu erhalten und vielleicht sogar zu vermehren. (Und idealerweise achtet sie dabei natürlich auch noch auf soziale Aspekte, aber das ist eine andere Baustelle und wird deshalb hier nur der Vollständigkeit halber erwähnt.)
Das ist eine ziemlich lange Vorrede für etwas, das eigentlich mittlerweile so gut wie allen klar sein sollte. Die Christdemokraten im EU-Parlament aber sehen Wirtschaft und Klima offenbar immer noch als Gegensätze. Sie nehmen, so berichtet die FAZ unter Berufung auf die Zeitungen der Funke Mediengruppe, die Corona-Krise zum Anlass, den „Green Deal“ der EU-Kommission in Frage zu stellen.
(Sie) wollen die Pläne der EU-Kommission für ein klimaneutrales Europa von der Entwicklung der Wirtschaft abhängig machen.
(…)
Die EU-Kommission will Europa mit dem „Green Deal“ bis 2050 zum ersten klimaneutralen Kontinent machen. Das bisherige Ziel von 40 Prozent weniger Treibhausgasen bis 2030 gegenüber 1990 soll nach dem Willen der Kommission zudem auf 50 bis 55 Prozent erhöht werden. Dazu verlangte Weber (gemeint ist Manfred Weber aus der CSU), die Kommission müsse überzeugend darlegen, dass diese Verschärfung der Klimaziele ohne Schaden für die Wirtschaft umsetzbar sei. Ohne Vorlage entsprechender Zahlen werde es mit seiner Fraktion „keine Verschärfung der Klimaziele und keine Gesetzgebung zum ’Green Deal’ geben“.
Bundeskanzlerin Angela Merkel hingegen hat angekündigt, den Klimaschutz in den Mittelpunkt der deutschen EU-Ratspräsidentschaft zu stellen. Die beginnt am 1. Juli. Und auch die EU-Kommission hält natürlich an ihren Plänen fest – und hofft dabei auf deutsche Hilfe. Heißt: Im kommenden Halbjahr wird in Brüssel erneut um die Klimaschutzpolitik der EU gerungen werden, und der Konflikt ist bereits eröffnet.
Helga Schmidt, Brüssel-Korrespondentin des WDR, liefert im hier gepiqten Text samt Audio noch ein wenig Hintergrund dazu.
Frans Timmermanns, der Klima-Kommissar, bezeichnet darin den Green Deal als „unsere Wirtschaftsstrategie“. Nichts Schönes, das man dazufügt, sondern etwas Notwendiges. Timmermanns
will verhindern, dass jetzt Milliarden in den Wiederaufbau der alten Wirtschaft gesteckt werden. Stattdessen soll gefördert werden, wer klimafreundlich produziert – etwa erneuerbare Energien, saubere Technologien, flächendeckende Ladenetze für Elektrofahrzeuge in ganz Europa und die energetische Sanierung von Häusern und Wohnungen.
Doch die Industrielobbyisten vieler Branchen – beispielsweise Auto, Agrar, Kunststoffe – setzen sich beharrlich gegen die von der Kommission vorgesehenen Klima- und Umwelt-Vorgaben ein. Und die deutschen Christdemokraten im EU-Parlament, Parteigenossen Merkels, sind dabei offenbar auf ihrer Seite. Wie viel das Bekenntnis der Kanzlerin für den Klimaschutz wert ist, wird sich deshalb wohl erst im Laufe ihrer Ratspräsidentschaft herausstellen.
Was vom Kohleausstiegs-Gesetz zu halten ist
piqer:
Nick Reimer
Karl Lauterbach, SPD-Gesundheitsexperte, twitterte kürzlich:„Stehende Hitze-> Brände-> tauender Permafrost-> Jet Stream Flaute-> mehr Stehende Hitze-> nächste Runde. Wir nähern uns ungebremst den Klimakipp-Punkten. Die Corona Rettungspakete müssen für grünen Umbau der Wirtschaft genutzt werden.“ Anlass sind die neuen Rekordtemperaturen in Sibirien. Was macht aber seine mitregierende SPD? Sie beschloss an diesem Dienstag, dass Deutschland erst 2038 aus der Kohle aussteigen wird. Und dass die SPD-Wähler als Steuerzahler den Kohlekonzernen Milliarden bezahlen werden, obwohl diese seit Jahrzehnten wissen, dass sie ihr Geschäftsfeld umbauen müssen. (Natürlich müssen auch die Unionswähler blechen, aber die Union behauptet zumindest nicht, dass sie sich für eine Umverteilung von reich zu arm einsetzt.)
