Fremde Federn

Deglobalisierung, rechte Charmeoffensive, KI-Klimaschutz

Diese Woche unter anderem in den Fremden Federn: Putins Kampf gegen die Energiewende, wie der Sonderstatus Nordirlands britische Fantasien zähmt und warum die Weltordnung, wie wir sie kennen, zu Ende geht.

Foto: Jojo Bombardo via Flickr (CC BY-ND 2.0)

In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.

Deglobalisierung – das Ende der Weltordnung, wie wir sie kennen

piqer:
Thomas Wahl

Der Economist bangt in mehreren Artikeln zu Recht um die globalisierte Weltordnung. Auch wenn auf den ersten Blick die Weltwirtschaft beruhigend stabil scheint.

Bei genauerem Hinsehen zeigt sich jedoch die Fragilität. Seit Jahren ist die Ordnung, die die Weltwirtschaft seit dem Zweiten Weltkrieg bestimmt hat, untergraben worden. Heute steht sie kurz vor dem Zusammenbruch. Eine besorgniserregende Anzahl von Auslösern könnte einen Abstieg in die Anarchie auslösen, in der die Macht das Recht hat und Krieg wieder das Mittel der Großmächte ist. Selbst wenn es nie zu einem Konflikt kommt, könnten die Auswirkungen eines Zusammenbruchs der Normen auf die Wirtschaft schnell und brutal sein.

Gerade die USA, die über Jahrzehnte als Vorreiter einer liberalen Weltwirtschaftsordnung auftraten, neigen jetzt in Zeiten wachsender geopolitischer Spannungen zu mehr Protektionismus. Es ist nicht neu, das Großmächte ihre Außenhandelspolitik in umfassendere globale Strategien einbetten. Zwischen der Strukturierung der internationalen politischen und der wirtschaftlichen Ordnung besteht i.d.R. immer eine strategische Wechselwirkung.

Die Amerikaner verstanden die liberale Welthandelsordnung der Nachkriegszeit als ein Instrument, um den Westen im Systemwettbewerb mit dem real existierenden Sozialismus zu kräftigen. Heute verbindet sich mit der chinesischen „Neuen Seidenstraße“ nicht alleine der Wunsch nach wirtschaftlichem Austausch, sondern auch die Absicht, politischen Einfluss vorwiegend unter ärmeren Ländern zu gewinnen.

Das ist als Interessenpolitik auch nachvollziehbar und legitim. Was aber seit einiger Zeit in dem globalen Gefüge, in den Organisationen der Weltwirtschaft geschieht, hat eine andere, besorgniserregende Qualität. Seit Jahren blockieren die Amerikaner die Welthandelsorganisation (WTO). Der IWF stagniert zwischen einer grünen Agenda und der Sicherung der finanziellen Stabilität ärmerer Länder. Der UN-Sicherheitsrat ist gelähmt von den widerstreitenden Interessen seiner ständigen Mitglieder. Und zunehmend versuchen Konfliktparteien internationale Gerichtshöfe als Waffe zu instrumentalisieren.

Auch die wirtschaftlichen Globaldaten, die der Economist zitiert, sind deutlich. In den letzten Jahren nehmen der grenzüberschreitende Handel und die Investitionen nicht mehr zu. Gründe sind sich ausbreitende wirtschaftliche Strafmaßnahmen verschiedener Art, zunehmende nationale Industriepolitiken und eben der Verfall der globalen Institutionen. Einige Länder enteignen auch große Vermögenswerte.

Ein Index, der Hinweise auf wirtschaftliche Unsicherheit in prominenten Publikationen erfasst, ist doppelt so hoch wie im Durchschnitt der Jahre 1997 bis 2015.Nicht nur der Welthandel mit Waren stagniert, sondern auch der Handel mit Dienstleistungen leidet unter demselben Problem.Auch der Anteil der grenzüberschreitenden Investitionen am Welt-BIP ist rückläufig. Sowohl die langfristigen (Direkt-) als auch die kurzfristigen (Portfolio-) Ströme liegen weit unter ihren Höchstständen. Die Unternehmen ziehen sich zurück, um vor allem geopolitische Spannungen zu vermeiden. Der Anteil der amerikanischen Unternehmensgewinne, die aus dem Ausland kommen, sinkt rapide. Westliche Anwaltskanzleien und Banken ziehen sich aus China zurück. Nach Russlands Einmarsch in der Ukraine im Jahr 2022 zog sich McDonald’s aus dem russischen Markt zurück. Ein neues Restaurant in russischem Besitz, „Delicious, full stop“, hat viele Filialen der amerikanischen Kette übernommen.

