In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.
Viel Elite, viel Unruhe oder wie Zyklen in die Geschichte kommen?
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Thomas Wahl
Peter Turchin ist Professor an der „University of Connecticut in the Departments of Ecology and Evolutionary Biology, Anthropology, and Mathematics“. Und er beschäftigt sich mit „Cliodynamics„, einem neuen interdisziplinären Forschungsgebiet:
Cliodynamics (from Clio, the muse of history, and dynamics, the study of why things change with time) is the new transdisciplinary area of research at the intersection of historical macrosociology, economic history/cliometrics, mathematical modeling of long-term social processes, and the construction and analysis of historical databases. Mathematical approaches – modeling historical processes with differential equations or agent-based simulations; sophisticated statistical approaches to data analysis – are a key ingredient in the cliodynamic research program
Die letzte Ausgabe des Economist gibt ein Beispiel für Ergebnisse aus mathematischen Analysen, die sich laut Turchin ergeben können, wenn man Gesellschaften und ihre Geschichte/Evolution als große, komplexe Systeme betrachtet, die bestimmten Mustern folgen. Turchin hatte bereits vor zehn Jahren richtig prophezeit, dass in den USA und Westeuropa wahrscheinlich eine Zeit wachsender Instabilität anbrechen werde. Er begründete das mit einer „Überproduktion junger Absolventen mit höheren Abschlüssen“.
As far back as ancient Rome and imperial China, Mr Turchin shows, societies have veered from periods of political stability to instability, often at intervals of about 50 years. Consider America. Every pundit knows that Congress has become gridlocked, with Democrats and Republicans unwilling to compromise with each other. Fewer know that it was also highly polarised around 1900, before becoming more co-operative in the mid-20th century.
Und aus statistischen Daten (demographischen Strukturdaten) und Modellen ergibt sich dann die sogenannte „double spiral of well being and elite overproduction„.
Solche Prognosemodelle enthalten sicher viele Faktoren. Aber ähnlich wie Karl Marx postulierte, scheint zu gelten: „Die Geschichte aller bisher existierenden Gesellschaften ist die Geschichte der Klassenkämpfe“ – nur im Gegensatz zu Marx eher als ein Kampf der Eliten.
But a struggle is most likely when economic inequality is high. The rewards for being at the top are then especially lucrative, both in terms of earning power and political influence, and those who miss out feel their loss more keenly. The feeling of resentment is particularly strong among people brought up to believe that they ought to be in the elite.
Worse still, societies tend to produce ever more would-be elites, in part because access to education tends to improve over time. Mr Turchin sees all this as a recipe for political chaos. Articulate, educated people rebel, producing a scramble for political and economic power. Elites stop co-operating, counter-elites emerge, and order breaks down.
Eliten-Überproduktion kann auch dazu beitragen, die „Cancel Culture“ zu erklären, die die westliche Welt gerade erfasst. Ist es für junge Leute nicht zunehmend schwer, Eliten-Status zu erreichen, selbst mit Uni-Abschluss? Hoch bezahlte und angesehene Jobs in großen Unternehmen scheinen knapp zu werden. Die Immobilienpreise steigen. Turchin schätzt, dass Amerika jedes Jahr rund 25.000 „überschüssige“ Anwälte ausbildet. Über 30% der britischen Absolventen seien für ihre Arbeit überqualifiziert. Und wer hat nicht schon mal überlegt, dass wir einfach zu viele unzufriedene, alles besser wissende Intellektuelle mit zu vielen krausen Ideen haben – sich selbst vielleicht eingeschlossen? Aber sicher besteht auch Hoffnung:
Yet enlightened elites can prevent the emergence of political instability in more effective ways. In the early 20th century American reformers raised inheritance taxes to prevent the emergence of a hereditary aristocracy, and engaged in massive trust-busting. Modernising urban-planning systems could lower housing costs, and deregulating labour markets would help create good jobs for “excess” elites. Mr Turchin’s analysis of the structural forces governing societies is an intriguing explanation of political unrest. But cliodynamics need not be destiny.
Also erkennen wir die Welt, ihre Entwicklungsmuster und reagieren wir entsprechend. Mathematik, Datenanalyse und Modelle könnten auch helfen, Sozialwissenschaften und ihre Hypothesen besser zu beweisen – sprich: wissenschaftlicher zu werden.
Ein moralisches Dilemma der Erneuerbaren: Solarkolonialismus
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Rico Grimm
In Deutschland kennen wir die Diskussionen um Windräder und neue Solargroßprojekte. Sie sind gesellschaftlich nötig – ohne Erneuerbare sind alle weiteren Pläne für die Verkehrswende, den Einsatz von Wasserstoff oder Wärmepumpen für die Katz. Aber individuell vor Ort kann sich das alles ganz anders anfühlen: Da werden in fernen Hauptstädten Dinge beschlossen, mit denen man selbst nichts zu tun hat.