Das Kohleausstiegsgesetz der Großen Koalition, ein bemerkenswerter Akt politischer Ignoranz. Da ist zuerst die Laufzeit: Für die Ziele des Paris-Protokolls, das ja alle EU-Staaten in nationales Recht umgesetzt haben, kommt ein europäischer Kohleausstieg 2030 zu spät. Dass die US-Amerikaner oder Chinesen mit einem solchen Ausstieg anfangen, ist nicht wahrscheinlich. Das Mutterland des Kohle-Kapitalismus – Großbritannien – will deshalb spätestens 2024 sein letztes Kohlekraftwerk vom Netz nehmen, Frankreich, Portugal und die Slowakei bereits 2023. Spanien nimmt jetzt schon die Hälfte seiner Kohlekraftwerke vom Netz. Schweden, Österreich und Belgien sind bereits kohlefrei, Dänemark, die Niederlande und Finnland wollen aus der Kohleverstromung spätestens 2030 austeigen. Die Große Koalition torpediert mit ihrem Kohleausstiegsgesetz das Paris-Protokoll.
Außerdem wird die verfehlte Geschäftspolitik der deutschen Kohlekonzerne mit dem Gesetz auch noch belohnt: Nicht nur, dass sie für ihre klimaschädliche Geschäftspraxis ungeschoren davon kommen; für sie werden auch noch „Förderprogramme“ in Höhe von 40 Milliarden Euro aufgelegt – für die Umrüstung von Kraftwerken wie es heißt. Entsprechend jubilierend ist der Kommentar der Kohlelobby, des Bundesverbandes der Energie- und Wasserwirtschaft: „Im Grundsatz erfreulich sind die vorgesehenen Regelungen, mit denen entschädigungsfreie Stilllegungen von Kraftwerken vermieden werden sollen.“ Zudem erhalten die Kohleregionen in Nordrhein-Westfalen, Sachsen-Anhalt, Sachsen und Brandenburg Milliardenbeträge für den Umbau der Wirtschaft aus den Taschen der Steuerzahler. Wenn ich Mecklenburger oder Niedersachse wäre, ich würde in die Tischkante beißen.
Union und SPD machen sich mit diesem Gesetz zu den Bütteln der Kohlelobbyisten. Selbst Teile der Aktionäre von RWE wollen eher aus der Kohle raus, als die Große Koalition. Am Freitag soll das Gesetz jetzt vom Bundestag beschlossen werden – und auch Karl Lauterbach wird sicherlich zustimmen!
Lobbyismus in Deutschland – gefährlich oder doch überschätzt?
piqer:
Maximilian Rosch
Im November 2019 wurde in unserer Community der Beitrag „Die Lobby-Republik“ von MdB Marco Bülow empfohlen. Seitdem scheiterten einige Versuche, Herrn Bülow in einen piqd Salon einzuladen aus terminlichen Gründen. Jetzt ist die Lage anders und eine Teilnahme am piqd Online College lässt sich zum Glück leichter umsetzen. Am 30. Juni sprachen wir mit Marco Bülow über Lobbyismus in Deutschland.
Bülow ist seit 2002 Bundestagsabgeordneter für Dortmund. Seine politischen Schwerpunkte sind soziale Gerechtigkeit, Demokratie, Transparenz und Lobbyismus sowie Umwelt und Klima. Derzeit ist er beratendes Mitglied des Ausschusses für Umwelt, Natur und Reaktorsicherheit. Im November 2018 trat er aus der SPD aus, als Grund dafür gibt er unter anderem die erneute Bildung einer Großen Koalition an. Aus seiner Sicht ist die Politik der SPD nicht mehr sozialdemokratisch. In der Stunde mit Marco Bülow sprechen wir zu Beginn grundlegend über Lobbyismus.
- Welche Definition(en) gibt es?
- Wo verlaufen die Grenzen, auch zur Korruption?
- In welchen Formen findet Lobbyismus in der deutschen Politik und gerade im Bundestag statt?
