Fremde Federn

COP, Technokratie, Armut

Diese Woche unter anderem in den Fremden Federn: Weshalb ein Öl-Mann die nächste Weltklimakonferenz leitet, wie Demokratien sterben und warum die Linke vor einer existenziellen Zerreißprobe steht.

Foto: Jojo Bombardo via Flickr (CC BY-ND 2.0)

In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.

Armut und Ungleichheit in Europa – ein Zahlenvergleich

piqer:
Thomas Wahl

Über Armut wird viel gesprochen und viel geklagt. Sie scheint immer mehr zuzunehmen, ebenso wie die Gerechtigkeit abnimmt. Aber was oft vergessen wird: zumindest in Europa reden wir dabei über relative Armut – also über Armuts- bzw. Wohlstandsniveaus gegenüber anderen Schichten und gegenüber anderen Ländern.

Im deutschen Diskurs hat man oft den Eindruck, dass es hierzulande besonders arg ist mit der Armutsgefährdung. Insofern lohnt ein Blick in die Statistik, hier zusammengestellt vom Institut der deutschen Wirtschaft (IWD). Es zeigt sich wenig überraschend, dass die Schwelle der Armutsgefährdung in der EU vom Wohnort abhängt. Denn die Schwellenwerte orientieren sich an den durchschnittlichen Einkommen des jeweiligen Landes. Als Einkommensarm gilt, wessen Nettoäquivalenzeinkommen unterhalb von 60 Prozent des mittleren Einkommens des jeweiligen Mitgliedsstaates liegt.

In Deutschland gilt ein Single nach EU-Definition als relativ einkommensarm, wenn er netto über weniger als 1.247 Euro im Monat verfügt. Eine Familie mit zwei Kindern unter 14 Jahren liegt mit einem Nettoeinkommen von weniger als 2.619 Euro unter der Armutsgefährdungsgrenze.

Die niedrigste Schwelle haben Rumänien (464 € bei Singles) und Bulgarien (501 €). Aber auch Ungarn liegt – für mich überraschend – erstaunlich niedrig bei 534 € im Monat für einen Single-Haushalt. Eine höhere Schwelle als Deutschland haben nur drei EU-Länder – Österreich (1.307 €), Niederlande (1.313 €) und Luxembourg (1.717 €). Mit diesen Schwellwerten lässt sich nun die sogenannte Armutsgefährdungsquote der Länder berechnen, also der Anteil der relativ einkommensarmen Menschen an der gesamten Bevölkerung. Im EU-Durchschnitt liegt diese Quote bei 16,8%, Deutschland liegt mit 16% leicht darunter.

 Auch Länder mit niedrigem Einkommensniveau können hier gut abschneiden. In der EU hat Tschechien die geringste relative Einkommensarmut (8,6%), Schlusslicht ist Lettland (23,4%).

Man kann auch subjektiv empfundene Armut erfragen, also die Prozentzahl der Bevölkerung, die gemäß Selbstauskunft große Schwierigkeiten hatte mit ihrem Geld auszukommen. Hier liegt Deutschland erstaunlich gut bei nur 4,6%, nur drei Nationen fühlen sich besser – Schweden (4,2%), Niederlande (4,0%), Finnland (3,8%). Schlusslicht ist mit Abstand Griechenland, wo sich 32% der Bevölkerung mit Geldschwierigkeiten sehen. Der Durchschnitt der EU liegt bei 11,3%.

Der realen Armut nähert man sich statistisch mit der Messung der Erfüllung von Grundbedürfnissen:

Nach EU-Definition liegt eine materielle Entbehrung vor, wenn drei von neun Grundbedürfnissen aus finanziellen Gründen nicht befriedigt werden können. Sind es vier, spricht man von erheblicher materieller Entbehrung. Zu den Grundbedürfnissen zählt etwa, die Wohnung angemessen heizen und die Miete rechtzeitig bezahlen zu können. Aber auch eine einwöchige Urlaubsreise oder ein eigenes Auto sollte das Budget zulassen. Besonders gut schneiden hier erneut die skandinavischen Länder ab. Vergleichsweise hoch ist der Anteil der Haushalte, in denen es am Nötigsten fehlt, in Bulgarien und Rumänien.

