Fremde Federn

CO2-Preise, Schlüsseltechnologien, Identitätspolitik

Diese Woche unter anderem in den Fremden Federn:  Was eigentlich eine „Schlüsseltechnologie“ ist, wie Daten-, Klima- und Wirtschaftswissenschaftler im Kampf gegen den Klimawandel zusammenarbeiten und wieso sich so viele Menschen von der Plattformökonomie ausbeuten lassen.

Foto: Jojo Bombardo via Flickr (CC BY-ND 2.0)

In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.

Grundfragen der Industriepolitik: Was ist eigentlich eine Schlüsseltechnologie?

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Frank Lübberding

In diesem Artikel geht es um den Kern der industriepolitischen Debatte, die Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier mit einem Positionspapier begonnen hat. Ingo Arzt beschreibt den Zusammenbruch der deutschen Solarindustrie im Kontext der Diskussion über den Aufbau einer europäischen Batterieproduktion. Diese gilt als Schlüsseltechnologie beim Umbau der Automobilindustrie. Ein Drittel der Wertschöpfung entfällt auf die Batterien. Arzt schildert die ökonomische Logik so:

„Wegen der Elektroautos werden Batterien massenweise gebaut und dadurch billiger, was auch Speicher für Sonnenstrom günstiger macht. Das hilft der Solarenergie, die wiederum den grünen Strom für die Elektroautos liefert. Der Mix ergibt eine Revolution im Energie- und Transportsektor gleichzeitig. Will Europa dabei in der Batterietechnik ein Desaster wie bei den Solarzellen vermeiden, muss es dazulernen.“

Der Artikel bleibt aber unklar, wenn es um die industriepolitischen Konsequenzen geht. Niemand hat etwas gegen eine europäische Batteriefertigung, wenn sie wettbewerbsfähig sein sollte. Ohne diese Voraussetzung gibt es nur eine Alternative: Konkurs oder Subventionierung. Hier gibt es ein interessantes Beispiel aus der jüngeren Vergangenheit. Anfang der 1990er Jahre diskutierten wir ebenfalls über die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie. Damals galten Speicherchips als Schlüsseltechnologie der dritten industriellen Revolution. Und schon damals war die Frage, was darunter zu verstehen ist: Die Produktion der Chips selbst, oder die Spezialisierung auf Sektoren mit spezifischer Kompetenz?

Wer sich für die damalige Debatte interessiert, hier ein Literaturtipp: Drei Bundestagsausschüsse machten dazu am 21. September 1992 eine Experten-Anhörung. Sie wurde veröffentlicht in „Zur Sache 4/93. Themen parlamentarischer Beratung. Die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen informations- und kommunikationstechnischen Industrie.“ Das Buch ist zweifellos lehrreich auch für unsere heutige Debatte.

Was ein CO2-Preis leisten sollte und warum der Emissionshandel alleine nicht reicht

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Alexandra Endres

Den Ausstoß von CO2 mit einem Preis zu belegen – sei es durch eine Steuer oder durch Emissionszertifikate, die man kaufen und handeln müsste – nennt die Frankfurter Allgemeine Zeitung in diesem Beitrag den „Königsweg für den Klimaschutz“. Der Text ist interessant, weil er die aktuelle politische Debatte zum Anlass nimmt, einen Schritt zurückzutreten und noch einmal etwas grundsätzlicher auf das Thema zu schauen.

Vier wesentliche Punkte:

1. Warum finden Ökonomen (und Klimapolitiker) den CO2-Preis überhaupt gut? – Die Antwort ist fast banal: Weil er den Ausstoß von CO2 teurer macht und deshalb einschränkt, sofern er hoch genug ist. Dann lohnt es sich nämlich, Energie zu sparen oder auf Erneuerbare umzusteigen.

