Fremde Federn

Coronavirus, Manager-Feudalismus, Mindesteinkommen

Diese Woche unter anderem in den Fremden Federn: Wie das Coronavirus die Verletzlichkeit moderner Lieferketten offenlegt, weshalb ausgerechnet ein Ölkonzern die „Wasserstoff-Revolution“ voranbringen will und warum der deutsche Sprachraum weniger „ökonomisiert“ ist.

Foto: Jojo Bombardo via Flickr (CC BY-ND 2.0)

In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.

Bremst das Corona-Virus das Tempo der Globalisierung?

piqer:
Ruprecht Polenz

In den letzten Jahrzehnten wurde die internationale Arbeitsteilung rund um den Globus immer weiter vorangetrieben. Zulieferer sind durch Lieferketten weltweit mit den Herstellern verbunden. Der Ausbruch des Corona-Virus in China hat die Verletzlichkeit dieser Lieferketten schlagartig offengelegt. Weil China inzwischen viel stärker in die Weltwirtschaft integriert ist als noch vor 30 Jahren, beeinträchtigen Produktionsausfälle durch chinesische Abschottungsmaßnahmen zur Eindämmung des Corona-Virus sofort Weiterverarbeitungsprozesse rund um den Globus.

Der empfohlene Artikel gibt nicht nur sachliche Informationen zum Verlauf der Corona-Pandemie, sondern setzt sich vor allem mit den wirtschaftlichen Auswirkungen auseinander, die mit der weltweiten Finanzkrise 2007 verglichen werden.

„Die Wirtschaft kann enormen Schaden davontragen – nicht durch das Virus selbst, aber durch unsere Angst davor“, sagt der renommierte Risikoforscher Gerd Gigerenzer vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin.

Die indirekte Gefahr des Coronavirus

piqer:
Emily Schultheis

Schon seit Wochen dominiert die Ausbreitung des Coronavirus die Schlagzeilen: Angesichts steigender Zahlen von bestätigten Fällen in Deutschland und Europa wird erwartet, dass sich die Situation noch weiter verschlechtern wird.

Die erste und größte Gefahr, die von dem Virus ausgeht, ist natürlich, dass viel mehr Leute infiziert werden und dass COVID-19 sich zu einer echten globalen Pandemie entwickelt. Aber dieser Artikel erkennt auch eine indirekte Gefahr: Der Virus könnte als weiterer Beweis für Anti-Globalisierungs-Kräfte dienen. Wir leben in einer immer stärker vernetzten Welt, in der Leute häufig reisen können und in der nationale Wirtschaften abhängig von anderen sind. Normalerweise werden diese Punkte als Vorteile gesehen; im Zusammenhang mit dem Coronavirus werden sie allerdings zu Nachteilen.

Manche Politiker in Parteien wie der AfD nutzten die Situation bereits, um die Regierung scharf zu kritisieren und die aktuelle Lage als Folge der offenen Grenzen zu stilisieren. Krisen, ob wirtschaftlich oder gesundheitlich, geben solchen Parteien und deren Wählern weitere Argumente dafür, dass ihr Weltbild das richtige ist.

Der Autor des Artikels zitiert den italienischen Soziologen Ilvo Diamanti, der diese Woche schrieb: „Die Welt hat keine unüberwindlichen Grenzen mehr.“ Um gegen den Virus zu kämpfen, sagte er, „müsste man sich selbst gegen die Welt verteidigen“ — was er als „größeres Risiko als den Coronavirus selbst“ sieht.

Auch in China wird über Datenschutz und ethische Fragen rund um KI diskutiert

piqer:
IE9 Magazin

China pumpt Milliarden, um bei der Entwicklung und beim Einsatz von Künstlicher Intelligenz an der Weltspitze zu stehen. Das dürfte den meisten bekannt sein. Aber woran Unternehmen und Forschungsinstitute – abseits von Überwachungstechnologie – genau arbeiten, wird in europäischen oder amerikanischen Medien seltener berichtet.

Der Oxford-Wissenschaftler Jeffrey Ding will das mit seinem Newsletter ChinAI ändern, mit dem er auch Übersetzungen von relevanten Artikeln aus chinesischen Tech-Medien oder wissenschaftlichen Publikationen liefert. Seine Motivation ist auch, einige China-Klischees, die die Lage zu sehr vereinfachen, aus den Köpfen zu bekommen.

