In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.
Globalisation 4.0 – die „Telemigration“?
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Thomas Wahl
Das Weltwirtschaftsforum in Davos diskutierte dieses Jahr unter dem Motto „Globalisierung 4.0“. Baldwin analysiert in diesem Artikel auf der Webseite des Forums kurz die drei bisherigen Globalisierungen und charakterisiert die vierte Welle als Globalisierung, die es erlaubt Dienstleistungen weltweit zu handeln, ohne dass sich die Arbeitskräfte physisch bewegen müssen. Er nennt es „Telemigration“:
It is what will happen when digitech allows arbitrage of international wage differences without the physical movement of workers. While Globalization 1.0, 2.0 and 3.0 were mainly a concern of people who made things for a living (since globalization focused on things that we made), Globalization 4.0 is going to hit the service sector. Hundreds of millions of service-sector and professional workers in advanced economies will – for the first time ever – be exposed to the challenges and opportunities of globalization.
Diese weitere Transformation wird also in Form der Telemigration, wie von Baldwin schon früher beschrieben, wahrscheinlich auch die „gehobeneren“ Dienstleister wie Mediziner, Rechtsanwälte etc. treffen. Auch wenn diese Berufe hierzulande durch zertifizierte Abschlüsse teilweise gut geschützt erscheinen. Wenn ein Format wie das Weltwirtschaftsforum Sinn macht, dann den, dass die Diskussion globaler „Eliten“ Probleme frühzeitig identifiziert und das Management der weltumspannenden Innovationsprozesse verbessert, die Ergebnisse etwas optimiert. Seien wir optimistisch …
Staatsstreich der Konzerne
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Torsten Schubert
Warum soll das Volk herrschen? Es hat doch nichts. So oder ähnlich mögen Konzerne denken, die seit den 1970er Jahren faktisch die Vereinigten Staaten durch Parteispenden und Lobbyarbeit lenken. Das ganze Ausmaß der Entwicklung bis heute und seine Konsequenzen zeigt eine Dokumentation auf Arte sehr drastisch.
Die Macht der Wirtschaftseliten wächst ins Unermessliche, während der politische Einfluss der Bürger auf ein unbedeutendes Maß schrumpft. Ein Ungleichgewicht, das das Grundgerüst der Demokratie erschüttert und sich seit Donald Trumps Präsidentschaft radikal zuspitzt. Inzwischen versuchen etwa einflussreiche Lobbyisten den Kongress dazu zu bewegen, Finanzmarktregulierungen, die in Folge der Wirtschaftskrise 2007 etabliert wurden, aufzuweichen. Als „Staatsstreich in Zeitlupe“ hat der kanadische Essayist John Ralston Saul diesen politischen Einfluss der Konzerne bezeichnet.
Leben die US-Bürger also bereits in einer Postdemokratie? Wahlen scheinen keine große Rolle mehr zu spielen, weil sie manipuliert werden können und die Bürger haben längst das Vertrauen in Staat und Parteien verloren.
Der Dokumentarfilm deckt schonungslos die grotesken Auswüchse des Neoliberalismus auf und zeigt eindrücklich, wer die wahren Lenker des Staates sind.
„Kapitalismus kann das Klima retten“
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Ralph Diermann
Während viele Finanzinvestoren gerade mit Sorge auf die Weltwirtschaft blicken, hat ihr Kollege Jochen Wermuth richtig gute Laune: Energiewende und Klimaschutz böten beste Gelegenheiten für lukrative Investments – man müsse sie nur nutzen. So sei es mit Photovoltaik mittlerweile möglich, für zwei bis drei Cent pro Kilowattstunde Strom zu erzeugen. Rechnet man das auf den Energiegehalt von Rohöl um, entspreche das einem Preis von fünf US-Dollar pro Barrel, also ein Zwölftel der aktuellen Notierung. „Das ist für mich ein Freudenfest“, sagt Wermuth in einem Interview mit Bernhard Pötter von der taz.
Wermuth ist überzeugt, dass die Marktwirtschaft wunderbare Instrumente biete, den Klimawandel wirksam zu begrenzen. Die Politik könne sich darauf beschränken, mit einem die ökologischen und sozialen Kosten der Emissionen abbildenden CO2-Preis die richtigen Leitplanken zu setzen. Doch selbst wenn dies nicht geschehe, „kann der Kapitalismus das Klima retten“, so Wermuth.
Voraussetzung dafür sei allerdings, dass genug Investitionsmittel zur Verfügung stehen. Darin sieht er derzeit das größte Hindernis: Die weltweit größten Investoren – die Pensionskassen – seien von der DNA her konservativ und scheuten deshalb, im großen Stil in neue Segmente einzusteigen. Auf diese Weise führt Wermuth den Divestment-Gedanken weiter: Es reiche nicht aus, Kapital aus fossilen Industrien abzuziehen – es müsse gezielt dort investiert werden, wo es den Klimaschutz voranbringt.
