Geoökonomie

Das geoökonomische Dreieck der globalen Unordnung

2022 wird als das Jahr in die Geschichte eingehen, in dem die alte geopolitische Ordnung zu Ende ging. Dies wird Konsequenzen für die Globalisierung und die internationale Makroökonomie haben. Ein Beitrag von Henning Vöpel.

Das berühmte Diktum Francis Fukuyamas vom „Ende der Geschichte“ nach dem Fall der Mauer 1989 erscheint aus heutiger Sicht eine große Fehleinschätzung gewesen zu sein. Ganz im Sinne des dialektischen Materialismus Hegels hätte sich, so Fukuyama, der Systemwettbewerb zwischen Kapitalismus und Kommunismus zugunsten seiner Synthese von Marktwirtschaft und liberaler Demokratie entschieden und Geschichte sei gleichsam zum Erliegen gekommen.

Das Buch von Fukuyama enthielt jedoch, wie dieser heute betont, einen Untertitel: „und der letzte Mensch“. Der letzte Mensch nun, eine Figur Nietzsches, gleichsam gelangweilt vom Ende der Geschichte, setzt diese wieder in Gang. Der Krieg in der Ukraine markiert in diesem Sinne nicht weniger als die Rückkehr der Geschichte und mit ihr das Aufbrechen geopolitischer Konflikte und geoökonomischer Rivalität. So absurd die Vorstellung sein mag, am Beginn des digitalen Zeitalters imperialistische, auf territoriale Gewinne abzielende Kriege wie aus dem 18. Jahrhundert zu führen, so sicher ist es, dass damit ein sicherheits- und außenpolitischer Paradigmenwechsel verbunden sein wird – mit gravierenden Folgen für die Globalisierung.

Das Vermächtnis der Hyperglobalisierung

Der Wendepunkt der Globalisierung aber lag vermutlich schon deutlich früher. Die große globale Finanzkrise von 2008 lässt sich aus heutiger Sicht als solcher deuten. Seitdem entwickelte sich der internationale Handel nach einem Vierteljahrhundert der Hyperglobalisierung eher seitwärts – ein regelrechter Knick also zum Trend zwischen 1990 und 2008.

Das Jahr 2016 kann als eine späte politische und gesellschaftliche Reaktion auf die Hyperglobalisierung interpretiert werden: Donald Trump wurde zum US-Präsidenten gewählt, die Brexit-Abstimmung ging an die Brexiteers. Beide Entscheidungen waren überraschend und äußerst knapp – ein Hinweis darauf, dass in westlichen Demokratien so etwas wie eine Spaltung stattgefunden haben könnte.

Ein Blick auf die Verteilung der Einkommenszuwächse in den Jahren 1990 bis 2008 zeigt, dass die Reallöhne der Mittelschicht stagnierten, während die Kapitaleinkommen und die Gehälter der urbanen Eliten deutlich von der Globalisierung profitierten. Dies war ganz gemäß der ökonomischen Theorie: Die Integration Chinas in die Weltwirtschaft machte den Faktor Arbeit reichlich, ließ die eher arbeitsintensiven Industrien nach China abwandern und im Westen die Arbeitsplätze schwinden und die Löhne sinken („China-Schock“). Ein Befund, der Dani Rodrik zum „Globalisierungsparadox“ animierte. Hyperglobalisierung, Nationalstaat und Demokratie können nicht gleichzeitig in reiner Form herrschen.

Das Jahr 2022 schließlich wird als das Jahr in die Geschichte eingehen, in dem auch sicherheits- und verteidigungspolitisch die alte geopolitische Ordnung zu Ende ging: Russland versucht, mit dem völkerrechtswidrigen Überfall der Ukraine die Grenzen mitten in Europa gewaltsam zu verschieben.

Die Welt ist buchstäblich in Unordnung geraten. Dies wird Konsequenzen für die Globalisierung und auch die internationale Makroökonomie haben, was sich in einem „geoökonomischen Dreieck der globalen Unordnung“ zusammenfassen lässt. Der Übergang in eine multipolare Ordnung wird begleitet durch eine sich fragmentierende Globalisierung sowie eine schwächere internationale Koordination der Makropolitiken. Die Konsequenz wird sein, dass es verstärkt zu internationalen Ungleichgewichten kommen wird, ebenso eine stärkere Beggar-thy-neighbor-Politik betrieben wird und Autarkiebestrebungen und industriepolitische Wettläufe zunehmen werden. Mit dem Übergang in eine neue globale Ordnung wird sich eine geoökonomische Neuvermessung der Globalisierung vollziehen.