Im 1E9-Interview erklärt er nicht nur, welche chinesischen Tech-Unternehmen man besonders beobachten sollte, und wo China im KI-Wettbewerb mit den USA gerade steht. Er weist auch darauf hin, dass in der Volksrepublik durchaus über ethische Fragen und Datenschutz diskutiert wird. Jeffrey Ding:

Menschen in China – von ganz normalen Internetnutzern über Datenschutzbeauftragte bis zu Philosophieprofessoren – beschäftigen sich durchaus mit den ethischen Fragen zur Künstlichen Intelligenz, auch in Bezug auf die Privatsphäre. Wir sollten dem Mythos, dass es in China keine Diskussion über KI-Ethik gibt, endlich ein Ende bereiten. Es ist vernünftig, Unterschiede in den chinesischen Vorstellungen von KI-Ethik oder dem Grad, in dem Privatsphäre für chinesische Verbraucher wichtig ist, hervorzuheben. Aber es ist wirklich entmenschlichend zu sagen, dass die Chinesen sich nicht um die Privatsphäre kümmern.

Der Kapitalismus, ein intellektuelles Artefakt ohne nennenswerte Resonanz in den Sprachräumen?

piqer:
Thomas Wahl

Der Autor beschreibt einen interessanten und radikalen Ansatz zur Analyse unserer Gesellschaft und unserer (Vor)Urteile sowie Ansichten darüber. Mit Hilfe von „Big Data“ stellt er die Frage: Stimmen unsere „Großen Erzählungen“ über unsere sozialen Umwelten mit unserer Kommunikation darüber überein?

In diesem Artikel wagen wir eine solche Einschätzung, indem wir einen tatsächlich großen Datensatz auf die Stimmigkeit der ihrerseits großen Erzählungen von der Säkularisierung, Ökonomisierung, Medialisierung und Politisierung von Gesellschaft prüfen. Dabei nutzen wir den Google Ngram Viewer, mit dessen Hilfe wir Zeitreihen-Diagramme für kombinierte Häufigkeiten von einschlägigen Stichwörtern im weltweit größten Online-Korpus, dem Google Books Korpus, erstellen und interpretieren. Am Ende der Untersuchung steht der Eindruck, dass gerade besonders trendige Gesellschaftstheorien Gefahr laufen, am Trend vorbei zu argumentieren.

Man nutzt Worthäufigkeiten, Wortnetze und die Präsenz von Autoren (z.B. Habermas vs. Luhmann)  im Google Ngram Viewer, um daraus Schlussfolgerungen für deren Stellung in der gedruckten Kommunikation zu ziehen. Dabei geht es um die Analyse von Begriffen, die die „funktionale Differenzierung“ unserer Gesellschaften in ihrer Entwicklungsgeschichte (1800-2000) widerspiegeln. Die Forscher gehen dabei von zehn Funktionssystemen aus, die für sie moderne Gesellschaftssysteme charakterisieren: Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Kunst, Religion, Recht, Sport, Gesundheit, Erziehung und Massenmedien.

Die methodische Herausforderung besteht demnach darin, jedem dieser Funktionssysteme stimmige Suchwörter zuzuordnen, die es erlauben, die Karrieren der Funktionssysteme im deutschen Sprachraum zwischen 1800 und 2000 nachzuvollziehen.

Was sind die Ergebnisse? Zunächst zeigt sich, dass bei der kombinierten Worthäufigkeit das Stichwort „Politik“ (mit den Suchbegriffen: politischen +Regierung +Staaten +Politik +Staat) bei weitem vorn liegt. Gefolgt von Recht, Wissenschaft, Religion, Erziehung und erst auf Platz sechs Wirtschaft (mit den Suchbegriffen: Wirtschaft +Kosten +wirtschaftlichen +Unternehmen +Geld). In den letzten etwa 30 Jahren liegt Wirtschaft jedoch unverändert hinter Politik und Wissenschaft auf Platz drei. Es zeigt sich also,

1. Dass sich der Bedeutungszuwachs der Wirtschaft offenbar nicht wie gemeinhin unterstellt im 19. Jahrhundert ereignet hat,

2. Dass der Bedeutungszuwachs der Politik mit dem der Wirtschaft im gleichen Verhältnis steht und letzteren in seiner absoluten Bedeutung bei Weitem überragt,

3. Dass selbst in den Zeiten einer relativen Prominenz der Wirtschaft eben doch die Wissenschaft und nicht die Wirtschaft das zweiwichtigste Funktionssystem im deutschen Sprachraum ist.