Der Rückzug ins Nationale, in den (Wieder)Aufbau eher nationaler oder regionaler Wertschöpfungsketten könnte teuer werden. Die Produktion im kleineren Maßstab für nicht-globale Märkte ist weniger effektiv. Das heißt, sie wird wohl den Wohlstand reduzieren und das weltweit. Wenn dieser Rückzug – angesichts der demographischen Probleme – nicht sogar weitgehend fehlschlägt.

Die Verluste der Deglobalisierung könnten tiefgreifender werden, als viele von uns sich das vorstellen. Ich will hier nicht das Gespenst an die Wand malen, wie der Erste Weltkrieg die „Erste Globalisierung“ im frühen 20. Jh. beendete. Was dann zu der fürchterlichen Weltwirtschaftskrise führte. Aber die Stimmen, die immer wieder die ungebremste Globalisierung als eigentliche Ursache für Ungleichheit, die weltweite Finanzkrise und die Vernachlässigung des Klimas kritisieren, sind m.E. gefährlich. Sie ignorieren die Tatsache, dass

die Errungenschaften der 1990er und 2000er Jahre – der Höhepunkt des liberalen Kapitalismus – … in der Geschichte unerreicht (sind). Hunderte von Millionen Menschen entkamen in China der Armut, als das Land in die Weltwirtschaft integriert wurde. Die Kindersterblichkeitsrate ist weltweit auf weniger als die Hälfte des Wertes von 1990 gesunken. Der prozentuale Anteil der durch staatliche Konflikte getöteten Menschen an der Weltbevölkerung erreichte 2005 einen Nachkriegstiefstand von 0,0002 %; 1972 war er noch fast 40 Mal so hoch. Jüngste Untersuchungen zeigen, dass die Ära des „Washingtoner Konsenses“, den die heutigen Staats- und Regierungschefs zu ersetzen hoffen, eine Zeit war, in der die armen Länder begannen, einen Wachstumsrückstand aufzuholen und die Lücke zu den reichen Ländern zu schließen.

Der Verfall des globalisierten Systems der Wirtschaften droht diesen Fortschritt zu verlangsamen oder sogar rückgängig zu machen. Die Spannungen zwischen dem Westen auf der einen und China, Rußland sowie weiterer Teile des globalen Südens auf der anderen Seite lassen einen Wirtschaftskrieg (oder gar einen Weltkrieg?) wahrscheinlicher werden. Damit sinken die Chancen auf eine sinnvolle Reform der globalen Institutionen. Es wird zunehmend bestritten, dass der Wandel durch Annäherung auch positiv funktioniert hat. Allerdings ein Wandel durch Auseinandergehen in Konfrontation, der muss wohl schief gehen …

Charmeoffensive der rechtsextremen Partei RN für die Wirtschaft

piqer:
Tanja Kuchenbecker

Wie sollte man mit einer Partei umgehen, die die stärkste Opposition im Land ist? Umfragen zu den Europawahlen zeigen die rechtsextreme Partei Rassemblement National (RN) sogar als stärkste Fraktion mit über 30 Prozent, weit vor der Partei des Präsidenten Emmanuel Macron. Es wird immer schwieriger, sie zu ignorieren. Frankreichs Unternehmer lassen sich zunehmend von den Rechtspopulisten umgarnen. Fraktionschefin Marine Le Pen und Parteichef Jordan Bardella haben eine Charmeoffensive für die Wirtschaft gestartet und ändern ihre Haltung gegenüber den großen Unternehmen. Sie bemühen sich, Vertrauen zu schaffen. Das Beispiel Frankreich zeigt, dass die  Abgrenzung immer komplizierter wird. Nicht nur in Frankreich, sondern zunehmend in Europa.

