Analyse

Das „Vollgeldsystem“ – ein gut gemeintes Fiasko

Viele Menschen glauben, dass sich durch die Einführung eines „Vollgeldsystems“ Spekulationen eindämmen und Finanzkrisen verhindern ließen. Das Konzept hat aber erhebliche theoretische und praktische Mängel – und würde das Finanzsystem sogar noch instabiler machen. Eine Analyse von Stephan Schulmeister.

Kampagnentagung der Schweizer Vollgeld-Initiative: Die Kritiker des modernen Geldsystems schütten das Kind mit dem Bade aus. Foto: Vollgeld Initiative via Flickr (CC BY 2.0)

Unser heutiges Geldsystem funktioniert wie folgt: Das Bankensystem in seiner Gesamtheit kann nahezu unbeschränkt Geld „schöpfen“. Durch Kreditvergabe schaffen Banken Giralgeld „aus dem Nichts“: Der Kreditnehmer bekommt zusätzliches Geld auf sein Konto, die Bank eine zusätzliche Forderung. Im Gegensatz zum Bargeld, das vom Staat garantiert ist („Vollgeld“), stellt das Giralgeld lediglich eine Forderung gegenüber einer Bank dar („Kreditgeld“).

Dieses System ist vielen ein Dorn im Auge. So meint etwa die Bewegung „Monetäre Modernisierung“, dass durch die Geldschöpfung privater Banken die Entwicklung der Geldmenge außer Kontrolle geraten sei. Das führe zu einem Anstieg von Schulden, insbesondere der staatlichen, befeuere Finanzspekulationen und verursache schwere Finanz- und Wirtschaftskrisen.

Die Idee des „Vollgeldsystems“

Als „Monetäre Modernisierung“ wird daher eine Geldordnung vorgeschlagen, in der Guthaben der Privaten elektronisches Vollgeld darstellen, welches einer Bank zinsenfrei oder gegen eine „Lagergebühr“ zur Verwahrung gegeben wird. Dieses Geld kann die Bank – wie einen fremden Geldschein – nicht weiterverleihen. Private Geldschöpfung gibt es daher nicht mehr.

Das Vollgeld stellt keine Forderung gegen die Bank dar, sondern staatlich garantiertes Geld. Nur in dem Ausmaß, in dem Private der Bank einen Kredit in Form einer Spareinlage geben, kann die Bank ihrerseits einen Kredit vergeben. Sie agiert dann ausschließlich als Kreditvermittler.

Unter dem Vollgeldsystem kann nur die Notenbank Geld schaffen, und zwar dadurch, dass sie es dem Staat zinsen- und schuldenfrei zur Verfügung stellt. In Zirkulation wird es dann durch die Staatsausgaben gebracht. Eine Vollgeldreform würde die öffentlichen Finanzen massiv entlasten, da der volle Geldschöpfungsgewinn dem Staat zufließt.

Das Geldschöpfungsmonopol der Notenbank gibt ihr die Möglichkeit, die gesamtwirtschaftliche Entwicklung zu beeinflussen – und zwar sowohl die reale Nachfrage als auch die Inflationsdynamik. Soweit die Theorie.

Gegenthese: Das System ist nicht das Problem

Allerdings gehen die Vollgeld-Befürworter von einer falschen Grundannahme aus: Nicht das Kreditgeldsystem an sich stellt ein Fundamentalproblem dar, sondern die Art der Verwendung von Geld. Dies zeigt die wirtschaftliche Entwicklung in der Nachkriegszeit.

In den 1950er und 1960er Jahren lenkten die Anreizbedingungen das Gewinnstreben auf Aktivitäten in der Realwirtschaft. Bei festen Wechselkursen, stabilen Rohstoffpreisen, Zinssätzen unter der Wachstumsrate und „schlummernden“ Aktienbörsen machten Finanzspekulationen keinen Sinn. Die Banken finanzierten ausschließlich realwirtschaftliche Transaktionen, und zwar auf sehr effiziente Weise: Wo eine Kreditfinanzierung nötig war, schufen Banken das dafür nötige Giralgeld.