Die Wissenschaftler schließen daraus, dass der deutsche Sprachraum weniger als ökonomisiert zu beschreiben ist, als vielmehr durch „Politisierung“ charakterisiert wird. Das würde auch heißen:

Starke Definitionen des Kapitalismus als einer von der Ökonomie dominierten Gesellschaft können den deutschen Sprachraum demnach nicht adäquat beschreiben. Darüber hinaus scheinen auch Ideen von einer als „politische Ökonomie“ gedachten kapitalistischen Gesellschaft insofern unrecht zu tun, als dass hier die entscheidende Rolle der Wissenschaft unterschlagen wird.

Weitet man den Untersuchungszeitraum bis 2008 aus, dann sieht man im deutschen Sprachraum eine weitere Annäherung der Ergebnisse für Politik und Wirtschaft – in den anderen Sprachräumen jedoch nicht. Das kann verschiedenes bedeuten:

  • Der deutsche Sprachraum beschreitet hier einen „falschen“ Sonderweg
  • Der deutsche Sprachraum erfasst die Wirklichkeit (als einziger) besonders richtig
  • Deutschland entwickelte nach 1970 eine spezifische, kritische Kultur der Wirtschaftsanalyse in Bezug auf die Grenzen von Wirtschaft und Wachstum, die die Bedeutung der Wirtschaft im Sprachraum der Gesamtgesellschaft drastisch erhöht.

In jedem Fall sind die Studienergebnisse Grund und Basis für weiteres Nachdenken –  mit „skeptischer Distanz, theoretischer Selbstironie und methodischem Spieltrieb“. Also überhöhen wir hier zu Lande die Möglichkeiten von Politik ebenso wie die Gefahren der Wirtschaft? Unterschätzen wir die Funktion von Wissenschaft und Innovation?

Regulierungswunsch als Marketing-Stunt – Die Verlogenheit des Mark Zuckerberg

piqer:
Jörn Klare

Vor ein paar Wochen forderte Mark Zuckerberg, der Mehrheitseigner von Facebook, mehr staatliche Regulierung für große Technologie-Unternehmen. In einem Gastbeitrag für die FAS – Lesezeit knapp vier Minuten – erklärt Ex-Pirat Christopher Lauer, was davon zu halten ist.

Wir müssen uns Mark Zuckerberg also als einen Wirt vorstellen, in dessen Restaurant sich Nazis, Rechtsextreme und Verschwörungsideologen treffen, andere Gäste bedrohen und beleidigen, sich im Restaurant zu Straftaten verabreden, der aber, statt sich seines Hausrechts zu bedienen und die Idioten einfach rauszuschmeißen, mehr Regulierung fordert.

Erwähnt werden sollte hier noch, dass Facebook im US-amerikanischen Wahlkampf nach eigener Ankündigung auch verlogene Wahlwerbung zulassen wird, und dass das für den Konzern ein alles in allem 800 Millionen Dollar Geschäft werden könnte.

Das Wort Mehrheitseigner deutet es schon an, Zuckerberg könnte in seinem Unternehmen walten und schalten, wie er will, er macht es halt nicht.

Lesenswert.

Greenwashing wird nicht mehr reichen – Unternehmen und Klimapolitik

piqer:
Gunnar Sohn

Manager treibt die Angst vor klimapolitischen Aktionen wie bei Siemens um. Unternehmen seien auf Kampagnen von Umweltaktivisten nicht gut eingestellt, sagt Michael Diegelmann, Vorstand der Agentur Cometis. Es sei wichtiger denn je, „Imageschäden rascher zu erkennen und darauf zu reagieren“. Denn auch die Kapitalseite erhöht den Druck. „30 Billionen Dollar wurden bis Ende 2018 weltweit unter Berücksichtigung von Nachhaltigkeitskriterien investiert, Tendenz steigend, hat die Global Sustainable Investment Alliance errechnet. Zahllose Investoreninitiativen, vom Carbon Disclosure Project bis zur Climate Action 100+, haben sich gegründet. Das sichtbarste Zeichen für den Sinneswandel in der Finanzwelt ist die Kehrtwende von Larry Finks Blackrock“, schreibt der Spiegel.