Text:

Gegenüber dem RN herrscht großes Schweigen der französischen Arbeitgeber

Während die Umfragen bei den Europäern einen RN von über 30 Prozent vermelden, haben Marine Le Pen und Jordan Bardella seit diesem Herbst eine Charmeoffensive in Wirtschaftskreisen gestartet.

„Wissen Sie, in der Umgebung von Marine Le Pen gibt es sehr gute Leute.“ Die Bemerkung eines großen internationalen Investors während eines harmlosen Gesprächs überraschte diesen Chef. Verblüfft antwortete er nicht. Seitdem haben die beiden Männer nie wieder darüber gesprochen. Innerhalb der Arbeitgeber spaltet und irritiert der RN, der 2017 eine einhellige Ablehnung hervorrief. Können wir eine Partei, der in den Umfragen mehr als 30% der Stimmen und 88 Abgeordnete zugeschrieben werden, noch von anderen politischen Kräften unterscheiden? Die Frage geht in herrschenden Kreisen immer wieder um.

Fernab dieser Stimmungen organisieren sich die Betroffenen. Seit Herbst betreiben sie eine Charmeoffensive in Wirtschaftskreisen. Abgeordnete sehen die Chefs ihres Wahlkreises. Marine Le Pen und Jordan Bardella sind die nationalen Headliner. Zumindest diejenigen, die sich auf das Spiel einlassen, werden über gemeinsame Bekannte zu Abendessen in die Stadt eingeladen. Der Abgeordnete Sébastien Chenu, mit dem Michel-Édouard Leclerc lächelnd posierte, oder der neue Rekrut der Partei, der frühere Chef von Frontex, Fabrice Leggeri, spielen, wie Medienliebling und Wissenschaftler Laurent Alexandre, die Vermittler.

Berater im Hintergrund

Im Verborgenen aktiv ist auch ein diskretes Netzwerk hochrangiger Beamter und Führungskräfte des privaten Sektors, die Horaces, das von einem ehemaligen RPR-Apparatschik, André Rougé, koordiniert wird. Neu: Seit 2022 hat sich auch eine Gruppe der Technokraten um die 30 bis 40 gebildet. Sie wächst ständig, versammelt Anwälte, Mitglieder des Verteidigungsministeriums, des Finanzministeriums in Bercy und Investmentbanker … Diese hochqualifizierten und hochrangigen Personen überschütten ihre Chefs mit Notizen und versuchen, ihre hoch positionierten Bekannten zu überzeugen. Mit gemischtem Erfolg, zumindest vorerst.

„Marine Le Pen und Jordan Bardella treffen sich regelmäßig mit Chefs, auch vom CAC 40 (Anmerkung: der französische Börsenindex, vergleichbar mit dem DAX)“, versichert Renaud Labaye, Generalsekretär der RN-Gruppe in der Nationalversammlung. „Das Ziel besteht nicht so sehr darin, auf ihre Forderungen zu hören, sondern ihnen zu erklären, wie die Spielregeln bei uns aussehen werden. Anfangs sind sie selten sympathisch, bestenfalls neugierig, schlimmstenfalls pragmatisch. Das Feedback war dann gut.“ Auf der CAC-40-Seite gibt niemand zu, mit Marine Le Pen oder Jordan Bardella zu speisen, „aber es gibt eine ganze kleine Gruppe, die ständig wiederholt, dass einige Leute sich damit auseinandersetzen, damit sie (Anmerkung: die Politiker von RN), wenn sie an die Macht kommen, keine Dummheiten machen“, ärgert sich ein Chef, ein glühender Befürworter der Aufrechterhaltung einer harten Linie gegen rechts.