Gleitende 3-Jahresdurchschnitte. Quellen: OECD, Eurostat, WIFO

Diese ausschließlich „dienende Funktion“ hat das Finanzsystems seit den 70er Jahren schrittweise eingebüßt. Die neoliberale Offensive gegen Keynesianismus und Sozialstaatlichkeit wurde schon seit den späten 1940er Jahren geplant, insbesondere im Rahmen der von Hayek 1947 gegründeten „Mont-Pelerin-Society“. Diesem Netzwerk gehörten alle neoliberalen „Berühmtheiten“ an, darunter acht (spätere) Nobelpreisträger. Eine ihrer wichtigsten Forderungen war die Liberalisierung der Finanzmärkte.

Mit deren Umsetzung gelang der Durchbruch: 1971 wurde das System fester Wechselkurse aufgegeben. Zwei Dollarabwertungen zogen zwei „Ölpreisschocks“, zwei Rezessionen und eine enorme Beschleunigung der Inflation nach sich. Diese wurde ab 1980 mit einer Hochzinspolitik bekämpft.

Damit war der Wechsel von real- zu finanzkapitalistischen Rahmenbedingungen vollzogen: Instabile Wechselkurse, volatile Rohstoffpreise (insbesondere Erdölpreise) und ein seit Anfang der 1980er Jahre über der Wachstumsrate liegender Zinssatz dämpften unternehmerische Investitionen in die Realwirtschaft und machten Finanzspekulationen immer attraktiver. Die folgende Grafik illustriert diesen Trend anhand der Vermögensbildung des deutschen Unternehmenssektors:

Quellen: Deutsche Bundesbank, Destatis, WIFO

Die Banken finanzierten „finanzalchemistische“ Aktivitäten aller Art und schufen Kreditgeld jetzt vor allem zu diesen Zwecken. Während das Wirtschaftswachstum weiter sank und Arbeitslosigkeit sowie Staatsverschuldung stiegen, nahmen die manisch-depressiven Schwankungen der Finanzmärkte zu.

Nicht ein Konstruktionsfehler des Geldsystems hat Europa in die Depression geführt – sondern die Entfesselung der Finanzmärkte

Ab 2003 entwickelten sich drei simultane Bullenmärkte – Aktienkurse, Rohstoffpreise und Immobilienpreise stiegen drastisch. Die Aufwertung der drei wichtigsten Vermögen machten ihre Besitzer reicher ohne dass jemand anderes dafür ärmer werden musste. Dieses „Bewertungswunder“ nährte die Illusion eines krisenfreien Kapitalismus. Die Illusion fand ein fatales Ende: Ende 2006 begannen die Immobilienpreise in den USA zu sinken, 2007 folgten die Aktienkurse, 2008 die Rohstoffpreise. Drei simultane Bärenmärkte (diese Konstellation hatte es seit 1929 nicht mehr gegeben) verursachten die massivste Vermögensentwertung seit der Weltwirtschaftskrise.

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Quellen: Yahoo finance, Shiller Home Price Indizes

Es war also nicht ein fundamentaler Konstruktionsfehler des Geldsystems, das Europa in die Depression geführt hat, sondern die durch die neoliberale Wirtschaftstheorie legitimierte Entfesselung der Finanzmärkte. Ein Vollgeldsystem würde diese Krise nicht überwinden, sondern vertiefen. Dafür gibt es fünf zentrale Gründe:

  1. Die Annahme, man könne die Gesamtwirtschaft durch Geldmengensteuerung lenken, ist falsch.
  2. Finanzspekulation kann durch Vollgeld nicht eingedämmt werden.
  3. Vollgeld beeinträchtigt die Kreditversorgung der Realwirtschaft.
  4. Vollgeld produziert gesamtwirtschaftliche „Nachfragelücken“.
  5. Das Vollgeldsystem würde die Macht der Notenbank in einer Weise ausweiten, die mit demokratischen Prinzipien unvereinbar wäre.