2. Es gibt doch schon den EU-Emissionshandel. Warum reicht der nicht? – Der Emissionshandel hat zwei Vorteile: Die EU legt fest, welche Menge an CO2 ausgestoßen werden darf, und gibt die entsprechende Menge an Zertifikaten aus. So erreicht sie ihre Ziele auf jeden Fall. Wie die Unternehmen es schaffen, nicht mehr CO2 auszustoßen, also in welche Technik sie z.B. investieren, ist nicht mehr Sorge der Politik, sondern regelt sich am Markt. Der Traum aller Liberalen! Aber der Emissionshandel reguliert nur Industrie und Energieversorger. Und Kritiker sagen, er schaffe keinen stabilen Investitionsrahmen.

3. Warum braucht man eine Steuer? – Es würde nicht funktionieren, den Emissionshandel einfach auf den Auto- und Gebäudesektor auszuweiten, denn CO2-Vermeidungskosten sind dort so hoch, dass es zunächst billiger wäre, sich freizukaufen. Dem Klima wäre nicht geholfen. Eine Steuer hingegen könnte man sektorspezifisch anpassen. Allerdings ist es schwierig, herauszufinden, wie hoch der Steuersatz für jeden Sektor sein müsste, um die Klimaziele zu erreichen.

4. Wie kann man soziale Härten vermeiden? – Indem man andere Energiesteuern senkt, etwa die Stromsteuer, und Geld an ärmere Haushalte auszahlt. Auch dieser Text nennt Schweden und die Schweiz als Vorbilder. Und Kanada.

Wie uns moderne Rechenleistung im Kampf gegen den Klimawandel unterstützen kann

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Ole Wintermann

Das MIT Technological Review hat im April eine Schwerpunktberichterstattung zum Klimawandel gestartet. Mit Blick auf “Ideen und Lösungen” fiel mir insbesondere der folgende Text auf, in dem es darum geht, die sozialen Folgekosten einer Tonne CO2-Emissionen möglichst genau zu erfassen.

Der Autor betont, dass es diese Ansätze zwar schon früher gegeben hat; das entscheidend Neue aber ist, dass erst mit Hilfe modernster Chip-Technologie die Darstellung von Klimamodellen in ihrer Wechselwirkung mit Modellen anderer Fachrichtungen möglich ist.

Bisher war man von Folgekosten in Höhe von $1 (Trump) bis zu $40 (Obama) je Tonne CO2 ausgegangen (in der Wissenschaft wurden bisher bis zu $400 angenommen). Wenn aber die Kosten in ihrer Abhängigkeit von Wechselwirkungen bekannt wären, könnte auf Basis eines Opportunitätskostenansatzes entschieden werden, welche Investitionen in welche Problemlösungen die besten “Renditen” ergeben würden.

Hierfür haben sich Data Scientists, Klimawissenschaftler und Ökonomen zusammengesetzt und Modelle erarbeitet, die einen Zusammenhang zwischen Veränderung der Temperatur, der Meeresspiegel und die Veränderung der Niederschläge auf der einen und Gewalt, Arbeitsproduktivität, Ernteerträge und Sterblichkeit auf der anderen Seite abbilden können; die Granularität der Modelle ermöglicht eine Darstellung der Ergebnisse in 24.000 verschiedenen Regionen weltweit. Erste Ergebnisse liegen vor:

„This data can then be plugged into increasingly sophisticated climate models to see what happens as the planet continues to warm. (…) So far, the researchers have found that climate change will kill far more people than once thought.“

(Vorübergehende) Profiteure der Erwärmung sind grundsätzlich bislang kältere Regionen; Hauptverlierer weltweit mit schätzungsweise 20 % aller sozialen Folgekosten wird Indien sein.

Trotz großer Rechenleistung wird mit konkreteren Zahlen erst in einigen Jahren zu rechnen zu sein. Hoffen wir, dass es bis dahin nicht zu spät ist.