In Deutschland geben immerhin 9% der Menschen an, unter materiellen Entbehrungen zu leiden, 4,3% sprechen von erheblichen materiellen Entbehrungen. Verglichen mit dem EU-Durchschnitt (11,6% / 6,3%) zwar besser, aber sicher kein Niveau zum Ausruhen. Werfen wir einen Blick auf die Mindestlöhne in der EU:

Mit 13,05 Euro je Stunde war der Mindestlohn in Luxemburg zum 1.1.2022 EU-weit am höchsten, das Schlusslicht bildete Bulgarien mit umgerechnet 2 Euro. Berücksichtigt man die unterschiedliche Kaufkraft, also das, was die Beschäftigten in den einzelnen Ländern für ihren Lohn in den Geschäften bekommen, verringert sich das Gefälle zwar, bleibt aber deutlich: Kaufkraftbereinigt betrug der Mindestlohn zum Jahresbeginn in Bulgarien 3,41 Euro, in Luxemburg dagegen 9,09 Euro.

Wenn man die große Spreizung der Einkommensniveaus aber auch der daraus folgenden differierenden Armutsgeschichten innerhalb Europas sieht, fragt man sich unwillkürlich, wie daraus ein gemeinsamer Kontinent entstehen kann.

Ein Öl-Mann leitet die nächste Weltklimakonferenz

piqer:
Ralph Diermann

Wer die COP, die Weltklimakonferenzen der UN, leitet, hat großen Einfluss darauf, ob die Zusammenkünfte zum Erfolg führen. Mit kluger Verhandlungsführung können die Vorsitzenden Blockaden lösen, Allianzen initiieren und Druck auf widerspenstige Teilnehmer ausüben. Dass die Konferenz von Paris 2015 so erfolgreich war, wird auch dem Geschick des Vorsitzenden Laurent Fabius zugeschrieben.

Die nächste, Ende des Jahres in Dubai stattfindende Weltklimakonferenz leitet ein Viererteam aus den Vereinigten Arabischen Emiraten – darunter Ahmed al-Jaber, Chef des staatlichen Ölkonzerns ADNOC. Wer das ist und vor allem wofür er steht und was von ihm zu erwarten ist, beschreibt Mit-piqerin Leonie Sontheimer jetzt in der taz.

Al-Jaber verweist darauf, dass er neben seinem Öl-Job noch weitere Funktionen hat, unter anderem VAE-Sondergesandter für den Klimawandel sowie Vorsitzender des staatlichen Erneuerbare-Energien-Unternehmen Masdar, das er 2006 auch mitgegründet hat. Was nichts daran ändert, dass er auf der COP wohl auch die Interessen der Fossilindustrie einbringen will: Leonie weist darauf hin, dass er auf der Bonner Auftaktkonferenz kürzlich von einem „Ausstieg aus den Emissionen“ statt über ein Ende für Öl, Kohle und Gas sprach. CCS, also das Abscheiden und Endlagern von emittiertem CO2, soll es richten.

Natürlich ist CCS unverzichtbar für das Erreichen der Pariser Klimaziele, zum Ausgleich nicht vermeidbarer Emissionen, etwa aus der Landwirtschaft und manchen Industriezweigen, – aber nicht, um die Lebensdauer fossiler Geschäftsmodelle zu verlängern.

Sommerhitze erhöht Emissionen wegen der Klimaanlagen

piqer:
Dominik Lenné

China und Indien als die beiden asiatischen Giganten sind mitten in der Entwicklung zu Industrienationen, wenn auch in unterschiedlicher Geschwindigkeit. Die erfreuliche Tatsache, dass sich damit eine Mittelschicht mit einem gewissen Wohlstand ausbildet, bedeutet aber auch, dass mehr und mehr Haushalte über Klimaanlagen verfügen – die sie auch fleißig laufen lassen, wenn es heiß wird.

Und es wird heiß. Als Resultat davon werden für den Sommer auf Vorrat rekordverdächtige Mengen von Kohle gefördert, um die Stromversorgung zu sichern.

Der Artikel beschreibt diesen Mechanismus sowie verschärfende Umstände: dass durch die Trockenheit Elektroenergie aus Wasserkraft in China weniger verfügbar wird. Er fokussiert sich auf Asien – aber natürlich sind die USA trotz ihrer erheblich geringeren Bevölkerungszahl hier ebenso wichtig, 2016 noch deutlich führend. Klimaanlagen verbraten rund 10 % der Weltstromerzeugung (Quelle).