Geldmengensteuerung – Unsinn in Theorie und Praxis

Eine Steuerung der Geldmenge kann die Schwankungen von Konjunktur und Inflation nur dann stabilisieren, wenn es einen „ausnutzbaren“ Zusammenhang zwischen der Entwicklung von realer Gesamtproduktion und Preisniveau auf der einen Seite und der Entwicklung der Geldmenge auf der anderen Seite gibt. Die Quantitätstheorie nimmt einen solchen Zusammenhang an. Die entsprechende Gleichung lautet:

Geldmenge (M) x Umlaufsgeschwindigkeit (V)

=

Preisniveau (P) x BIP (Q)

Wenn die Umlaufsgeschwindigkeit (also die Häufigkeit, mit der Geld für realwirtschaftliche Transaktionen verwendet wird) stabil wäre, dann könnte man durch eine Geldmengenpolitik die Gesamtwirtschaft steuern: Bei Unterauslastung von Arbeit und Kapital würde eine Ausweitung der Geldmenge das Bruttoinlandsprodukt erhöhen, bei Vollbeschäftigung die Inflation (für Monetaristen sorgen freie Märkte für permanente Vollauslastung der Kapazitäten, die Geldmengensteuerung verändert daher nur die Inflation).

Tatsächlich ist die Häufigkeit, mit der Geld für realwirtschaftliche Transaktionen verwendet wird, aber nicht konstant. Auch die Entwicklung der Transaktionsgeschwindigkeit folgt keinem stabilen Pfad. Nimmt etwa der Pessimismus zu, werden Haushalte und Unternehmen weniger Transaktionen tätigen, Geld also in höherem Ausmaß horten.

Restlos demoliert wird die Quantitätstheorie durch eine Tatsache, die ihre Erfinder und Anhänger wie Milton Friedman (bis heute) übersehen haben: Geld wird auch für Finanztransaktionen verwendet. Und deren Volumen beträgt ein gigantisches Vielfaches des Bruttoinlandsprodukts (im Durchschnitt der europäischen Länder das 120-Fache!).

Quelle: WIFO

Selbst wenn die Notenbank die gesamte Geldmenge steuern könnte, kann sie in keiner Weise erzwingen, dass sie dadurch das nominelle BIP (= PQ x Q) und nicht die Finanztransaktionen beeinflusst. So erhöht die EZB seit Jahren durch „Quantitative Easing“ und andere geldpolitische Maßnahmen die Geldmenge, doch die Inflationsraten sind gefallen, die Konjunktur hat sich verschlechtert – nur die Finanztransaktionen sind gestiegen und mit ihnen die Aktienkurse.

Vollgeld kann Finanzspekulationen nicht eindämmen

Selbst wenn die Notenbank die Geldmenge also konstant hält, können Finanztransaktionen enorm zunehmen, indem die Geschwindigkeit des Handelns steigt. Genau dies ist in der Realität der Fall, gefördert durch Informationstechnologien und Internet. Man denke nur an das „high frequency trading“, das in Milli- bis Mikrosekunden abgewickelt wird.

Vollgeld würde nicht nur Finanzspekulationen, sondern auch die Finanzierung von realwirtschaftlichen Aktivitäten einschränken – was in einer Krise fatal wäre

Das Vollgeldsystem beschränkt die Kreditvergabe der Banken auf die Spareinlagen ihrer Kunden. Damit wird nicht spezifisch die Finanzierung von Finanzspekulation eingeschränkt, sondern auch die von Finanzierung von realwirtschaftlichen Aktivitäten. In einer Krise ist dies fatal: Wenn das Zinsniveau – wie derzeit im Euroraum – bei null liegt (und liegen soll), werden Haushalte und Unternehmen ihr Geld nicht als –  de facto unverzinste – Sparguthaben halten (diese dürften die Banken weiter verleihen), sondern als Vollgeld im Depot. Mit diesem Vollgeld können sie dann selber spekulieren.