Anschließend geht es um konkrete Fälle, etwa um die Klimaschutzlobby bzw. ihre Gegner und den Einfluss auf Entscheidungen wie den Kohleausstieg.
- Und hat Philipp Amthor nun wieder einen Stein ins Rollen gebracht, wenn es um mehr Transparenz über den Einfluss von Interessenvertretern geht?
- Kommt ein Lobbyregister und welches Potenzial steckt darin?
- Welche anderen Möglichkeiten gibt es, um die Dominanz ökonomischer Interessen auszubremsen?
- Wird eine Art Demokratiewende benötigt?
Material zur Stunde:
- Marco Bülow im Interview mit Neues Deutschland zum Fall „Amthor“
- Über Marco Bülows Austritt aus der SPD (Neues Deutschland)
- Lobbycontrol-Studie über Lobbyismus während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft ab 1. Juli 2020
- Buch „Klimaschmutzlobby“ von Susanne Götze und Annika Jörres (mojoreads), Interview mit den Autorinnen (Twitter)
- Bürgerparlament in Irland (SZ/ Blendle)
Zukünftiger Mega-Trend „Home Office“? Substanzielle Implikationen für Städteplanung erkennbar
piqer:
Ole Wintermann
Nachdem sich Mütter (und einige wenige Väter) sowie weitere Beschäftigtengruppen in den letzten Jahren immer wieder in der Situation wiederfanden, dass sie sich für ihren Wunsch nach der Möglichkeit von Home Office-Tätigkeit gegenüber ihrem Arbeitgeber rechtfertigen mussten (Kinderbetreuung, Pflege von Angehörigen, sozialer Stress, Aufwand für das Pendeln zur Arbeit in Relation zur Arbeitszeit), hat sich mit der Corona-Pandemie die Situation in weiten Teilen gewandelt.
Erstens dürfte der endgültige Beweis angetreten worden sein, dass mobiles Arbeiten nicht zum Zusammenbruch der Arbeitsmoral aufgrund fehlender Kontrolle durch die Vorgesetzten führt und dass zweitens mobiles Arbeiten in weit mehr Bereichen möglich ist als dies selbst Befürworter dieser Arbeitsform bisher gehofft hatten. Es scheint aber anekdotische Evidenz dafür vorzuliegen, dass digital weniger affine Vorgesetzte bereits Argumente sammeln, warum Anwesenheitskultur – für alle Beschäftigten – letztlich “das Beste” sei. Umso wichtiger ist es, dieser anekdotischen Evidenz tatsächlich empirische Evidenz entgegen zu stellen. Der Stanford-Forscher Nicholas Bloom stellt in diesem Interview aktuelle Forschungsergebnisse zum Corona-bedingten Home Office vor und setzt die gegenwärtigen Beobachtungen in einen größeren zeitlichen Kontext. Es geht nicht nur um den Arbeitsplatz sondern um die gesellschaftlichen und städteplanerischen Implikationen dieser Arbeitsform.
Gegenwärtig arbeiten 42% der US-Beschäftigten – in Vollzeit – von zuhause aus während nur 26% tätigkeitsbedingt auf mobiles Arbeiten verzichten müssen. Diese 42% der Beschäftigten sind für ⅔ der Wirtschaftsleistung der USA verantwortlich. Ohne diese radikale und umfassende Hinwendung zum Home Office wäre die Wirtschaft zu Beginn der Corona-Krise von heute auf morgen zusammengebrochen oder hätten sich weiteste Teile der Bevölkerung mit dem Virus angesteckt – was ebenfalls zum Zusammenbruch der Wirtschaft geführt hätte. Da etliche Firmen die Vorteile des Home Office endlich auch für sich entdeckt haben, erwartet Bloom nach einer aktuellen Umfrage eine Vervierfachung der Working-from-Home-Tage in den USA nach dem Ende der Pandemie. Die Standard-Variante wird die Regelung sein, zwischen 1 und 3 Tagen von zuhause aus zu arbeiten.