Das geoökonomische Dreieck der globalen Unordnung

Quelle: eigene Darstellung

Dies ist ein sehr kritischer Übergang, wie Harold James betont, indem er Parallelen zu den Dynamiken in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts zieht. Damals kam es nach der ersten Welle der Globalisierung zu einem fatalen geopolitischen Rückschlag für die Weltwirtschaft, der in der großen Katastrophe des 20. Jahrhunderts endete.

Die Thukydides-Falle und das hegemoniale Nullsummenspiel

Das Ende der multilateralen, regelbasierten Globalisierung infolge der geopolitischen Neuordnung ist ein gravierender Vorgang, denn es markiert zugleich den Übergang von einem Positivsummenspiel, in dem es um die Verteilung der Handels- und Spezialisierungsgewinne einer integrierten, arbeitsteiligen Weltwirtschaft ging, zu einem Nullsummenspiel, in dem die hegemoniale Macht neu verteilt wird und in dem der Zugewinn an Macht des Einen den Verlust an Macht der Anderen bedeutet. Die perfide Logik dieses Spiels besteht darin, dass kooperatives Verhalten nur noch bedingt rational ist, wenn alle versuchen, ihre geopolitischen Interessen durchzusetzen: Niemand kann allein den Multilateralismus retten.

Diese Logik lässt sich anhand der stilisierten Auszahlungsmatrix in der folgenden Abbildung verdeutlichen. Dieses Spiel hat zwei Nash-Gleichgewichte, nämlich die Beibehaltung des Multilateralismus und den Übergang in die strategische Rivalität. Eine nur einseitige Entkopplung ist kein Nash-Gleichgewicht.

Das nicht-kooperative Spiel hegemonialer Macht

Quelle: eigene Darstellung

Diese Darstellung als One-Shot-Game ist eine starke Vereinfachung. Tatsächlich handelt es sich um ein wiederholtes Spiel: Welches der beiden Nash-Gleichgewichte sich einstellt, hängt davon ab, ob genügend Vertrauen für das kooperative, pareto-optimale Gleichgewicht aufgebaut werden kann. Generell gilt, dass jener „Spieler“, der über mehr Geduld verfügt, im Vorteil ist, weil er länger abwarten kann. Wer mehr Geduld besitzt, hat strategische Vorteile, seine Interessen durchzusetzen. China ist bekannt für seine Politik der langen, historischen Zeithorizonte. Nur wer langfristig denkt, kann strategisch agieren. Womöglich liegt derzeit hierin der Vorteil von Autokratien gegenüber Demokratien. Letztere können kaum noch langfristige Politik durchsetzen – ein empfindlicher Punkt der Schwäche von Demokratien.

Ein Kampf um die hegemoniale Macht in der Welt ist naturgemäß konfrontativ. Der Geschichtsschreiber Thukydides hat dies im Fall Athen gegen Sparta eingehend analysiert und ist zu dem Schluss gekommen, dass der amtierende Hegemon und sein Herausforderer letztlich eine hohe Neigung zu kriegerischer Auseinandersetzung entwickeln. Dies ist seitdem als „Thukydides-Falle“ bekannt.

Der Wirtschaftshistoriker Charles Kindleberger hat gezeigt, dass die Übergänge von einer in die nächste globale Ordnung sogar Jahrzehnte andauern können, bis letztlich der neue Hegemon neue Regeln definiert hat und die institutionelle Stabilität der neuen Ordnung garantieren und durchsetzen kann. Interessanterweise gehört zu der militärischen und ökonomischen Macht, die letztlich auch auf Technologie beruht, auch ein hoher Offenheitsgrad. Denn nur dadurch kann sich hegemoniale Macht global verbreiten, wie die Beispiele des British Empire und der USA zeigen.

Dieser Aspekt lässt daran zweifeln, dass China wirklich der neue Hegemon des 21. Jahrhunderts und der nächsten globalen Ordnung sein kann, war doch immer in seiner Geschichte die innere Stabilität des riesigen Reiches bedeutsamer als die imperialen Motive. Die nicht-kooperative Natur dieses Spiels führt dazu, dass nationale Interesse wieder stärker in den Vordergrund rücken und Industriepolitik als Mittel einer re-nationalisierten Wirtschaftspolitik zurückkehrt. Auch für Europa bedeutet dies, die eigenen Interessen zu kennen, zu definieren und durch strategisches Handeln zu schützen.

Ökonomische Autarkie vs. Strategische Souveränität

Der Zerfall der alten geopolitischen Ordnung birgt die Gefahr einer neuen Blockbildung, die letztlich eine weltwirtschaftliche Desintegration zur Folge haben kann. Die Tatsache, dass Finnland und Schweden ihre Neutralität aufgeben, um der NATO beizutreten, und die Türkei als NATO-Mitglied der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit um China und Russland beitritt, zeigt die Gefahr einer Regionalisierung von Einflusssphären und der damit verbundenen Fragmentierung der globalen Märkte.