Allerdings sinkt der Energieverbrauch in gemäßigter temperierten Gebieten im Winter, weil weniger geheizt werden muss, sodass der Gesamtverbrauch nicht ansteigt und das Lastprofil über das Jahr gleichmäßiger wird. In Regionen wie Südasien, in denen im Winter ohnehin kaum geheizt wird, gibt es keinen Ausgleich für den Anstieg im Sommer.

Das ist ein nicht zu unterschätzender Rückkopplungsmechanismus, der die Dekarbonisierung verzögert.

Wie die Linke zerbricht

piqer:
Jannis Brühl

In der geschätzten Zeitschrift Merkur analysiert der Historiker Thorsten Holzhauser den Wagenknecht-Konflikt in der Partei Die Linke und die Zerreißprobe, auf die sie durch den Streit um die Friedensdemos gestellt wird. Auf hohem analytischem Niveau beschreibt er die zwei historischen Säulen der Linken, die sich seit PDS-Zeiten herausgebildet haben: Der Konflikt zwischen Linksprogressiven und Linkskonservativen (ein Begriff, der gut auf die – teils ressentimentgeladenen – „Ostdeutschen aus der Mitte“ in der Partei passt, aber mittlerweile auch auf viele Westlinke) war schon in der Nachwendezeit unter Gregor Gysi und Andre Brie angelegt.

Mit dem Einsatz für einen Frieden zu Russlands Gunsten und der offenen Bereitschaft, mit Rechten und anderen Verschwörungsspinnern zusammenzugehen, hat die Wagenknecht-Gruppe aber Holzhauser zufolge zu hoch gepokert, zumindest, wenn es ihr Ziel ist, die Partei am Leben zu erhalten. Weil …

 … das langjährige Erfolgsrezept nicht mehr funktioniert … Das hat mit einem signifikanten Generationenwechsel zu tun. In den vergangenen Jahren sind … Vertreterinnen und Vertreter einer jüngeren Generation in Parteifunktionen und Parlamente gekommen, die ihr Linkssein mit einem dezidiert progressiven Gesellschaftsbild … paaren. Auch sie wollen eine gesellschaftliche Bewegung anführen, die dafür arbeitet, eine linke kulturelle Hegemonie zu erschaffen. Die »Bewegungslinken« und viele ihrer gemäßigteren Verbündeten vom Realo-Flügel sind aber nicht mehr bereit, dafür konservative und nationalistische Positionen zu dulden

Der Text macht einem bewusst, dass der schwächsten Bundestagspartei eine wirklich existenzielle Zeit bevorsteht.

Wie Demokratien sterben

piqer:
Thomas Wahl

Demokratien können untergehen wie jedes andere politische System auch. Dass wir Demokratie für die beste Form der Politik halten, ändert daran nichts. Und die Statistik zeigt: Die Zahl der Demokratien geht tatsächlich seit einigen Jahren wieder zurück. Bis Ende des 18. Jh. gab es weltweit noch keine Demokratien. Im 19. Jh. breiteten sich mit Kapitalismus und Wohlstand zunehmend Wahldemokratien aus. Im 20. Jh. kamen die liberalen Demokratien hinzu.

Den Daten zufolge ist die Welt heute etwa gleichmäßig in Autokratien und Demokratien aufgeteilt. Die meisten Nicht-Demokratien sind Wahl-Autokratien. Und mehr als ein Drittel aller Demokratien haben die zusätzlichen Individual- und Minderheitenrechte, die liberale Demokratien auszeichnen.

Gerade Letztere scheinen aber seit einiger Zeit besonders bedroht. In EUROZINE analysiert John Keane verschiedene Wege, auf denen Demokratien sterben können. Er hat völlig recht, wenn er sagt, dass es nicht der plötzliche Tod sei, der die größte Gefahr darstellt, auch wenn man sehr viele Beispiele für schnelle Zusammenbrüche finden kann.

Die Wahrheit ist, dass die Demokratie auf verschiedene Weise und in unterschiedlichem Tempo zerstört werden kann. Die langsamste von ihnen – die Umweltzerstörung – ist eine Folge des anthropozentrischen Ideals, das der Demokratie selbst zugrunde liegt.

Nun haben bisher Umweltzerstörungen schon viele Kulturen und politische Systeme zu Fall gebracht. Ich glaube auch nicht, dass der gegenwärtige Schwund demokratischer Staaten mit dem Klimawandel und der Umweltzerstörung direkt gekoppelt ist. Eigentlich müssten Demokratien, wenn sie das bessere Modell sind, hier ihre Stärke beweisen.