Gegenwärtige Probleme beim Home Office sind eine schlechte Internetverbindung (35%) oder die Notwendigkeit, die Arbeit von geteilten Räumen aus zu erledigen (etwas über 50%). Die aktuelle, aber auch die perspektivische Ausweitung von Home office ist zwar sinnvoll für die Gesamtwirtschaftsleitung. Sie führt aber, wenn es keine Gegenmaßnahmen gibt, zu einer stärkeren Ungleichheit. Schon jetzt können gut ausgebildete Bezieher höherer Einkommen, die sowieso öfter von zuhause aus arbeiten können, ihre digitalen Kompetenzen im Vergleich zu Beziehern geringerer Einkommen ausbauen. Weitere negative Auswirkungen erwartet Bloom perspektivisch für die Gastronomie und sonstige Dienstleistungsinfrastruktur, die sich um die Bürotürme der Innenstädte herum gebildet hat. Dass mobiles Arbeiten zu einer wachsenden Bedeutung ländlicher Regionen führen wird (eine Entwicklung, die auch in Deutschland seit 2 Jahren klar erkennbar ist), bestätigt Bloom, indem er feststellt:
„The upside is this will be a boom for suburbs and rural areas. (…) If I were a company right now planning the future of my office, I would be looking to the suburbs.“
Er sieht die Konzentration von Arbeitsplätzen in teuren Bürotürmen in der Mitte teurer Städte als überholt an. Damit einhergehend werden die Logiken des massenhaften täglichen Pendelns in diese Innenstädte keine Zukunft haben. Diese Konzepte machen schlicht keinen Sinn mehr. Bloom geht am Ende sogar so weit, dass er “social distancing” für einen Mega-Trend hält, da Firmen in Zukunft jederzeit wieder mit einer vergleichbaren Pandemie und den Kosten von Büroschließungen rechnen müssen.
Was sich in der Landwirtschaft zeigt, sind keine Missstände, sondern das System
piqer:
Achim Engelberg
In der Europäischen Union herrscht eine grundlegend ungleiche Arbeitsteilung, die hunderttausende Osteuropäer zumindest saisonweise aus ihrer Heimat vertreibt und in den zentralen Ländern schuften lässt – für die Fleischindustrie findet man einiges in einem Vorgänger-piq. Nun Vergleichbares für die Landwirtschaft.
Da Supermarktketten wie Lidl überall in der EU zu finden sind, landen oft Produkte von Migranten sogar wieder in deren Herkunftsländern wie Rumänien und lokale Produzierende werden verdrängt, zuweilen zu Entlassungen und Kürzungen gezwungen, ja einige werden selbst vertrieben.
Noch mehr Arbeitslose von den Rändern Europas gehen in die Zentren.
So entsteht eine Abwärtsspirale, die Wut entfacht und die sich oft an Migranten entlädt.
Das Herzstück Europas ist eine hochprofitable Industrie, die darin spezialisiert ist, billige Arbeitskräfte aus dem Osten in verschiedene Staaten des Zentrums zu importieren. Das ist nichts Neues, aber es wird selten als grundlegende Eigenschaft des europäischen Projektes diskutiert. Professionalisierte Rekrutierungsagenturen und die Institutionalisierung auf EU-Ebene haben dieser Industrie in den letzten Jahrzehnten einen Schein der Legitimität verliehen, der jetzt erschüttert wird durch die schlechte Optik armer Migrantinnen und Migranten, die gezwungen werden, während einer Pandemie auf deutschen Höfen zu arbeiten.
Der Tod eines rumänischen Erntehelfers, der es aufgrund seiner Corona-Infektion in die Hauptnachrichten schaffte, setzte ein Schlaglicht.
Vergleichbares berichtete Matthias Greffrath schon in Zeiten bevor der Virus sich verbreitete in „Rumänien auf der Kippe“.
Darin beleuchtete er beispielhaft die neuen Landnahmen:
Äcker wurden schon vor der Marktöffnung über Strohmänner von zumeist westlichen Investoren aufgekauft oder gepachtet. Seit 2014 dann im großen Stil: Ungefähr die Hälfte des nutzbaren Bodens ist inzwischen in den Händen von zumeist ausländischen Investoren – Agrarmultis aus Westeuropa und dem Nahen Osten oder Banken und Pensionsfonds. „Wachstum, soweit das Auge reicht“, so steht es etwa unter den blühenden Landschaften auf dem Prospekt der Firma Agrarius aus Bad Homburg. Wachstum heißt in solchen Prospekten: „Ackerland hat eine deutliche bessere Performance als die Financial Times Stock Exchange Hundred“; heißt: „die weltweite Nachfrage nach Nahrung lässt weiterhin steigende Preise erwarten“, heißt: „in Rumänien gibt es Chancen, die im westlichen Teil Europas weitgehend ausgeschöpft sind“, heißt: „die EU-Subventionen sind eine solide Basis für nachhaltige finanzielle Erträge.“
Das ist aber keine Besonderheit von Rumänien oder der EU.