Wenig politisierte Chefs

Schematisch lassen sich über diejenigen hinaus, die zögern, drei Empfindlichkeiten bei Konzernvorständen beobachten. Eine erste Gruppe, die nicht sehr politisiert ist, glaubt, auch wenn sie den Ideen des RN nicht folgt, dass es wichtig ist, sich mit dem RN auseinanderzusetzen, um im Falle einer Wahl die Fehler von 1981 (Anmerkung: Wahl des sozialistischen Präsidenten François Mitterrand) so weit wie möglich einzuschränken. Etwa ein Viertel des CAC 40 würde laut einem Experten auf dieser Linie liegen. Die anderen weigern sich, mit der Partei zu interagieren, einige weil sie die Inkompetenz ihrer Führer für unverbesserlich halten, andere aus Prinzip. Hinter ihrer neuen, polierten Fassade bleibt der RN für sie eine rechtsextreme Partei. Der Antiamerikanismus der Bewegung spielt für die meisten internationalen Gruppen immer noch eine Rolle. Was auch immer ihre Meinung ist, in einem Punkt sind sich die Unternehmer alle einig. Niemand möchte sich offiziell zu diesem Thema äußern, bei dem man nur Kritik ernten kann.

Die Grenzen könnten sich verschieben, wenn die Frist für die Präsidentschaftswahl näher rückt. „Ich bin davon überzeugt, dass die Gewerkschaften als starke Akteure fungieren werden“, sagt Alain Minc, Berater zahlreicher Konzerne. „Wenn Le Pen in den Umfragen sehr weit oben liegt, werden sie die Firmenchefs auffordern, Stellung zu beziehen. Und ich denke, dass die sozial eingestellten Vorstände, die ihren Gewerkschaften nahe stehen, das tun werden.“ Bestimmte Minderheiten werden auch in die andere Richtung entscheiden. „Im Jahr 2022 hatten zwei Chefs von Finanzkonzernen ihre Bereitschaft zum Ausdruck gebracht, sich für ihr Land einzusetzen und die Leitung eines Ministeriums zu übernehmen“, versichert Hervé Juvin, Mitglied des Europäischen Parlaments bei RN.

Im Jahr 2022 empfing Afep (Anmerkung: Verband der privaten Großunternehmer) Marine Le Pen nicht

Bei Berufsverbänden sind die Beziehungen einfacher, weil sie institutionell sind. „Unsere Verbindungen zu CPME, Medef und Afep sind sehr unterschiedlich. Die lokalen CPME-Verbände (Anmerkung: Verband der kleinen Unternehmen und der Mittelstandsunternehmen) haben uns immer sehr gut aufgenommen, wenn Afep uns ignorierte“, bemerkt Jean-Philippe Tanguy. Der RN-Abgeordnete aus dem Département Somme, zuständig für Energie- und Industriefragen, ist sehr aktiv im Finanzausschuss der Nationalversammlung und organisierte im vergangenen Herbst das erste Treffen zwischen Marine Le Pen und Henri Proglio, dem ehemaligen Chef des Energieversorgers EDF, im Haus eines gemeinsamen Freundes.

Bei den letzten Präsidentschaftswahlen hat der Verband CPME wie der Verband Medef neben anderen Kandidaten auch Marine Le Pen angehört. „Jordan Bardella kam diesen Herbst zu unserer Impact PME-Show“, sagt François Asselin, Präsident des CPME. „Aber ehrlich gesagt hatte er uns zu wirtschaftlichen oder sozialen Themen nicht viel zu sagen. Wir können deutlich erkennen, dass er nach seiner Linie tastet und sucht.“ Im Rahmen der Europawahlen war Jordan Bardella eingeladen, mit Mitgliedern von CroissancePlus (Anmerkung: ein Unternehmerverband), France Invest (Anmerkung: ein Investorenverband) und METI (Anmerkung: ein Unternehmerverband) zu sprechen. Afep, ein Verband der hundert größten Unternehmen, hat jedoch bisher noch nie Marine Le Pen oder ihren Nachfolger empfangen. Die Verantwortlichen werden entscheiden müssen, ob sie an dieser Linie festhalten oder ob sie die Partei normalisieren. Die Diskussion verspricht schwierig zu werden.