Identität, Würde, Gleichheit und all die anderen schönen Ziele unserer Gesellschaft

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Thomas Wahl

Francis Fukuyama vertrat 1992 in seinem Buch „Das Ende der Geschichte“ die These, dass die Evolution menschlicher Gesellschaften mit dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus und dem Sieg des Liberalismus sozusagen in eine hegelsche Endphase getreten sei. Totalitäre Bewegungen hätten als Alternativen ausgedient. Mit den bürgerlichen Grundrechten, dem Rechtsstaat und der Marktwirtschaft hat der „Weltgeist“ quasi zu sich gefunden. Diese These nimmt er nun zurück, was auch von intellektueller Größe zeugt.

All of this went into reverse sometime in the mid to late 2000s. You had the rise of a couple of very self-confident and newly assertive authoritarian powers: Russia and China. But the most disturbing thing was the emergence of populism within established democracies – in fact, within the two most established democracies in the world: Britain and the US.

In dem Artikel diskutiert er zunächst verschiedene, mögliche Definitionen für Populismus. So unterscheidet er populistische Führer, die eine Wirtschafts- und Sozialpolitik verfolgen, die kurzfristig erfolgreich ist, aber langfristig ins Desaster führen muss (z. B. Venezuela) und von charismatischen Führern, die sich als direkte und alleinige Repräsentanten des ganzen Volkes ausgeben. Und all unsere demokratischen Institutionen stehen natürlich den großen Versprechungen im Wege. Als dritte Variante sieht er die Führer von Mehrheitsethnien in den Ländern (wie z. B. Orbán).

Er gibt dann verschiedene Erklärungen, von den negativen Folgen der Globalisierung über die schwächer werdenden Demokratien bis hin zu sich diversifizierenden Kulturen und Identitäten.

This was a shift in the way that parties of the left began to think about inequality. In the twentieth century, inequality was often seen – especially in Europe – through a Marxist lens, in which the big struggle was between capitalists and the proletariat. And in most developed societies in the twentieth century, the proletariat were white people.

Streitfall Huawei in Tschechien: Wie sollen die EU-Länder mit China umgehen?

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Simone Brunner

Es ist eine Diskussion, die derzeit in praktisch allen EU-Ländern geführt wird: Wer soll künftig den neuen Mobilfunkstandard 5G aufbauen? Der chinesische Telekommunikationsriese Huawei hat laut Experten in puncto Preis-Leistung die Nase vorne, aber wie groß sind die Sicherheitsbedenken gegen die Chinesen? Demnächst soll in vielen Ländern über den Aufbau des 5G-Netzes entschieden werden.

Eine Frage, die derzeit in Tschechien besonders heiß diskutiert wird. Erst unlängst hat die tschechische Nationale Behörde für IT-Sicherheit (NÚKIB) den Netzwerkausrüster Huawei als Sicherheitsrisiko eingestuft – nicht zuletzt aufgrund eines chinesischen Gesetzes, das Huawei im Falle des Falles verpflichten würde, Daten an die chinesischen Behörden weiterzugeben. Es ist ein Schlag gegen Huawei und die chinesische Wirtschaft, die sich doch zuletzt vor allem in Tschechien dank des Kuschelkurses des Präsidenten Miloš Zeman bester Kontakte erfreute. Doch seither gehen die Wogen hoch: Wie wird sich die Entscheidung der Behörde auswirken? Werden andere EU-Länder nachziehen? Und wie reagieren die Chinesen? Und ist die Diskussion um 5G Panikmache oder eine reale Sicherheitsgefahr – und sogar eine Frage der Geopolitik?

Der Fall Tschechien steht stellvertretend für eine zentrale Frage, die uns in Europa wohl alle beschäftigen wird: um unser wirtschaftliches und auch politisches Verhältnis zu China. „The U.S.-China Tech War Is Being Fought in Central Europe“, schreibt somit auch das US-Magazin The Atlantic in einem etwas älteren Artikel, der aber immer noch aktuell ist und die Trennlinien der tschechischen China-Politik beleuchtet, die so oder so ähnlich wohl auch in anderen EU-Ländern verlaufen.

Das Los der digitalen Tagelöhner – ein Heer armer Teufel?