Es ist, wie Keane schreibt, eine lange bekannte Tatsache,

dass der Tod demokratischer Institutionen durch allmähliche Einschnitte häufiger vorkommt, als von Katastrophisten angenommen wird. Dramen auf höchster Ebene, die sich sehr lebhaft und furios entfalten, spiegeln nur einen der Rhythmen der Demokratien wider. Es stellt sich heraus, dass der Tod der Demokratie sehr langsam erfolgen kann, durch langwierige, stetige Anhäufung von politischen Missständen auf hoher Ebene verbunden mit scharfen, riskanten Manövern.

Womit wir bei den „gradualistischen“ Interpretationen des Demokratiesterbens wären. Demokratien sind eigentlich Systeme, die sich immer am Rand der Stabilität bewegen. Die Unberechenbarkeit und Kreativität der politischen Akteure und die Komplexität der Gesellschaften führen zur Unvorhersehbarkeit der Ereignisse. Stabilität oder Untergang der Demokratie ist nie eine ausgemachte Sache.

Der Zufall kann die Demokratie retten: Ein Demagoge stirbt plötzlich, ein Erdbeben ereignet sich, eine Bank bricht zusammen, es gibt eine Kriegsniederlage; die Dinge können immer in mehr als eine Richtung gehen. Um Marx zu paraphrasieren: Demokratiemord geschieht, weil er von politischen Akteuren unter politischen Umständen gewählt wird, die sie nicht selbst gewählt haben. Von entscheidender Bedeutung, so das gradualistische Argument, sind die erbitterten Kämpfe zwischen politischen Kräften, die für die Aufrechterhaltung und/oder Reform eines demokratischen politischen Systems eintreten, und Saboteuren, denen sein Schicksal gleichgültig ist oder die sich aktiv nach seinem Sturz sehnen.

Ein Szenario läuft etwa so: Demokratisch gewählte Regierungen werden durch ungelöste Probleme geschwächt und zunehmend unpopulärer. Rücktrittsforderungen werden laut. Regierungsfeindliche Kräfte arbeiten heimlich an Putschplänen. Die illoyale Opposition wächst.

Es gibt wilde Gerüchte, Befürchtungen über ein militärisches Eingreifen von außen, Gerüchte über Verschwörungen, Straßenproteste, die gewalttätig werden. Angesichts der zunehmenden zivilen Unruhen werden Polizei, Geheimdienste und Armee unruhig. Die gewählte Regierung reagiert, indem sie sich selbst Notstandsbefugnisse einräumt, das Parlament auflöst, das Oberkommando des Militärs umbesetzt und eine Mediensperre verhängt. Die Lage spitzt sich zu. ….. Während die Regierung wankt, geht die Armee …. auf die Straße, um die Unruhen zu unterdrücken, und übernimmt die Kontrolle. Das Zeitlupendrama hält an. Die Demokratie wird in dem Grab beerdigt, das sie sich langsam selbst geschaufelt hat.

Eine andere Variante des Sterbens von Demokratien oder Demozid, wie es Keane nennt, geht von demokratisch gewählten populistischen Regierungen aus,  die Institutionen der konstitutionellen Demokratie strategisch manipulieren und arglistig zerstören. Der Artikel verweist auf aktuelle Fälle wie in Ungarn, Kasachstan, Serbien, Singapur und der Türkei, wo „Demokratie mit Hilfe von Stimmzetteln ebenso effektiv zerstört werden …. wie mit Kugeln“. Es dauert etwa zehn Jahre, bis solche populistischen, demagogischen Politspiele die Elemente der Demokratie wie freie und faire Wahlen, parlamentarische Integrität, unabhängige Gerichte, freie Medien und andere Institutionen überwinden.

Unbeteiligte Zuschauer finden die Dynamik zunächst rätselhaft, weil die Zombifizierung der verantwortlichen Regierung im Namen der Demokratie erfolgt. Das Ergebnis ist jedoch zutiefst antidemokratisch: ein typischer „gekaperter“ und korrumpierter „Mafia-Staat“ des 21. Jahrhunderts,

Die populistischen Tricks sind durchaus vielfältig. Nicht fehlen darf aber die „Große Erlösung“. Man verspricht „dem Volk“ sofortige Verbesserungen im täglichen Leben (und überhaupt). Sei es bei der Arbeitslosigkeit, der Rente, der Inflation, beim mangelhaften Verkehrssystem oder der schlechten Gesundheitsversorgung.