Allerdings könne Fink im Moment gar nicht so klimafreundlich handeln, wie er redet, sein Geschäftsmodell hindert ihn daran. „Nur einen kleinen Teil des ihm anvertrauten Vermögens legt Blackrock aktiv an. Das meiste Geld fließt in Indexfonds, sogenannte ETFs (Exchange-Traded Funds), die Kursbarometer wie den Dax oder Dow Jones exakt nachbilden. Klimapolitisch sind sie blind. In Dax und Dow Jones enthalten sind auch Energieversorger, die Kohlekraftwerke betreiben, und Firmen aus anderen CO2-intensiven Branchen. Weder kann Blackrock diesen Firmen das Geld entziehen, noch hat der Konzern das Know-how, die Nachhaltigkeit zu bewerten“, führt der Spiegel weiter aus.

Der Kölner Vermögensverwalter Bert Flossbach hält die Flut von ESG-Produkten für gefährlichen Etikettenschwindel, bloß dem Opportunismus von Großinvestoren wie Blackrock geschuldet. Was Larry Fink betreibt, sei „green washing at its best“. Die Politik könne den Klimawandel am besten bekämpfen, indem sie wirksame Rahmenbedingungen setze, etwa den CO2- Verbrauch effektiver bepreise. Oder man geht den Weg von Frankreich: Es hat bereits 2017 als erstes Land in der EU ein Gesetz verabschiedet, das Unternehmen auch für Vergehen ihrer Zulieferer in Haftung nimmt – Wachsamkeitsgesetz heißt das Ganze. Wichtig ist wohl Druck von unten, also von der Kundschaft, und Druck von oben, also regulatorische Anforderungen. So geraten Unternehmen in eine Sandwich-Position und können sich nicht mehr mit Greenwashing herauswinden.

Wie ausgerechnet ein Ölkonzern die „Wasserstoff-Revolution“ voranbringen will

piqer:
Ralph Diermann

Fast 20Jahre ist es nun schon her, dass der US-Ökonom Jeremy Rifkin die „Wasserstoff-Revolution“ ausrief: Elektrolyse und Brennstoffzellen sollen die Macht der Energie- und Ölkonzerne brechen. Das werde die „Tür in ein neues Energiezeitalter aufstoßen“, schwärmte Rifkin. Dann wurde es jedoch für lange Zeit recht still um seine Vision – während derweil Windräder und Solaranlagen die Stromerzeugung revolutionierten.

Mit dem Fortschreiten der globalen Energiewende nähert sich die grüne Wasserstoff-Wirtschaft nun aber ihrem Durchbruch. Ironie der Geschichte: Es ist ausgerechnet ein Ölkonzern, der die von Rifkin beschworene Tür aufstoßen will – Shell plant, in den Niederlanden die weltweit mit Abstand größte Elektrolyse-Anlage für grünen Wasserstoff zu bauen. Das berichtet Katharina Witsch jetzt im Handelsblatt. Shell will den Wasserstoff mit Offshore-Windenergie koppeln. Die Elektrolyseure sollen zunächst am Festland entstehen; mittelfristig könnten sie auch direkt in den Windparks auf See errichtet werden.

Das Vorhaben ist u. a. deshalb so interessant, weil es den viel beschworenen Markthochlauf einleiten könnte. Nur mit solchen Großanlagen kann es gelingen, die Produktionskosten von grünem Wasserstoff und darauf basierender Energieträger, synthetische Kraftstoffe zum Beispiel, so weit zu senken, dass sie sich eines Tages am Markt behaupten können.

Steinkohle vs. Braunkohle: Die großen Stadtwerke wollen das Kohleausstiegsgesetz noch verändern

piqer:
Alexandra Endres

Am kommenden Donnerstag geht das Kohleausstiegsgesetz zur ersten Lesung in den Bundestag. Kurz zuvor hat Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier die Chefs der größten deutschen Stadtwerke, Kraftwerksbetreiber und Verbandschefs zum Steinkohlegipfel in sein Ministerium geladen.