Die Vorstellungen zum Wirtschaftsprogramm

Im Zentrum der Kritik der Arbeitgeber stehen die von der Partei geplanten Wirtschaftsreformen, auch wenn sie nun einen Austritt aus dem Euro ausschließen, was das rote Tuch des Jahres 2017 war. „Hat sich das Wirtschafts- und Sozialprogramm der RN, das wir bei den letzten Präsidentschaftswahlen scharf kritisiert haben, weiterentwickelt? Meines Wissens haben ihre Vorsitzenden ihre Ansichten im Bezug auf das Rentenalter, die Arbeitskosten und Europa nicht zurückgenommen“, erklärte Patrick Martin, der Präsident von Medef, kürzlich gegenüber dem „Figaro Magazine“. Liberalere Aussagen von Jordan Bardella könnten in jüngster Zeit den Eindruck einer Verschiebung der Parteilinie erweckt haben. „Jean-Marie Le Pen befürwortete einen Liberalismus, der sich stark auf kleine und Mittelstandsunternehmen konzentrierte, Marine nahm dann eine nationalere Wendung. Es gibt nun wieder eine liberale Idee. In landwirtschaftlichen Fragen orientiert sich der RN beispielsweise viel stärker als bisher an den Positionen der FNSEA (Anmerkung: Landwirtschaftsverband) “, analysiert Hervé Juvin.

Die Parteichefs versichern uns jedoch: Nach wie vor hat das Programm 2022 Vorrang. Um allen Klarheit zu verschaffen, werden Programme zur Wirtschaft ausgearbeitet und sollen im April veröffentlicht werden. Vier Themen wurden beibehalten: die produktive Wirtschaft, die Verwurzelung der Aktivität auf nationaler Ebene, der Wert der Arbeit und die Rolle des Staates. Die Programme dürften, mit einigen geringfügigen Änderungen, insbesondere hinsichtlich der Rolle der Europäischen Zentralbank, die Ideen von 2022 ausführen: Befreiung von der Einkommensteuer für Personen unter 30 Jahren, Rückkehr einer Vermögenssteuer, Ruhestand mit 60 Jahren nach 40 Versicherungsjahren, nur für Franzosen, die vor ihrem 20. Lebensjahr ins Berufsleben eingetreten sind, zudem ist ein großes Staatsdarlehen geplant… Ein Programm, das nach Angaben des Montaigne-Instituts die öffentlichen Finanzen mehr als 100 Milliarden Euro kosten würde.

Marine Le Pen bestreitet diese Zahl. In einer aktuellen Kolumne in Les Échos schätzte sie, dass sie die Finanzierung ihrer Reformen dank ihrer Politik der Einwanderungskontrolle (16 Milliarden Euro) und der Betrugsbekämpfung (15 Milliarden Euro) durchführen könne. Diese Hypothesen erscheinen nicht ernst zu nehmend zu sein, insbesondere angesichts der historischen Schwierigkeiten des Staates, trotz zahlloser Pläne, Milliardenbeträge aus Steuer- und Sozialversicherungsbetrug zurückzufordern.

Macron ist nicht länger der Held der SIÈCLE DINER (Anmerkung: “Jahrhundertessen”)

Gewählte RN-Funktionäre wissen das gut: Zwischen Marine Le Pen und einem gemäßigten Kandidaten werden Wirtschaftskreise in großer Zahl für den zweiten stimmen. Sie hoffen lediglich, harsche Kritik zu vermeiden. Der Kurs von Emmanuel Macron macht sich vorerst bemerkbar. Trotz seiner wirtschaftsfreundlichen Politik verärgert der Staatschef die Unternehmenschefs. Sie kritisieren ihn für seine alleinige Machtausübung und die tiefen Spaltungen im Land. Während der letzten Siècle-Dinner, die die Pariser Elite vereinigen, die erste Säule des Macronismus im Jahr 2017, hagelte es offen Kritik am Staatsoberhaupt.