Tatsächlich haben Unternehmen und Haushalte seit den 1970er Jahren ihre Vermögensbildung bereits verändert: Die Unternehmen haben ihre Realinvestitionen gesenkt und ihre Finanzinvestition ausgeweitet. Entsprechend dem Motto des Finanzkapitalismus („Lassen wir unser Geld arbeiten!“) haben auch die privaten Haushalte ihr Finanzvermögen von Sparbüchern auf Aktien, Anleihen oder Investitionsfonds verlagert – teilweise wurden sie dazu durch die (partielle) Umstellung von der sozialstaatlichen zur kapitalgedeckten Altersvorsorge genötigt. Und viele Amateure haben ein Konto bei einem Internetbroker eröffnet und spekulieren selbständig.

Die Verlockung für Unternehmen und Haushalte, nunmehr mit Vollgeld zu spekulieren, ist in schlechten Zeiten besonders groß: Bei Nullzinsen und erhöhtem Risiko werden sie kaum bereit sein, der Bank einen Kredit in Form einer Einlage einzuräumen, sondern versuchen, „ihr Geld arbeiten zu lassen“.

Vollgeld erschwert die Kreditversorgung der Realwirtschaft

Ein großer Teil der Realinvestitionen wird durch Bankkredite finanziert, also durch Geldschöpfung. Wenn dem zusätzlichen Geld die Schaffung realer Werte gegenübersteht, ist gegen diese höchst flexible und effiziente Form der Finanzierung nichts einzuwenden: „Aus dem Nichts“ wird etwas geschaffen (Kreditgeld), das die Schaffung von einem „realen Etwas“ (Maschine, Wohnhaus, etc.) ermöglicht.

Unter finanzkapitalistischen Rahmenbedingungen (wie seit Ende der 1970er Jahre) werden mit dem von den Banken geschöpften Kreditgeld in wachsendem Ausmaß nicht Realinvestitionen finanziert, sondern Finanzinvestitionen. Bekämpft man dies dadurch, dass man den Banken die Fähigkeit nimmt, Kreditgeld zu schöpfen, dann schüttet man das Kind mit dem Bade aus und kommt so vom Regen in die Traufe.

Denn wie viele Kreditmittel tatsächlich zur Verfügung stehen, wird durch eine Vielzahl von Zwischenschritten bestimmt:

  • In Schritt 1 schöpft die Notenbank Vollgeld, das sie dem Staat schenkt.
  • In Schritt 2 kommt dieses Geld in Umlauf, indem der Staat es ausgibt, und zwar über unterschiedliche „Kanäle“, je nachdem, wofür er es ausgibt.
  • In Schritt 3 entscheiden die Begünstigten, wie viel sie davon sparen und wie viel sie durch Konsum- oder Investitionsausgaben, Lohnzahlungen etc. weiter zirkulieren lassen.
  • In Schritt 4 bestimmen die Haushalte und Unternehmen, wie viel vom gesparten Vollgeld sie einer Bank als Spareinlage zur Verfügung stellen.

Wegen dieser Zwischenschritte kann die Notenbank mit der Schöpfung von Vollgeld weder das gesamte Kreditpotenzial der Banken steuern, noch das Kreditangebot der nach Regionen und Branchen stark unterschiedlichen Kreditnachfrage anpassen.