Der Grund für das Treffen: Die kommunalen Stromversorger beklagen, dass der Kohleausstieg in der jetzt geplanten Form sie gegenüber den Betreibern von Braunkohlekraftwerken stark benachteilige.

Die Süddeutsche Zeitung schreibt:

Die Stadtwerke kritisieren den Kohleausstieg: Kommunale Kraftwerke drohen Milliarden an Wert zu verlieren.

Das zeichnete sich schon vor Wochen ab, als der Kabinettsentwurf zum Gesetz bekannt wurde. Damals twitterte beispielsweise Brigitte Knopf, Generalsekretärin des Mercator Instituts für Globale Gemeingüter und Klimawandel: Weil die Braunkohle langsamer vom Netz gehe als von der Kohlekommission empfohlen, müssten die Steinkohlekraftwerke entsprechend schneller abgeschaltet werden, falls man die ursprünglichen Emissionsziele noch erreichen wolle.

Die Betreiber der Steinkohlekraftwerke aber sind vor allem die Stadtwerke. Und deshalb befürchten die an Steinkohlekraftwerken beteiligten Kommunen nun hohe Verluste. So schreibt der Stromverband BDEW an den Minister: Noch vor wenigen Jahren seien „auf expliziten Wunsch der Politik hochmoderne Kraftwerke gebaut“ worden. Durch den jetzt geplanten früheren Ausstieg müssten sie jetzt mit hohen Wertberichtigungen rechnen.

Und mehrere Großstädte aus NRW schreiben an die Fraktionschefs von Union und SPD im Bundestag:

Mit den Plänen der Bundesregierung würden „Vermögenswerte im Umfang von über zehn Milliarden Euro vollständig entwertet“, kritisieren die Unterzeichner, zu denen die Oberbürgermeister von Dortmund, Essen, Bochum und Aachen zählen. Diese Städte sind große Miteigentümer von Steinkohlefirmen wie Steag oder Trianel.

(…) Und da Stadtwerke „eine besondere Verantwortung für die kommunalen Haushalte“ trügen, erschwere das geplante Ausstiegsgesetz Investitionen in die Energie- oder Verkehrswende vor Ort.

Die Zeitung für kommunale Wirtschaft schreibt dazu (kostenpflichtig): Auch nach dem Treffen mit Altmaier setze die Branche alles darauf, dass der Gesetzentwurf im Parlament noch zu ihren Gunsten verändert werde. Sie poche auf Investitionssicherheit.

Die EU verteilt Geld für die Energiewende – und so langsam wird klar, wer was bekommt

piqer:
Alexandra Endres

Just Transition, gerechter Übergang, ist so ein Schlagwort der europäischen Klimapolitik (und auch der Klimapolitik anderswo). Gemeint ist: Man will ja weg von fossilen Brennstoffen, also von Kohle, Öl und Gas. Aber zugleich sollen die Regionen, Branchen, Arbeitnehmer, die dadurch wirtschaftlichen Schaden erleiden, entschädigt werden. Das Geld dafür kommt auf EU-Ebene aus dem sogenannten Just Transition Fund.

Nun könnte man lange über die Frage streiten, was Gerechtigkeit im Zusammenhang mit dem Klimawandel überhaupt bedeutet, und welche Ziele eine in diesem Sinn gerechte Politik verfolgen müsste. Müsste man nicht vor allem die Menschen in weltweit besonders vom Klimawandel betroffenen Regionen entschädigen? Ist nicht die Tatsache, dass vor allem (zumindest bisher) die arme Länder des globalen Südens unter dem Klimawandel leiden, der von den wohlhabenden Industriestaaten verursacht wurde, eine viel größere Ungerechtigkeit als die verlorenen Arbeitsplätze zum Beispiel in den europäischen Kohleregionen?