Ich habe einen Text gefunden, der dieses Dilemma noch einmal vertieft, weil hier die Macht so ungleich verteilt ist. In einer Region Mexikos will der französische Ölgigant Total ein großes Solarkraftwerk von einer US-Firma bauen lassen. Dafür sollen mehrere Hektar Wald verschwinden. Die indigenen Bewohner vor Ort befürchten – auch angesichts des Klimawandels! –, dass ihr Ort ohne die kühlenden Wälder drumherum zu einer „Hitzeinsel“ wird . Pikant ist folgender Satz eines Bewohners:
[Die Planer] versuchten, eine sehr heikle Konsultation so durchzuführen, dass wir „ja“ zu dem Projekt sagen würden, auch wenn alles daran falsch ist.
Dieser Fall lässt mich befürchten, dass wir im Zusammenhang mit den Erneuerbaren Energien immer wieder auf jenes Problem stoßen werden, das wir schon aus dem Niger-Delta oder aus den Regenwäldern Ecuadors kennen: Wenn die großen Energiemultis aus dem Westen kommen, zählen die Rechte der Menschen vor Ort nicht mehr viel.
Was nach Covid-19 kommt
piqer:
Nick Reimer
„Die Welt könnte ein ziemlich unangenehmer Ort werden“, sagt Peter Daszak. Der US-Zoologe und Virenexperte ist nicht irgendwer; im Auftrag von mehr als 130 Regierungen haben zwei Dutzend Experten unter Daszaks Leitung den neuen Bericht des Weltbiodiversitätsrats IPBES erarbeitet – zum Zusammenhang zwischen Naturzerstörung und dem Risiko neuer Pandemien. Daszak urteilt:
„Wenn wir nicht rasch gegensteuern, werden wir schon sehr bald wesentlich öfter Pandemien erleben, die sich noch schneller ausbreiten als Covid-19, noch tödlicher verlaufen und die globale Wirtschaft in noch tiefere Krisen stürzen, als wir sie jetzt erleben.“
Es gibt nämlich einen Zusammenhang zwischen Naturzerstörung und Covid-19: „Die Wahrscheinlichkeit von Pandemien steigt mit zunehmender Vernichtung von Ökosystemen und Biodiversität“, erklärt Joachim Spangenberg, Vizepräsident des Sustainable Research Institute in Köln. Dadurch, das der Mensch immer weiter in immer entlegenere Regionen der Welt vordringt, wird das Überspringen der natürlicherweise in Wirtstieren wie Fledermäusen oder anderen Wildtieren lebenden Erreger auf Menschen massiv befördert werde. Die Intensivierung der Land- und Forstwirtschaft, das Roden von Regenwäldern, der unkontrollierte Handel mit Wildtieren – nach Auswertung von mehr als 600 wissenschaftlichen Arbeiten zum Thema ist für das Team von Peter Daszak klar, dass wir es selbst sind, die als treibender Faktor globale Pandemien heraufbeschwören.
Das Potenzial für neue globale Epidemien schätzen die Wissenschaftler als immens ein. Unter den geschätzt 1,7 Millionen bislang unentdeckten Viren in Wirtstieren wie Vögeln und Säugetieren sehen die Forscher bei einer halben Million bis 850.000 ein Pandemie-Potenzial. Von den in den vergangenen Jahren neu aufgetretenen Infektionskrankheiten haben 75 Prozent einen tierischen Ursprung. „Wir halten seit 20 Jahren die rote Flagge in die Luft, besonders was Coronaviren angeht, aber wir wurden zu oft ignoriert“, beklagt Daszak.
Anne Larigauderie, die IPBES-Generalsekretärin, fordert deshalb einen neuen Grundsatz: „Wir müssen Klimaschutz, Naturschutz und Gesundheitsschutz zusammen denken.“ Hanna Simons, Programmleiterin beim WWF Österreich, formuliert es so: „Eine intakte Natur ist das beste Bollwerk gegen neue Infektionskrankheiten, die sich von Tieren auf Menschen übertragen. Daher muss die Politik die ökologische Pandemie-Vorsorge massiv verbessern.“
Die künstliche Intelligenz – dein Freund und Helfer
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Ole Wintermann
Viele Erwerbstätige leiden unter der fortschreitenden Verdichtung der Arbeit, die sich durch die Digitalisierung von Arbeitsabläufen ergeben hat. Sehr häufig fällt es diesen Menschen dann schwer, die Signale des eigenen Körpers wahrzunehmen und achtsamer gegenüber sich selbst zu sein. Forscher des MIT entwickeln zurzeit die erste KI, die anhand der Beobachtung von Biomarkern fähig ist, geistige Ermüdung, die dann die Arbeitsproduktivität direkt sinken lässt, zu erkennen.
Die Forscher haben sich, da stets nur über die “Verlässlichkeit” von Maschinen und Code gesprochen wird, gefragt:
„What if the machine works perfectly, but the human is struggling? (…) What we’re doing is looking at the flip side, where the machine is monitoring and enhancing (…) the human“
Anhand von Video- und Audioaufnahmen und der Beobachtung von Biomarkern, die neurologisch und psychologisch gedeutet werden können, erkennt die KI den Grad der geistigen (nicht der körperlichen!) Erschöpfung des Menschen und empfiehlt dann Interventionen.