Im Hauptartikel gibt es Streiflichter auf andere Weltgegenden. Hunderttausende Lateinamerikaner malochen auf Feldern der USA.
Viele davon sind ohne Einreisepapiere über die Grenze gekommen, wie viele, die in Griechenland oder Spanien wie Sklaven gehalten werden und die aus Nordafrika und Südasien stammen.
Überall auf der Welt – insbesondere in der Landwirtschaft – werden körperlich Arbeitende ausgebeutet und misshandelt.
Es ist auch nichts Neues, keine neuzeitliche ökonomische Barbarei, sondern man kann es schon im Roman Früchte des Zorns lesen. Dieser Klassiker war keine Prophetie, sondern er beruhte auf langen Recherchen in Migrantenlagern in Kalifornien und inspirierte soziologische Studien.
Zuerst erschien er 1939, kein Geringerer als John Ford verfilmte ihn, und der Autor John Steinbeck erhielt 1962 den Nobelpreis für Literatur.
Kurzum: Wer mit Lebensmitteln große Profite erzielen will, muss Arbeitsmigranten ausbeuten.
Etliche Vorschläge für Reformen unterbreiten Florin Poenaru und Costi Rogozanu, die beiden Autoren des Hauptartikels, vom Grundeinkommen über Arbeitsschutz bis zur Senkung der Profitmargen.
Ihr Fazit:
Die Pandemie hat den Sozialdarwinismus der EU offengelegt. Wenn die Linke dies nicht kritisiert und dagegen vorgeht, dann wird die reaktionäre Alternative der Orbáns und Le Pens die einzige im Angebot sein.
Corona verändert unser Einkaufsverhalten – kann sich der deutsche Einzelhandel darauf einstellen?
piqer:
Ole Wintermann
Corona könnte zu einer deutlichen Steigerung der Bemühungen der Handelsunternehmen führen, Prozesse zu automatisieren und diese vom Menschen auf Robotersysteme zu übertragen. So wird beispielsweise die Handelskette Woolworth in Australien verschiedene Verteilerzentren schließen, um deren Leistung durch ein neues, stark automatisiertes, Zentrum zu ersetzen. Begründet wird dies euphemistisch mit der gesundheitlichen “Sicherheit” der dort Arbeitenden, die sich infolge der Automatisierung nicht mehr “so nahe kommen” würden.
„Cutting-edge automation will build tailored pallets for specific aisles in individual stores—helping us improve on-shelf product availability with faster restocking, reducing congestion in stores, and enabling a safer work environment for our teams with less manual handling.“
Der durch Corona verstärkte Trend zum Online-Shopping ist mitnichten ein deutsches Phänomen, sondern ist auch in den englischsprachigen Ländern zu beobachten. Dieser Trend hat dazu geführt, dass traditionelle Offline-Ketten wie Woolworth ihre Online-Shops teilweise wegen Überlastung schließen mussten. Die Automatisierung ist nun einer der dadurch ausgelösten Versuche, sich besser auf den Trend einzustellen. Es ist spannend zu beobachten, wie traditionelle Ladenketten beginnen, auf die Expertise und Infrastruktur von Online-Plattformen zurückzugreifen, um diesem veränderten Kaufverhalten begegnen zu können.
Ein weiterer Bestandteil dieser neuen Infrastruktur sind sogenannte “Dark Stores”, die häufig in den Vorstädten angesiedelt sind und allein dem Zweck dienen, die online bestellte Ware kurzfristig abholen zu können und nicht zu lange auf die Bestellung warten zu müssen. Bereits jetzt haben weitere australische Handelsunternehmen angekündigt, die Verkaufsfläche der traditionellen Läden weiter signifikant zu reduzieren, da deren Geschäftsmodell in der Breite nicht mehr zukunftsfähig ist. Eine Chance für bestehende Shopping Malls wird darin gesehen, das Einkaufen um soziale oder unterhaltende Faktoren zu ergänzen oder aber Waren oder Dienstleistungen anzubieten, die nur lokal produziert werden können.