Aber darum geht es natürlich nicht. Denn der Just Transition Fund ist vor allem auch ein politisches Instrument. Er soll innerhalb der EU die Länder von einer ehrgeizigen Klimapolitik überzeugen, die sich bisher noch dagegen sträuben. Zum Beispiel Polen, jenes Land, das zwar zugestimmt hat, dass die EU bis zum Jahr 2050 netto keine Treibhausgase mehr ausstoßen soll – aber sich selbst gern noch ein bisschen mehr Zeit gönnen will für den Abschied von der Kohle.

7,5 Milliarden Euro stellt die EU nach derzeitigem Stand für den Fonds bereit. Im Prinzip werden wohl alle Mitgliedsstaaten auf das Geld zugreifen können, aber die Auszahlung soll an bestimmte Kriterien geknüpft werden. Und die erfüllen nur bestimmte Regionen. Unter ihnen sind auch (ost-)deutsche:

Germany leads the way in terms of sheer number of areas that can be classed as just transition regions, with 18 territories mostly in the east of the country. The Bundesrepublik has been allocated a potential slice of funding worth €877 million.

According to the Commission’s economic report, around 18,000 direct jobs in lignite coal production are at risk because of climate policies, while 10,000 more indirect positions are facing the chop.

Polen könnte zwei Milliarden Euro erhalten, aber EU-Ratspräsident Charles Michel knüpft das an Bedingungen:

But Poland’s €2bn-strong piece of the Just Transition Fund pie is at risk, after European Council President Charles Michel made funding dependent on climate policy ambition.

Insgesamt soll das Geld nicht nur in Kohleregionen fließen, sondern auch in Gegenden mit Schwerindustrie, und es soll wohl auch zur Reinigung von kontaminierten Flächen genutzt werden.

Endgültig entschieden ist allerdings noch nichts:

EU leaders still have to agree on the overall long-term budget, after talks collapsed at a summit in Brussels last week. The JTF is not exempt from that discussion, although all signs point to its overall pot increasing if any changes are made.

Wirtschaft neu gedacht: Der Kopf ist rund usw.

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Anja C. Wagner

Es ist bekannt: Die wirtschaftswissenschaftlichen Institute an Hochschulen sind kaum divers aufgestellt. Die neoklassische Theorie ist hier weltweit führend. Und wer weiß, wie Seilschaften innerhalb solch geschlossener Systeme funktionieren, ahnt, wie schwierig es sein wird, diese kulturelle Hegemonie zu durchbrechen.

Nichtsdestotrotz gibt es einzelne kritische Forscher*innen, die sich zu einem Netzwerk zusammengeschlossen haben und sich letzthin in Berlin-Wedding austauschten:

Das Netzwerk Plurale Ökonomik hat seine Ursprünge in den frühen Nuller Jahren. Zunächst forderten die Gruppen eine „nicht-autistische“ Ökonomie, legten den Namen aber ab, um von Autismus betroffene Menschen nicht zu stigmatisieren. Seit der Finanzkrise ab 2008 fühlt sich das Netzwerk zusätzlich bestätigt. Der ökonomische Mainstream hatte die Krise nicht kommen sehen.

Der Name ist Programm: In dem Netzwerk wird Ökonomie plural gedacht. Dezentralisierung über Genossenschaften oder die Blockchain sind ein Thema, auch seien kleinere Banken ein besserer Garant gegen Krisen.

Der potenzielle Crash des Finanzsystems ist dabei ein gedanklicher Treiber, denn Krisen ermöglichen Neuausrichtungen. Dafür will man gewappnet sein. Und sehnt sie vielleicht auch ein wenig herbei angesichts des Aufstiegs radikaler Politiker*innen, die im Gefolge der neoliberalen Politik die Modernisierungsverlierer*innen einzusammeln versuchen. Auf den „Green New Deal“ hoffen dabei nicht alle, da dieser „nur der neueste Investitionsanreiz“ sei.

Es gibt also reichlich Dissens in der Halle unter der Erde. So wie es sich eine plurale Tagung nur wünschen kann.