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Marcus Ertle

Letzte Woche war 1. Mai, der Tag der Arbeit. Der Tag, an dem Gewerkschafter und andere Gerechtigkeitsbewegte auf die Straßen und Plätze gehen und für die Anliegen der Arbeitenden (um es ausnahmsweise gendergerecht zu formulieren) demonstrieren.

Das wirkt inzwischen ja auf viele etwas angestaubt. Die verstaubte rote Fahne der internationalen Solidarität. Die Appelle breitschultriger Betriebsratsvorsitzender. Ist das überhaupt noch zeitgemäß, auch und gerade für junge Menschen, die doch wahrscheinlich eh Start-up-Millionäre werden?

Vielleicht lässt sich die Frage einfacher beantworten, wenn wir zum Beispiel auf die Geschäftsmodelle all der großen und kleinen Player der Plattformökonomie von Amazon bis Deliveroo blicken. Die funktionieren nämlich nur deswegen so gut, weil sie die bei ihnen beschäftigten Crowdworker unter Zuhilfenahme permanenter digitaler Überwachung und Scheinselbständigkeit ausbeuten.

Aber wieso lassen sich so viele Menschen auf diese Art ausbeuten und was tun die Gewerkschaften, um deren Los zu verbessern? Wie aktuell ist der Satz von Karl Marx, dass die Arbeiter, wenn sie sich nicht organisieren, „lebenslang ein Heer armer Teufel“ bleiben werden?

Diesen Fragen geht die sehr hörenswerte Sendung des Deutschlandfunks nach.

Lernen lässt sich nicht digitalisieren – Wissensträger bleibt der Mensch

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Gabriela Westebbe

„Lernen ist ein sozialer Prozess. Wir können Wissen vermitteln über die Digitalisierung, aber wir lernen nicht durch die Digitalisierung.“

Im Rahmen des Digitalpakts werden Schulen in den nächsten 5 Jahren 5,5 Mrd. Euro zur Verfügung gestellt. Rein rechnerisch entfallen 137.000 Euro auf jede der 40.000 Schulen in Deutschland. Mit der Ausstattung von Hard- und Software ist es jedoch nicht getan. Schulen brauchen Konzepte, wie sie den Unterricht in Zukunft gestalten wollen.

Es geht jedoch nicht nur um eine neue Didaktik und neue Methoden, es geht vor allem um andere Inhalte und Ziele. Darüber spricht der OECD-Direktor und PISA-Studienverantwortliche Prof. Dr. Andreas Schleicher und arbeitet in seinem Vortrag heraus, wo die Probleme in Deutschland liegen.

„Die Digitalisierung hat unsere Welt, auch die Arbeitswelt verändert. Das „industrielle Modell“ funktioniert nicht mehr. Lernen und Arbeiten sind Eins geworden.“

Wissen ist heute ein ganz anderes Konstrukt. Wissen ist immer noch wichtig, aber Wissen alleine wird nicht mehr belohnt, denn da ist Google sehr viel besser. Was heute belohnt wird ist fächerübergreifendes Wissen und epistemisches Wissen, also das Verständnis von Zusammenhängen.

„Die Fundamente einer Disziplin müssen verstanden werden und nicht nur deren Facetten.“

Was heute auch von der Welt belohnt wird ist das Tun. Machen können setzt jedoch Selbstwirksamkeitsüberzeugung voraus.

„Der Kern von Erfolg ist die Selbstwirksamkeit, die Fähigkeit von Menschen den eigenen Weg zu gestalten und Verantwortung zu übernehmen. Das setzt ein Bildungssystem voraus, wo Kinder den Raum bekommen, Verantwortung zu übernehmen.“

Selbstständig denken und mit anderen zusammenarbeiten, das sind die Fähigkeiten, auf die es jetzt ankommt. Und das gilt auch für Lehrende. Und auch hier braucht es Raum dafür. Umso erschreckender, dass ¾ der Lehrkräfte ihre Arbeitsumgebung als wenig gestaltungsfreundlich empfinden. Das zeigt, wie viel ganz grundsätzlich angepackt werden muss.