Das Vollgeldsystem würde zu einem zu hohen und instabilen Zinsniveau führen

Eine weitere fatale Konsequenz des Vollgeldsystems: Die Zentralbank kann das Nominalzinsniveau nicht mehr bestimmen (die Banken müssen sich ja nicht mehr bei ihr refinanzieren). Der Zins ergibt sich nunmehr aus dem Zusammenspiel von Spareinlagen (Angebot) und Kreditnachfrage. Je unsicherer die Zeiten und je schlechter die Wirtschaftslage, desto mehr Vollgeld wird auf Depots brachliegen und desto geringer wird daher das Kreditangebot sein. Das Zinsniveau wäre dann zu hoch und instabil.

Das Vollgeldsystem produziert eine gesamtwirtschaftliche Nachfragelücke

Die Befürworter eines Vollgeldsystems vernachlässigen auch die wichtigste makroökonomische Gleichgewichtsbedingung: jene zwischen den Spar- und Investitionsplänen, hier vereinfacht dargestellt am Beispiel einer geschlossenen Volkswirtschaft ohne Staat: Wenn jener Teil des BIP, den die Haushalte nicht nachfragen wollen (= ihr Sparen), größer ist als das, was die Unternehmen als Investitionen zusätzlich zum Konsum der Haushalte nachzufragen planen, dann ist die geplante Gesamtnachfrage kleiner als das Gesamtprodukt (BIP) – es besteht somit eine  „Nachfragelücke“ bzw. „deflatorische Lücke“.

Das bedeutet: Die Unternehmer bleiben auf einem Teil ihrer Produktion sitzen, die unfreiwilligen Lagerbestände steigen. Die Unternehmer werden daher ihre Produktion so lange einschränken, bis die Spar- und Investitionspläne – auf niedrigerem BIP-Niveau – wieder übereinstimmen (diese Einsicht ist ein Kernstück der Theorie von Keynes).

Im Vollgeldsystem wird ein erheblicher Teil des Sparens als Vollgeld auf Bankdepots „eingefroren“ und schafft so gesamtwirtschaftliche Nachfragelücken. Auch dazu ein einfaches Beispiel: Nehmen wir an, die Investitionen werden zu 50% durch Kreditaufnahmen fremdfinanziert. Wenn nun die Haushalte 60% ihres Sparens auf Gelddepots einlegen, dann stünden nur 40% für die Kreditfinanzierung von Investitionen zur Verfügung. Benötigt werden aber 50% des Sparens (= 50% der fremdfinanzierten Investitionen).

Anders ausgedrückt: Die Wirtschaft würde nur dann nicht zu schrumpfen beginnen, wenn die Haushalte die 60% ihres ersparten Vollgelds zur Gänze für den Kauf von – neu emittierten – Unternehmensaktien oder –anleihen verwenden, und die Unternehmen bereit sind, ihre Investitionen zu 60% durch Aktien- oder Anleiheemissionen zu finanzieren und nur zu 40% durch Bankkredite. Es gibt aber keinen Mechanismus, der zu dieser Konstellation führen würde.

Fatal daran ist, dass gerade in Zeiten der Krise, wenn eine Belebung der Investitionsnachfrage besonders wichtig wäre, jener Teil des Sparens, der auf Gelddepots „eingefroren“ wird, besonders hoch sein dürfte. Denn einerseits ist in einer Krise die Unsicherheit hoch und die Kreditbereitschaft daher gering, und andererseits sind auch die Sparzinsen niedrig und daher wenig attraktiv.

Vollgeld würde prozyklisch wirken

Die Einführung eines virtuellen Vollgelds, das auf Gelddepots gehalten wird, fördert also strukturell eine Kreditverknappung und damit eine Nachfragelücke. Darüber hinaus wirkt diese Konstruktion im Vergleich zum herrschenden Geldsystem prozyklisch: In Zeiten der Krise werden die Kredit- und Investitionsmöglichkeiten besonders stark verknappt, in der Hochkonjunktur besonders stark ausgeweitet.