Die Potlatch-Politik blüht. Es kommt zu großzügigen materiellen Geschenken – wie im Monat vor den ungarischen Wahlen 2022, als Viktor Orbáns Regierung Berichten zufolge rund 3 % des BIP für Zahlungen an bestimmte Wähler ausgab, darunter hohe Prämien für 70 000 Angehörige von Armee und Polizei, Steuerrückerstattungen für fast zwei Millionen Arbeitnehmer und eine zusätzliche Monatsrente für 2,5 Millionen Rentner.

Ein Schelm, wer hier an Sondervermögen denkt, die eigentlich Schulden sind …

Der Artikel verweist dann auf die demokratische Bedeutung der Zivilgesellschaft, die seiner Meinung nach zu oft ignoriert oder als nachträglicher Einfall behandelt wird.

Betrachtet man die Demokratie als eine ganzheitliche Lebensform, so kann sie auf den „oberen Ebenen“ der Regierung nur dann dauerhaft funktionieren, wenn die Bürger „unten“ ihre Normen der Gleichheit, Freiheit, Solidarität und des Respekts vor sozialen Unterschieden in vollem Umfang leben. Die heutige Demokratie ist eine Monitordemokratie – regelmäßige Wahlen und eine Fülle von Kontrollorganen, die diejenigen, die die Macht ausüben, öffentlich hinterfragen, kontrollieren und einschränken. Normativ gesehen ist die Demokratie aber auch eine besondere Form der sozialen Interaktion und Selbstverwirklichung, in der sich Menschen aus verschiedenen Gesellschaftsschichten begegnen, sich auf Augenhöhe begegnen, zusammenarbeiten und Kompromisse schließen und sich im Allgemeinen als würdige Gleiche betrachten.“

Ein Schwall von allgemeinen Koffer-Begriffen, die wenig aussagen, in die jeder hineinlegen kann, was er will und die einen etwas ratlos zurücklassen. Er verbindet das mit eine ganzen Reihe idealisierender Annahmen und auch mit Schuldzuweisungen an den Kapitalismus und die Warenproduktion.

Demokratie bedeutet, Nein zu sagen zur unverschämten Arroganz gefühlloser Arbeitgeber, die Arbeitnehmer als bloße Ware misshandeln und ihnen das Recht verweigern, unabhängige Gewerkschaften zu bilden. Die Demokratie steht also im Widerspruch zum ungezügelten Kapitalismus, denn, wie Karl Polányi schon vor langer Zeit feststellte, führt die uneingeschränkte Kommerzialisierung des Menschen und seiner natürlichen Umgebung unweigerlich zur „Zerstörung der Gesellschaft“. Sowohl die Selbstverwaltung des Volkes als auch der Kapitalismus selbst erfordern funktionell den Schutz des gesellschaftlichen Lebens vor den Verwüstungen der Warenproduktion, des Warenaustauschs und des Konsums.

Ein gezielter „Rundumschlag“ – denn eigentlich muss Demokratie jede Arroganz neutralisieren, sei es nun die von Arbeitgebern, führenden Gewerkschaftern oder von Politikern. Und auch die Arroganz der Intellektuellen (etwa in der Zivilgesellschaft selbst) ist nicht ohne Gefahr. Und wer soll denn die Selbstverwaltung des Volkes schützen, wenn nicht das Volk selbst. Die Demokratie an sich ist ja kein Akteur, sondern ein nicht idealer Prozess, dessen Erfolg von der „Klugheit“ des Volkes abhängt. Ein Faktor, eine Voraussetzung, die „die Demokratie“ selbst nicht in der Hand hat. Demokratie ist nicht die Ansammlung allen Guten und Schönen – so sehr man es sich auch wünscht. Weitere Voraussetzungen sind funktionierende Institutionen und Wohlstand, d. h. auch eine florierende Wirtschaft. Ich kenne jedenfalls keine arme Demokratie.

Bleibt die Frage, wie sich Demokratien in schwierigen, gar katastrophalen Situationen bewähren? Keane geht von antidemokratischen Auswirkungen der Verwüstung unseres Planeten aus.