Die Erfahrung aus Italien zerstreut die Zweifel, da Giorgia Meloni bisher wirtschaftliche Fallstricke vermieden und darauf geachtet hat, in die Fußstapfen von Mario Draghi zu treten. „Der Vergleich ist nicht gut“, sagt Renaud Labaye. „Italien ist viel stärker von der Europäischen Union und der NATO abhängig als Frankreich. Und das hat geopolitische Implikationen.“ Zwischen dem Chaos der britischen Politik seit dem Brexit und der Trump-Erfahrung 2016 haben vor allem Wirtschaftskreise gelernt, politische Risiken mit Distanz zu beobachten. „Von London aus gesehen ist das größte Risiko in Frankreich die Staatsverschuldung, nicht die RN“, sagt Jean-Baptiste Wautier, Investor und ehemaliger Chef des Fonds BC Partners. Allerdings könnten die beiden Risiken kombiniert werden. „Eine Wahl für Marine Le Pen wird für die Machtkreise sehr ähnlich sein wie 1981. Aber angesichts der hohen Verschuldung des Landes werden die Finanzmärkte noch viel alarmierter sein“, warnt Alain Minc.

Im Jahr 2017, als die Umfragen eine Woche lang die Hypothese einer zweiten Runde zwischen Marine Le Pen und Jean-Luc Mélenchon bestätigten, war es für Frankreich teurer geworden, sich an den Märkten Geld zu leihen. Wird die Charme-Kampagne der RN-Teams ausreichen, um die Investoren zu beruhigen? „Die Marke Le Pen bleibt im Ausland toxisch“, sagt Julien Vaulpré, Gründer der Strategieberatung Taddeo. Die Wochenzeitung „The Economist“ zum Beispiel glaubt keineswegs, dass es sich hierbei nur um eine neue Variante einer etwas autoritären populistischen Partei handelt. Und dieses Magazin ist in der internationalen Elite weiterhin sehr einflussreich.“ Obwohl die französischen Schulden hauptsächlich von großen internationalen Institutionen gehalten werden, wird dies belastend sein.

Putins Kampf gegen die Energiewende

piqer:
Jürgen Klute

Seit Beginn der kriegsbedingten Sanktionen gegen Russland wird über deren Wirksamkeit gestritten. Nun scheinen die Sanktionen dem russischen Energieunternehmen Gazprom doch so sehr zuzusetzen, dass das Unternehmen Notverkäufe vornehmen muss.

Dieser von Bona Hyun mit Rückgriff auf Recherchen von Reuters verfasste FR-Artikel beschreibt zum einen, wie sehr das Unternehmen Gazprom derzeit ökonomisch unter Druck steht. Die Gaslieferungen in den EU-Binnenmarkt – dem bisher wichtigsten Absatzmarkt für Gazprom – ist auf etwa ein Sechstel der Exportmenge vor dem russischen Überfall eingebrochen. Der Export von fossilier Energie ist allerdings die Basis der auf Extraktivismus bauenden russischen Ökonomie.

Darüber hinaus verweist Hyun in seinem Artikel darauf, dass Putin vor dem russischen Überfall auf die Ukraine versucht hat, die Abhängigkeit der EU von russischen Gaslieferungen zu steigern und zu verfestigen. In dem Artikel heißt es:

„Es sei ´Teil seiner Kriegsstrategie´ gewesen, Europa noch vor dem Ukraine-Krieg den Gashahn zuzudrehen. Putin habe beabsichtigt, ´Europa mit einem Energiekrieg zur Unterwerfung zu zwingen, um zu verhindern, dass es sich mit der Ukraine solidarisch zeigt´, so O´Donnell. ´Zu seiner Überraschung ist dies nicht geschehen.´“

Diese Einschätzung wird gestützt durch dem Beitrag „Lässt Putin den EU-Gasmarkt gezielt austrocknen?“ der „Deutschen Welle“ vom 14.10.2021. Dort heißt es:

„Besteht also eine wesentliche Ursache für den jetzigen Gasmangel darin, dass Gazprom den europäischen Börsenhandel regelrecht boykottiert, dass der Kreml die Gunst der Stunde nutzt und den Spotmarkt in der EU gezielt austrocknen lässt, um dadurch zu diskreditieren? Ist das Moskaus Kalkül?

Wer Putin bei der Auftaktveranstaltung der Energiewoche aufmerksam zugehört hat, dem war klar, dass die Meldungen, Russland wolle jetzt seine Gaslieferungen nach Europa erhöhen, vorschnell abgesetzt wurden. Der Kremlchef sprach nicht vom europäischen (Spot)markt, er meinte ausdrücklich „unsere Partner“. Soll heißen: Auf zusätzliches Gas können nur die Unterzeichner von Langfristverträgen hoffen. Das ist schon kein Werbefeldzug mehr, das sieht eher nach Druck aus.