Die Zentralbank wird zur Zentralregierung – oder verliert ihre Unabhängigkeit

Bei den Vollgeld-Befürwortern kommen auch die politischen Konsequenzen eines solchen Systems zu kurz – und diese wären erheblich. Denn da nur die Notenbank Vollgeld schaffen darf, und zwar durch „Geschenke“ an die Staaten, erfährt sie einen enormen Machtzuwachs. Dies gilt insbesondere in der Eurozone. So würde die EZB entscheiden, welches Euroland wie viel Vollgeld erhält. Dies hinge wiederum von der Bewertung der nationalen Wirtschafts- und Sozialpolitiken ab. Die einzelnen Länder müssten sich den vermuteten oder deklarierten politischen Präferenzen der EZB und den dahinterstehenden ökonomischen Theorien/Ideologien anpassen, um Vollgeld zu bekommen.

Die Vollgeld-Einführung würde die Macht einer nicht-demokratisch legitimierten Institution drastisch ausweiten

Diese Problematik wird durch folgendes Dilemma verschärft: Ist die Notenbank auf eine solche Weise in das gesellschaftliche Regelsystem eingebunden, dass sie ihre Entscheidungen unabhängig von Weisungen der Regierungen treffen kann (dies ist bei der EZB in ausgeprägter Weise der Fall), dann würde durch die Vollgeld-Einführung die Macht einer nicht-demokratisch legitimierten Institution drastisch ausgeweitet.

Würde hingegen die Unabhängigkeit der Notenbank wegen deren Machtzuwachses gelockert, so würde sie zum Austragungsort massiver Verteilungskonflikte um die Vollgeld-Zuteilung. Dieser Konflikt zwischen Unabhängigkeit und damit fehlender demokratischer Legitimation einer Notenbank und ihrem Missbrauch durch die Regierungen war und ist natürlich auch im herrschenden Kreditgeldsystem virulent – in einem Vollgeldsystem würde er aber wegen des Monopols auf Geldschöpfung verschärft

Heilslehren in Zeiten der Krise

In Zeiten von Krise und Orientierungslosigkeit haben Heilslehren Konjunktur. Das „Vollgeldsystem“ ist ein gutes Beispiel dafür (wichtige Mitbewerber mit erheblichen Schnittmengen sind die „Gemeinwohlökonomie“, die „Post-Wachstums-Ökonomie“ oder gleich die „Post-Kapitalismus-Ökonomie“): Krisensymptome bilden das zu lösende „Fundamentalproblem“ (Geldschöpfung „aus dem Nichts“ befeuert Finanzspekulation). Man identifiziert einen „Knackpunkt“, an dem ein radikal einfacher Reformvorschlag ansetzt (Einführung von Vollgeld) und verspricht durch seine Umsetzung die Lösung des Ausgangsproblems und die Überwindung vieler Folgeprobleme (Finanzinstabilität, Finanz- und Wirtschaftskrisen, Inflation, Staatsverschuldung).

Leider haben „linke“ Vordenker häufig einen Drang zu weltverbesserndem „Konstruktivismus“

Bei allen radikalen – an die Wurzeln gehenden – Reformkonzepten sollte man allerdings bedenken: Was verändert werden soll, hat sich über Jahrhunderte evolutionär entwickelt, und dafür muss es (auch) gute Gründe geben. Menschen, beseelt vom Drang, die Welt zu verbessern, übersehen das leicht. Die These von Hayek, dass „linke“ Vordenker angefangen bei Rousseau einen Hang zu weltverbesserndem „Konstruktivismus“ haben, trifft – leider – häufig zu.

 

Zum Autor:

Stephan Schulmeister ist Wirtschaftsforscher und Universitätslektor in Wien

Hinweis:

Dieser Beitrag basiert auf dem WIFO-Working Paper „Das „Vollgeldsystem“ – Notwendige Reform oder gefährliches Allheilmittel?“

Update:

Eine Replik der Schweizer Vollgeld-Initiative auf diesen Beitrag finden Sie hier.