Kann sich der deutsche Einzelhandel darauf einstellen?
Was bedeutet „Defund the Police“? Und warum sollten wir in Deutschland auch darüber sprechen?
piqer:
Mohamed Amjahid
Ja, es geht hier wieder mal um die Polizei.
Seit der brutalen Ermordung von George Floyd in Minneapolis durch weiße Polizisten reißt die Debatte über die Gefahr, die von eben diesen bewaffneten Beamt*innen für einen bestimmten Teil der Bevölkerung ausgeht, nicht ab – auch nicht in Deutschland. Polizeigewalt ist real und sie ist überhaupt möglich, weil staatliche Strukturen die Ressourcen und den politischen Nährboden für die institutionalisierte Willkür bieten. In den USA, wo ja die Situation sehr speziell ist, wird nun heftig diskutiert, wie die Betroffenen und die politischen Entscheidungsträger*innen das Problem in den Griff bekommen könnten. Ein Vorschlag lautet: Defund the Police.
Um es hier direkt und kurz zu machen: Defund the Police möchte die Polizei von Grund auf neu denken. Wen sollte die Polizei ursprünglich vor wem schützen? Für was ist sie überhaupt gedacht? Und welche Aufgaben sollte sie explizit nicht übernehmen? Wenn man sich diese grundlegenden Fragen stellt, kommt man automatisch auf die gemeinschaftliche Finanzierung der Polizeibehörden und die Möglichkeit, die entsprechenden Ressourcen umzuverteilen. Konkretes Beispiel: Sollte die Polizei wirklich als erster Ansprechpartner gelten, wenn psychisch erkrankte Menschen Hilfe brauchen? Dieses Vox-Video diskutiert genau diese Fragen und unterbreitet statistisch fundierte Antworten darauf.
Das ist alles ein US-Problem und hat mit Deutschland nichts zu tun? So einfach ist es nicht. Vor wenigen Tagen wurde beispielsweise der 54-jährige Mohammed El Idrissi in Bremen von Polizist*innen erschossen. Die Polizei wurde zum späteren Tatort mit Verweis auf Idrissis psychischer Erkrankung gerufen. Anstatt des psychologischen Dienstes, erschienen also bewaffnete Beamt*innen: Eine Deeskalation war nicht mehr möglich, ein Polizist erschoss den Marokkaner. Der Fall muss von unabhängiger Stelle untersucht und aufgearbeitet werden, zeigt aber, was auch in Deutschland eine Neuausrichtung der Sicherheitspolizei für Vorteile bringen könnte.
In Deutschland ist die kritische Debatte trotz dieser Vorkommnisse rund um die Rolle der Polizei innerhalb der Gesellschaft allerdings noch zaghaft. Viele politische Stimmen wehren sich eher dagegen. Währenddessen macht die Gewerkschaft der Polizei ihren Job und stellt sich unkritisch und entschlossen vor ihre Gewerkschaftsmitglieder. Dabei sind die Polizeigewerkschaften auch Teil eines größeren, strukturellen Problems, das Polizeiwillkür und deren Vertuschung erst möglich macht.
Unterstrichen wird die allgemeine Debatte um „Defund the Police“ oder gar „Abolish the Police“ (Polizei ganz abschaffen) von einem anderen Phänomen: die zunehmende Militarisierung der Polizei, die auf eine beunruhigende Art und Weise seit Jahrzehnten in den USA voranschreitet und auch in europäischen Ländern wie Großbritannien und Frankreich zu beobachten ist. Wie gut, dass Vox auch dazu ein gutes Erklärvideo für die Lage in den USA veröffentlicht hat. Es ist erschreckend, sich in wenigen Minuten die Geschichte der zunehmenden Bewaffnung der Polizei vor Augen zu führen. Wer etwas mehr Zeit hat und tiefer in das Thema einsteigen möchte, schaue sich doch bitte diese Dokumentation bei Arte an. Dort wird die zunehmende Militarisierung der Polizei und die damit zusammenhängende Eskalation der Gewalt in Frankreich und Deutschland gut zusammengefasst.