Einen ersten Achtungserfolg kann Gazprom bereit präsentieren: Gerade eben hat Ungarn mit dem russischen Staatskonzern einen 15-Jahresvertrag unterschrieben. Wenn weitere und größere EU-Länder zu langfristigen Lieferverträgen mit dem russischen Staatskonzern zurückkehren, würde das Russland dominierende Stellung auf dem europäischen Wärme- und Strommarkt für Jahre zementieren und Europa für mögliche Konkurrenten aus der Flüssiggas-Industrie noch weniger attraktiv machen.

Gleichzeitig würden solche Langfristverträge den Green Deal, die ambitionierten Dekarbonisierungspläne und Klimabemühungen der EU, konterkarieren. Denn die EU-Länder müssten bis Mitte oder gar Ende der 2030er Jahre große Mengen des fossilen Energieträgers Gas importieren, auch wenn die Erneuerbaren Energien bereits in diesem Jahrzehnt den erwarteten und angestrebten Entwicklungsschub bekommen sollten. Aber offensichtlich will Moskau genau das auch erreichen.“

Das deutet darauf hin, dass der russische Krieg gegen die Ukraine nicht alleine von großrussischen Träumen bestimmt war und ist, sondern auch von handfesten ökonomischen Interessen, nämlich der Verhinderung eines allzu schnellen Ausstiegs aus der fossilen Energienutzung im Rahmen der EU-Energiewende (selbst wenn viele die EU-Energiewende aus klimapolitischer Sicht für völlig unzureichend halten, was sicher stimmt). Wer den russischen Krieg gegen die Ukraine verstehen will, sollte die ökonomischen Interessen Russlands und die Folgen der EU-Energiepolitik für die russische Wirtschaft, die weitgehend vom Export fossiler Energieträger abhängt – wie im übrigen auch ein großer Teile des russischen Staatshaushalts, stärker in den Blick nehmen.

KI bringt Klima- und Naturschutz massiv voran

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Ole Wintermann

Dieser umfassende Text von Niki Wilson auf der Seite von „Oxford Academic“ bietet den Leserinnen einen umfassenden Überblick über die vielen Potenziale und einige Risiken der Anwendung von Künstlicher Intelligenz (KI) im Bereich der Naturwissenschaften mit dem Ziel des Klima- und Naturschutzes.

KI kann innerhalb kürzester Bilder und Datenmengen vergleichen, auswerten und Muster erkennen, für die Menschen mit traditioneller Statistik Wochen benötigt hätten. Als Beispiele hierfür werden im Text die Analyse von tausenden von Schmetterlingsflügeln, der Vergleich von Sumpfgebieten in Satellitenbildern zum Einfluss des Klimawandels auf die Vegetation, die Erkennung von Veränderungen der küstennahen Vegetation oder auch die Vorhersage des Eintritts von Zoonosen im Siedlungsgebiet von Fledermäusen genannt. Der Autor stellt hierbei die Frage, ob sich KI langfristig der Kapazität der biologischen Intelligenz der Biosphäre annähern könnte; welch ein spannender Gedanke.

Herausforderungen bestehen in den exponentiell anwachsenden Datenmengen, der Sicherung der Datenqualität, der supranationalen Vergleichbarkeit von Daten, dem Aspekt der Wahrung der Privatsphäre, der rein privaten Verfügbarkeit von Daten und dem Aufdecken von unbewussten Verzerrungen bei der Sammlung und der Interpretation der Daten.

Jeder, der sich einen umfassenden Überblick über diese Fragen verschaffen möchte, sollte diesen Text gelesen haben.

Wie der Sonderstatus Nordirlands britische Fantasien zähmt

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Silke Jäger

Schon beim Brexit zwang das Karfreitagsabkommen britische Souveränitäts-Fantasien in die Knie. Das Abkommen sichert den Frieden in Nordirland, indem es die Regierung in London dazu verpflichtet, sich mit der nordirischen und irischen Regierung über nationale Gesetze abzustimmen. So verhinderte das Karfreitagsabkommen bereits einen harten Brexit.