In nächster Linie geht es um den Einfluss in Afrika, Indien und Zentralasien. Im Großen geht es um eine neue mögliche Blockbildung zwischen China und Russland sowie weiteren autokratischen Staaten auf der einen und den USA, Europa und weiteren demokratischen Staaten auf der anderen Seite. Eine mögliche Trennlinie zwischen den neuen Blöcken verläuft somit zwischen Autokratien und Demokratien – ein Systemwettbewerb kündigt sich an. Die wirtschaftlichen Beziehungen verlagern sich somit auf die Ebene einer strategischen Rivalität. Wirtschaftliche Abhängigkeiten können und werden somit als eine geopolitische Waffe eingesetzt werden („Weaponization“).

Der Krieg in der Ukraine hat die wirtschaftliche Abhängigkeit der EU und insbesondere Deutschlands von Russland in der Energieversorgung deutlich gemacht. Die nächste Abhängigkeit droht von China, und zwar nicht nur von China als Beschaffungs- und Absatzmarkt, sondern vor allem deshalb, weil China bereits den Zugang zu wichtigen Rohstoffen kontrolliert. Kritische Rohstoffe sind zum Beispiel Seltene Erden, die für die Batterietechnologien und weitere Zukunftstechnologien entscheidend sind.

Es wird also in dem sich ankündigenden Systemwettbewerb darauf ankommen, sich unabhängiger zu machen. Damit ist nicht Autarkie gemeint, denn Autarkie ist in Form von Wohlfahrtsverlusten wirtschaftlich sehr teuer und zudem politisch gefährlich, weil es die Tendenz der Entkopplung und der De-Globalisierung verstärkt.

Im Gefolge der Autarkiebestrebungen kommt es zumeist zu industriepolitischen Subventionswettläufen, die ebenfalls sehr teuer und ineffizient sein können, weil Spezialisierungsvorteile nicht realisiert werden und Überkapazitäten aufgebaut und staatliche Abhängigkeiten erzeugt werden. Die Chip-Industrie ist ein gutes Beispiel hierfür. Die EU ist hier von den USA, Südkorea und vor allem Taiwan abhängig. Eine Invasion Taiwans durch China und die unvermeidlichen Sanktionen gegen China wären vor allem für die deutsche Exportindustrie um Dimensionen teurer als Russlands Krieg in der Ukraine.

Es kann also nicht um wirtschaftliche Autarkie gehen – eine Aufgabe von Spezialisierungs- und Handelsvorteilen würde gigantische Wohlfahrtsverluste nach sich ziehen –, sondern es gilt, die strategische Souveränität, also die politische Handlungsfähigkeit, zu stärken. Dies beinhaltet natürlich, Lieferketten, kritische Infrastruktur, den Zugang zu Rohstoffen und die Versorgung mit medizinischen Produkten zu schützen. „Friend-shoring“, wie Janet Yellen dies genannt hat, wird aber nur ein Teil dieser Strategie sein können.

Strategische Souveränität im 21. Jahrhundert beinhaltet, nicht sehr viel anders als zu anderen Phasen einer geopolitischen oder technologisch-industriellen Neuordnung, folgende Punkte:

  • Zugang zu Energie und Rohstoffen,
  • Zugang zu (Kapital-)Märkten,
  • Technologieführerschaft und die Fähigkeit, Normen und Standards zu etablieren,
  • Militärische Verteidigungsfähigkeit und Cyber-Sicherheit und
  • Formen von Soft Power.

Zwei wesentliche Einflussfaktoren der nächsten Phase der Globalisierung werden zum einen der Klimawandel und diesbezüglich mögliche Migrationsbewegungen sein, und zum anderen die Datenökonomie und der diesbezügliche Handel von Daten und Technologien zwischen unterschiedlichen Regulierungsräumen. Beide Entwicklungen benötigen auf globaler Ebene einen kooperativen Rahmen, innerhalb dessen es zu bindenden institutionellen Vereinbarungen kommen kann.

Bis die supranationalen Institutionen der nächsten globalen Ordnung jedoch geschaffen worden sind, muss gerade für Europa die Strategie sein, einerseits die eigene Souveränität zu stärken und andererseits die Märkte möglichst offen zu halten – auch durch neue Handelsabkommen, zum Beispiel mit Ländern wie Vietnam, möglichen Energie- und Rohstofflieferanten in Südamerika oder sogar einem neuen Versuch mit den USA. Mit einer selbstbestimmten Politik der Prinzipien und des Pragmatismus kann Europa seine strategischen Ziele und wirtschaftlichen Interessen am besten umsetzen.

 

Zum Autor:

Henning Vöpel war Direktor des Hamburgischen WeltWirtschaftsInstituts (HWWI) und ist Vorstand des Centrum für Europäische Politik. Auf Twitter: @HenningVoepel.