Die Basis dafür bildet das vorherige Erstellen eines ganz speziellen persönlichen kognitiven Modells der zu beobachtenden Person, um dann Abweichungen von der Norm in einen Grad der geistigen Erschöpfung umzuwandeln. Herausfordernd ist – neben dem Erstellen des individuellen kognitiven Modells – im Moment noch zu erkennen, welche Interventionen bei welchen Menschen zu welchen Ergebnissen führen und wie diese Interventionen optimiert werden könnten.
Die weiteren Planungen sind ambitioniert und zeigen, in welcher Weise Menschen und KI zukünftig gemeinsame Teams bilden werden:
„An AI teammate could make the „ejection decision“ for a fighter pilot who has lost consciousness or the physical ability to eject themselves.“
Was können wir von den Covid-19-Impfstoffen erwarten?
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Hristio Boytchev
Dumme Frage, denkt man zuerst, denn es scheint doch klar: Wir wollen eine Impfung, die die Pandemie zum Stillstand bringt, so dass wir in eine neue Normalität zurückkehren können. Die Impfung sollte zudem schwere Krankheitsverläufe verhindern.
Aber so einfach ist es eben nicht. Wie komplex die Frage ist, beschreibt dieser Text sehr kompakt. Er ist für wissenschaftliches Publikum angedacht, für (sehr) Interessierte aber durchaus verständlich.
Die Kernpunkte für mich: Worauf Impfstoff-Kandidaten primär in den laufenden Studien getestet werden, ist eben nicht eine Unterdrückung der Infektiosität. Mindestziel in den Studien ist eine Verringerung von Covid-19-Fällen – ob leicht oder schwer, ob mehr oder weniger infektiös spielt erstmal keine Rolle. Die Fragen müssen dann extra geklärt werden, wahrscheinlich später. Auch eine andere Kernfrage – wie wirken die Impfstoffe bei den Risikopatient*innen (ältere Menschen oder solche mit Vorerkrankungen) – ist gar nicht so leicht zu beantworten und wird für manche Impfstoff-Kandidaten bei deren Einführung wohl gar nicht geklärt sein.
Als Hoffnungsschimmer bleibt die Tatsache, dass es ebenso viele verschiedene Impfstoffe in Entwicklung gibt, sodass eine Mischung davon hoffentlich die richtigen Eigenschaften haben wird.
Kurz und praktikabel: Ein Überblick, wie Covid sich ausbreitet
piqer:
Theresa Bäuerlein
Gerade sind wieder viele verwirrt und verunsichert wegen des kommenden Teilshutdowns und der Frage, ob er sich hätte verhindern lassen. Ich finde diesen Überblick hilfreich, der kurz und prägnant erklärt, wie sich das Coronavirus z. B. in Bars, Schulen und privaten Treffen verbreitet, was Masken, Lüftung und Abstand bewirken und was Rumbrüllen und Singen ausmachen. Ich habe zum Beispiel daraus gelernt, dass es sehr viel ausmachen kann, Treffen und Aufenthalte an öffentlichen Orten einfach kürzer zu halten.
Unter Taliban – seltene Einblicke ins neue/alte Afghanistan
piqer:
Dmitrij Kapitelman
Ungefähr 80 Prozent des afghanischen Staatsgebietes werden wieder von den Taliban kontrolliert. Das gigantische amerikanische Militär zieht geschlagen ab. Die Regierung in Kabul implodiert. In Doha laufen Friedensverhandlungen mit den selbsternannten Gotteskriegern – Kapitulationserklärung wäre auch eine mögliche Bezeichnung. Was ist in Afghanistan, was wird in Afghanistan sein?
Nach monatelangen Verhandlungen ist es ZEIT-Reportern gelungen, ein paar Tage mit den Taliban durch ihre Gebiete zu reisen und recherchieren zu dürfen. Das ist äußerst selten, weil es extrem gefährlich für westliche Journalisten ist. Die Taliban stellen ihnen auf Schritt und Tritt einen schneidigen jungen Mann aus ihrem Propagandastab zur Seite. Sie zeigen die halb zerbombten Gebäude, die sie erobert haben, die Erdlöcher, in denen die Kabuler Regierung „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ begangen habe, zeigen ihre neue Deutungsmacht. Präsentieren ihre Gerichte, ihre Verwaltung, ihre Kliniken, ihre Hühnchenstücke, ihre Siegesgewissheit. „Schaut euch in unserem Distrikt um. Redet mit den Menschen. Sie sind glücklich, weil wir uns an den Koran und die Sharia halten.“
Wenn die Reporter mal halbwegs unbeobachtet sind, in den schützend düsteren, stromlosen Nächten, reden sie auch mit den Menschen. Glücklich sind diese nicht. Diese Gesprächsprotokolle sind die stärksten Teile einer ohnehin sehr guten, sowohl bilderreichen als auch analytischen Reportage. Auch weil sie viel über das Scheitern des Westens erzählen. Die Fehler, die dazu geführt haben, dass die 2001 eigentlich schon geschlagenen Taliban nun wieder herrschen.