Da die Nordir:innen wählen können, ob sie die britische, die irische oder beide Staatsangehörigkeiten tragen möchten, können ihnen nicht einfach Gesetze aufgezwungen werden, die international gültige Abkommen aushebeln. Vor allem nicht dann, wenn sie auch EU-Recht betreffen. Deshalb musste London ein spezielles Nordirland-Protokoll mit der EU verhandeln, um freien Warenverkehr und Reisefreiheit über die innerirische Grenze zu gewährleisten.

Aber auch schon vor dem Brexit machte London die Erfahrung, dass die gewünschte absolute Souveränität wegen des Karfreitagsabkommens an Grenzen stößt. Seit 2010 gab es diverse Versuche, den Human Rights Act 1998 in UK auszusetzen, die daran scheiterten, dass entsprechende Fälle vor nordirischen Gerichten einklagbar sein müssen.

Nach diesen beiden Akten folgt nun der dritte. Das trotz Bescheinigung seiner Illegalität von der konservativen Regierung durchgedrückte Ruanda-Gesetz kann in Nordirland nicht angewendet werden. Und damit steht es in ganz UK vor dem Aus.

Der britische Fachjournalist für Rechtsthemen, David Allen Green, erklärt in diesem kurzen Stück auf seine unnachahmliche Art, wieso die britische Regierung wohl demnächst etwas verstehen wird, was anderen schon längst klar ist.

When this realisation occurs, then politicians in London will have to make a choice. Either they can have the brash absolutist sovereignty that they seem to crave, or they can support a continued United Kingdom of Great Britain and Northern Ireland. But so long as the Good Friday Agreement is in force, they cannot have both.

Man kann sich schon mal Popcorn-Vorräte anlegen, denn es ist nicht auszuschließen, dass die Londoner Tragik-Komödie mehr als drei Akte hat.

Willkommen im KI-Zombie-Facebook

piqer:
Jannis Brühl

Dieser Text ist ebenso gruselig wie lustig. Jason Koebler von der sehr guten Tech-Seite 404 hat es sich zur Aufgabe gemacht, tief in jene Teile des Internets – lies: Facebook – abzutauchen, in denen längst künstliche Intelligenz regiert. Die Tiefen von Facebook werden geflutet mit von generativer KI am Fließband produzierten Bildern von sterbenskranken Fake-Kindern, Hütten in idyllischen Wäldern (die wohl beruhigend auf den Betrachter wirken sollen) und mittlerweile berühmt gewordenen bizarren Religions-Content („Shrimp Jesus“). Auch ein Großteil der Kommentare(z.B. die millionen(?)-fachen „Amen“-Posts unter Bildern) sind Koenlwr zufolge von KI erzeugt. Teilweise hat KI Konten noch aktiver menschlicher Facebook-Nutzer übernommen und postet, ohne dass diese es merken. Willkommen im „Zombie Internet“.

Koeblers Fazit:

Facebook is the zombie internet, where a mix of bots, humans, and accounts that were once humans but aren’t anymore mix together to form a disastrous website where there is little social connection at all.

Überraschend, wie schnell Facebooks System Nutzer mit einer KI-Welt umschließt:

With just a few likes, I was able to turn my feed into one where at least 80 percent of the content is AI generated, and where the only content I’m being shown is already incredibly viral elsewhere on the platform.

Man muss die Beispiele für Bilder und schwachsinnige Beiträge, die Koebler gesammelt hat, gelesen und gesehen haben. (z.B. das Gaga-Bilder-Subgenre „Kinder aus armen Ländern, die Dinge gebaut haben“) Dann versteht man, welche wilde, weltweite Maschine da gerade entsteht.

Nur wer hinter den Firmen steckt, die diese Facebook-Seiten betreiben und wie genau sie damit Geld verdienen, hat Koebler noch nicht so richtig herausgefunden. Es gibt da noch viel zu recherchieren, schließlich geht es gerade erst los.