Interessant auch, dass Wermuth vielen seiner Investoren-Kollegen bei diesen Themen komplette Ahnungslosigkeit attestiert. Schwer vorstellbar, dass Finanzinvestoren der Zusammenhang von Klimakrise und Investments unbekannt ist – schließlich reden wir schon seit Jahren über die „Carbon Bubble“. Aber gut, Wermuth hat offenbar andere Erfahrungen gemacht.
Und wer ist Jochen Wermuth? Der 49-Jährige hat 1999 seine eigene Vermögensverwaltung gegründet; die Wermuth Asset Management investiert ausschließlich in grüne Firmen.
Die unsichtbare Automatisierungs-Agenda der Davos-Elite
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Rico Grimm
New-York-Times-Journalist Kevin Roose hat auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos ein Thema erkannt, das sehr viele private Gesprächsrunden dominierte: Automatisierung. Je stärker eine Firma automatisiert ist, desto weniger Menschen muss sie beschäftigen. Rooses Beobachtung ist wichtig, weil stärkere Automatisierung die Ungleichheit verschärfen kann – und weil viele Wirtschaftsführer in öffentlichen Statements allein betonen, dass man sich um die Menschen kümmern müsste, die durch Technologie ihre Jobs verlieren. Allerdings muss Automatisierung nicht zwangsläufig zu Job-Verlusten führen. Dazu habe ich hier schon mehrere piqs veröffentlicht: Ein Fallbeispiel aus der Geschichte, ein Beispiel aus Schwaben, eine systematische Untersuchung zu Deutschland. Das endgültige Urteil werden wohl erst unsere Nachkommen fällen können, wir sollten uns aber – als Gesellschaft – auf das Schlimmste vorbereiten.
Warum die EU-Antwort auf den Brexit nicht genügt
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Eric Bonse
Wie soll die EU mit dem Brexit umgehen? Abwarten und Tee trinken, heißt das Motto in Brüssel und Berlin. Doch das dürfte nicht mehr ausreichen, nachdem der EU-Scheidungsvertrag im britischen Unterhaus mit Pauken und Trompeten durchgefallen ist. Es reicht auch nicht mehr aus, den Schwarzen Peter einfach nach London zu schieben, wie es die EU-Kommission immer noch versucht.
Denn auch die Europäer haben Fehler gemacht – viele sogar. Sie haben es schon vor dem Brexit-Referendum versäumt, auf die wachsende Malaise in und an der EU zu reagieren. Und nach dem verlorenen Volksentscheid haben sie zwar Reformen versprochen, doch keine geliefert. Nur der Ausbau der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik wurde vorangetrieben – Militarisierung statt Demokratisierung!
Dabei ist es genau das – mehr Demokratie, mehr Partizipation, mehr Solidarität – was die EU braucht, um zu überleben, meint der Politikwissenschaftler Jan Zielonka, der in Oxford lehrt. Den Brexit nur als rein britisches Problem zu sehen, greife viel zu kurz. Denn die EU funktioniere nicht nur für eine Mehrheit der Briten nicht mehr richtig. Auch in Frankreich und anderen Ländern wächst der Frust.
All das bedeutet nicht, dass die europäische Integration ein fehlgeleitetes Projekt wäre und wir zur Politik der Mauern und nationaler Herrlichkeit zurückkehren sollten. Es bedeutet, dass die EU fundamentaler Reformen bedarf, wenn wir das Vertrauen der Bürger zurückgewinnen wollen.
Doch die letzte große Reform kam mit dem Maastricht-Vertrag 1992. Seither ist die neoliberale DNA der EU nicht mehr verändert worden. Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron hat es zwar versucht – doch er ist an Kanzlerin Angela Merkel und anderen Status-quo-Politikern gescheitert. Ist die EU überhaupt noch reformierbar? Das ist die große Frage, die der Brexit aufwirft – egal, wie er ausgeht.
Zwei auf einen Schlag: Die CO2-Dividende verringert Ungleichheit und klimaschädliches Verhalten.
piqer:
Sebastian Brumm
Es ist unstrittig: Wir leben über unsere Verhältnisse und die einzige Lösung, unseren Ressourcenverbrauch auf ein nachhaltiges Maß zu reduzieren, liegt im Verzicht. Mit Blick auf die Dringlichkeit werden aktuell kurzfristige Lösungen diskutiert: Tempolimits, Diesel-Fahrverbote, Plastiktütenverbot. Vermeintlich auch alternativlos, denn Zeit, auf den Wertewandel unserer konsumgeprägten Gesellschaft zu warten, haben wir nicht mehr.