Überschwemmungen, Brände, Seuchen und extreme Dürren sind schlecht für die Demokratie, weil die Bürger verletzt werden und sterben ….

Nun sind solche Unglücke erst einmal schlecht für die Menschen, Demokratien müssen sich hier bewähren. Demokratien scheinen aber für Keane nur funktionieren zu können, wenn sie (von wem auch immer gehalten, wie auch immer gesteuert) in gesicherten und stabilen Umgebungen „leben“. Demokratien wären also nicht resilient gegenüber internen oder externen Schocks? Dann werden sie nicht überleben. Und so fragt ein kritischer Antwortartikel (auch auf EUROZINE) unter der Überschrift „Blutlose Demokratie? Eine Antwort auf John Keane“:

Bietet die Demokratie irgendeine – wenn auch nur partielle – Lösung für ökologische Herausforderungen, die von Natur aus global, nicht nur national, geschweige denn lokal sind? Oder ist die moderne Demokratie als eine manchmal schwerfällige, ja selbstzerstörerische Form der kollektiven Selbstverwaltung selbst eine Ursache für unsere offensichtliche Unfähigkeit, das Schicksal der Erde rechtzeitig anzugehen?

Die Beantwortung solcher Fragen hängt natürlich davon ab, wie wir die Demokratie definieren wollen. Keane definiert Demokratie so, als sei sie die Inkarnation alles Guten und Schönen, die „mit den Tugenden der Mäßigung und der Kenntnis der eigenen Grenzen vereinbar ist“.

Oder, wie Keane es ausdrückt: Demokratie ist Zärtlichkeit mit Kindern, Respekt vor Frauen und das Recht, anders zu sein. Demokratie ist Demut“.

Kaenes Analyse, wie Demokratien sterben, ist für mich interessant, bei der Einschätzung seines Demokratiebegriffes würde ich der Antwort von James Miller folgen.

Unnötig zu sagen, dass groß angelegte moderne Demokratien, die um repräsentative Institutionen herum gebaut sind, dazu neigen, jeden zu frustrieren, der hofft, eine direktere Rolle bei der politischen Entscheidungsfindung zu spielen, was das implizite Versprechen der Demokratie als Idee, Fantasie und tatsächlich existierende Regierungsform ist. Infolgedessen ist das demokratische Projekt in der modernen Welt von Natur aus instabil. Frustriert in der Praxis führt das Versprechen der Volksmacht immer wieder zu neuen Bemühungen, die kollektive Macht eines Volkes neu zu behaupten, manchmal durch Aufruhr und Aufstände.

Beide Artikel zusammen sind hoch spannend.

Rückkehr in Londoner Büros – Technokratie statt Kultur

piqer:
Ole Wintermann

Die Sunday Times gibt in diesem Beitrag einen Überblick über den Stand der Rückkehrer in die Büros der Londoner Finanzunternehmen nach Beendigung aller Corona-Maßnahmen.

Ein zentraler Hebel für die oberste Führungsetage, die Menschen zurück in die Büros zu bekommen, ist die Verknüpfung der Anwesenheitsquoten der Teams mit der Höhe der Gehaltsboni der Führungskräfte. Bei der Lektüre des Textes könnte man zu dem Schluss gelangen, dass es eine Debatte über die #ZukunftderArbeit nie gegeben hätte. Technokratie-Denken dominiert die internen Unternehmenspolitiken zum hybriden Arbeiten. So bringt das folgende Zitat das undurchdachte Vorgehen der Führungskräfte sehr gut auf den Punkt, zeigt es doch den offensichtlichen Widerspruch in der Argumentation:

“We’re not asking people to come in because of productivity. We’re asking people to come in because we believe that when you have people together, that’s when the whole is greater than the sum of the parts.“

Am Ende geht es bei den genannten Beispiel-Unternehmen letztlich stets nur um das Prinzip der Anwesenheit; was nicht im Text steht, aber letztlich dahintersteht, ist die Machtausübung darüber, wo Menschen arbeiten sollen, die Vorstellung, eine übergeordnete Person könne am ehesten beurteilen, wie und wo mündigen Menschen arbeiten sollten. Sie werden ihres Aufenthaltsbestimmungsrechts bei der Ausübung ihrer Arbeit enthoben.

Solange Unternehmen nicht demokratischer organisiert sind, wird sich an dieser Machtfrage nichts ändern.