Wenn Wirtschaftswissenschaftler streiten – oder: glaube niemals einem Ökonomen

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Thomas Wahl

Der Streit um Ursachen und Wirkungen bei den niedrigen Zinsen bis hin zu den Negativzinsen, ist ein Hauptstreitthema unter Ökonomen. Die Ansichten dazu sind vielfältig und widersprüchlich. So auch das aktuelle Streitgespräch zwischen Hans Werner Sinn, dem früheren Chef des Ifo-Instituts (und ausgewiesener Kritiker der Europäischen Zentralbank (EZB) sowie der Euro-Rettungspolitik) und Carl Christian von Weizsäcker, dessen Buch „Sparen und Investieren im 21. Jahrhundert“ gerade erschienen ist. Die Positionen reichen also von Sinns These der Enteignung der Sparer durch Mario Draghi bis hin zu der Meinung v. Weizsäckers:

„Wir werden immer wohlhabender und leben immer länger“, sagte Weizsäcker. Daraus leite sich das „Gesetz der wachsenden Zukunftsorientierung menschlichen Handelns“ ab, …… Mit dem Altern der Bevölkerung in den Industrieländern und dem wachsenden Wohlstand der Menschen, der es ihnen erlaube, intensiver für die Zukunft vorzusorgen, werde die Sparneigung so groß, dass die aus privaten Investitionen stammende Nachfrage nach Sparkapital nicht mitkomme. Hinzu kämen Veränderungen in der Wirtschaftsstruktur, beispielsweise weg von kapitalintensiver Schwerindustrie hin zu mehr Dienstleistungen. Das schwäche die Nachfrage nach Kapital.

Die Konsequenz wäre demnach eine expansivere Fiskalpolitik in Europa, also mehr Ausgaben durch höhere Staatsschulden. Wobei: „Natürlich soll nicht Italien seine Schulden erhöhen“, meint Weizsäcker, „sondern die Nordländer.“ Sinn widerspricht dem natürlich vehement. Schon das Vorhandensein von Grund und Boden, Immobilien und der Lagerung von Gütern spräche gegen einen langanhaltenden negativen Realzins. Vielmehr sind für ihn die Niedrigzinsen in Europa

 zu wesentlichen Teilen ein politökonomisches Phänomen. Dahinter stecke die „Dominanz der Schuldner bei der Zinsfestlegung“. Verschuldete Staaten hätten ein Interesse daran, dass die Zinsen nicht stiegen, und auch alle, die sich vor dem Platzen einer durch die niedrigen Zinsen hervorgerufenen Finanzblase fürchteten. „Das billige Geld ist wie eine Droge“, sagte Sinn. „Man will nicht mehr davon lassen.“

Die anschließende Diskussion variierte diese Themen noch ohne zu einer Einigung zu kommen. Als Schlusssatz könnte gelten: „Glauben sie nicht, was die Ökonomen sagen – hören Sie auf Ihr eigenes Herz und investieren Sie.“ Hier wäre ein preiswerter Zugang zum Artikel bei Blendle.

Umverteilung wirkt!

piqer:
Felix Schwenzel

2015 führte Dan Price, der Chef des Zahlungsdienstleisters Gravity, ein Mindesteinkommen von 70.000 Dollar für die 120 Mitarbeiter seiner Firma ein — und reduzierte sein eigenes Gehalt um eine Million Dollar.

Als er das Mindesteinkommen einführte, glaubte kaum einer an den Erfolg der Massnahme. Price verlor zwei seiner Führungskräfte („senior employees“), die der Überzeugung waren, dass der Gehaltssprung die Angestellten („junior employees“) zum Faulenzen animieren würde und der Firma Wettbewerbsnachteile bescheren würde.

Das Gegenteil trat ein.

The headcount has doubled and the value of payments that the company processes has gone from $3.8bn a year to $10.2bn.

But there are other metrics that Price is more proud of.

„Before the $70,000 minimum wage, we were having between zero and two babies born per year amongst the team,“ he says.

„And since the announcement – and it’s been only about four-and-a-half years – we’ve had more than 40 babies.“

More than 10% of the company have been able to buy their own home, in one of the US’s most expensive cities for renters. Before the figure was less than 1%.

Die Angestellten seien bereits vor dem Mindesteinkommen, bzw. vor ihren teils drastischen Gehaltserhöhungen zu harter Arbeit motiviert gewesen, aber ihnen etwas mehr finanzielle Freiheit zu geben, habe ihre Fähigkeiten und ihre Produktivität gesteigert, sagt Dan Price. Eine der Angestellten formuliert es so: „Man denkt nicht mehr, dass man zur Arbeit geht um Geld zu verdienen, sondern konzentriert sich mehr auf die Frage: »Wie kann ich bessere Arbeit liefern?«“

Dan Price ist allerdings schwer enttäuscht, dass sein frappierend effizientes Geschäftsmodell nicht mehr Nachahmer gefunden habe. Er habe eigentlich weitläufige, strukturelle Veränderungen erwartet, die aber ausblieben.

Die Geschichte zeigt hervorragend, wie verkorkst und verlogen unsere Vorstellung von Lohnarbeit ist. Kaum einer, auch in Europa, glaubt daran, dass Mindestlohn oder gar ein Grundeinkommen die Produktivität steigern würde und die Bauernregel, dass sich „Leistung lohnen müsse“ verkommt nicht nur in den USA zu pervers und unangemessen hohen Gehältern in den Vorstandsetagen.

Das erfolgreiche Experiment von Dan Price zeigt, dass es sich lohnt zu experimentieren und unsere Vorstellungen von Lohnarbeit aus der Gedankenwelt der frühen Industrialisierung zu befreien.

„Vielen Demokraten wäre Trump lieber als Sanders“ – Ein Interview zum US-amerikanischen Wahlkampf

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Jörn Klare

„Populismus bedeutet für mich, Respekt vor den Menschen zu haben, die Politik am demokratischen Willen der Bürger auszurichten und die Interessen der Mehrheit zu vertreten – also letztlich der Arbeiterklasse, da sie die demografisch zahlreichste Gruppe des Landes ist.“

Für das IPG Journal der Friedrich-Ebert-Stiftung interviewt dessen Leiter Nikolaos Gavalikis die US-Analystin Krystal Ball zur politischen Lage in den USA. Dabei geht es in knapp zehn Minuten Lesezeit um Obamas Verfehlungen, die Schwierigkeiten mit der Identitätspolitik und vor allem darum, warum das Establishment der Demokratischen Partei alles dran setzen wird, Bernie Sanders als Präsidentschaftskandidat zu verhindern.

Wie wäre es, wenn beide politischen Parteien in den USA nicht um die Zuneigung der Reichen wetteifern würden, sondern darum, die Interessen der Arbeiterklasse zu vertreten? Welche Art von Politik würde daraus entstehen?

Lesenswert.

Die Bullshit-Arbeitswelt

piqer:
Theresa Bäuerlein

Hast du David Graebers Essay „Bullshit Jobs“ gelesen? Wenn ja, wird dich dieser Artikel interessieren, der Graebers Gedanken weiter ausführt. Aber auch ohne Kenntnis des Essays ist dieser Artikel lesenswert.

Es geht um die Frage, wie es sein kann, dass immer mehr Menschen Tätigkeiten verrichten, die sie selbst und andere sinnlos finden – und die niemandem nützen, auch wenn sie manchmal hochbezahlt sind. Graeber glaubt, dass unsere Arbeitswelt Effizienz vorgaukelt, aber eigentlich eine Art „Manager-Feudalismus“ ist.

…a complex tangle of economics, organizational politics, tithes, and redistributions, which is motivated by the will to competitive status and local power. (Why do people employ doormen? Not because they’re cost-effective.) The difference between true feudalism and whatever is going on now—“managerial feudalism” is Graeber’s uncatchy phrase—is that, under true feudalism, professionals were responsible for their own schedules and methods.

Wenn man sie arbeiten lassen würde, wie sie wollten, würden Menschen nicht zu regelmäßigen Zeiten arbeiten, sondern in Schüben: Mal intensiv, mal gar nicht. Bei Jobs, die nicht im Büro stattfinden, ist das auch sofort einleuchtend. Ein Bauer, der jeden Tag von 9-17 Uhr arbeiten würde, wäre kein guter Bauer. Von den meisten von uns hingegen wird erwartet, dass sie jeden Moment ihrer Arbeitszeit aktiv arbeiten.

… the bullshit economy feeds itself. Workers cram in Netflix binges, online purchases, takeout meals, and yoga classes as rewards for yet another day of the demoralizing bullshit work that sustains such life styles. (Graeber’s frame is mostly urban and educated middle-class, which seems unobjectionable, since, one suspects, his readers are, too.).