Vernachlässigt wird bei den Verbotslösungen häufig der Gerechtigkeitsaspekt. Denn, Hand aufs Herz, wie viele der Inhaber von Euro-4-Fahrzeugen können sich (auch mit „Umweltprämie“) einen Neuwagen leisten? Wieso sollen gerade die, die fünfmal im Jahr auf der Autobahn unterwegs sind, nun den kleinen Moment der Freiheit aufgeben? Wieso sollen gerade die, die sich die Bio-Gemüsekiste nicht leisten können, nun auch noch für Plastiktüten bezahlen?
Massive Schritte zur Rettung des Weltklimas einleiten und dabei die Masse der Bevölkerung als Unterstützer gewinnen – für Politiker und Ökonomen weltweit ein scheinbar unauflöslicher Widerspruch.
Klartext: Mit pauschalen Abgaben und Verboten verfestigen wir gerade jenen Zusammenhang, der den Kern der Ungerechtigkeit darstellt. Externe Effekte, also die Abwälzung von Kosten des eigenen Verhaltens auf alle Mitglieder der Gesellschaft, werden wir so nicht lösen.
Der Ausweg: klimaschädlichen Verbrauch viel stärker belasten, aber zeitgleich die Einnahmen direkt und pro Kopf an die Bevölkerung auszahlen.(…) Entscheidend (…) ist, dass die eingenommenen Milliardenbeträge nicht im allgemeinen Steuerbudget verschwinden. Das zur Lenkung des Verhaltens eingenommene Geld wird umgehend an die Verbraucher und gegebenenfalls auch an die Betriebe zurückverteilt. Dabei gewinnt jeder, dessen klimaschädliches Verhalten geringer als der Durchschnitt ist.
Klaus Willemsen gibt in seinem Artikel einen gelungenen Überblick zu Werdegang und aktueller politischer Bedeutung dieser Idee.
Die Tech-Ära ist vorüber
piqer:
Rico Grimm
Derek Thompsons Artikel im Atlantic gehören für mich immer zu den Highlights der Wirtschaftsberichterstattung in den USA – die erste Empfehlung also für ihn als Autor. Die zweite Empfehlung für diesen Text: Darin stellt Thompson eine recht radikale These auf. Das goldene Anfangs-Zeitalter der ganz großen Tech-Firmen sei vorüber.
Das mag einem angesichts der Größe und Geschwindigkeit von Google, Facebook und Co. absurd vorkommen, aber oft kündigt sich der Abstieg durch kleine Dinge an. Wichtig ist, was hier mit „Abstieg“ gemeint ist: Die Tech-Riesen wachsen immer langsamer. Die Investoren haben das schon erkannt; die Aktien dieser Firmen sind günstig wie selten zuvor (im Vergleich mit dem Gesamtmarkt). Laut Thompson hat dieser Abstieg drei Gründe:
1. „Tech died by conquering the world.“ – Weil immer mehr Firmen zu Tech-Firmen werden, macht es keinen Sinn, Tesla, Netflix und solche Firmen höher zu bewerten.
2. Die ganz großen Firmen haben ihre Märkte ausgeschöpft.
3. Das ist die spannendste Beobachtung: Tech bedeutet heute in der echten physischen Welt Dinge zu bewegen – und das ist teuer.
Reden wir uns wieder in eine Wirtschaftskrise hinein? Die Relevanz der narrativen Ökonomie
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Gunnar Sohn
Wie psychologische Faktoren zu Wirtschaftskrisen führen können: Eigentlich ein Phänomen, das seit der Weltwirtschaftskrise 1929 von vielen Wissenschaftlern gut analysiert wurde – man könnte auch von Krisen durch Ansteckung sprechen. Dennoch wird das in der tradierten Ökonomik unterschätzt. Zu den rühmlichen Ausnahmen zählt Wirtschaftsnobelpreisträger Robert Shiller, der im Interview mit dem Spiegel die Tragweite von Narrativen in der Ökonomie deutlich macht. So werde in Davos in diesem Jahr viel über den nächsten möglichen Abschwung gesprochen.
„Schon gegen Ende letzten Jahres schienen die Leute plötzlich in pessimistischeren Tönen zu reden, bevor sich die Lage wieder etwas beruhigte. Ich neige dazu, das wie eine Epidemie zu sehen: Negative Gedanken sind ansteckend. Die Ursachen sehe ich aber als Rätsel – so wie sich auch die unterschiedliche Stärke von Grippewellen schwer erklären lässt“, sagt Shiller.
In den Zwanzigerjahren begann das Narrativ von der technologisch bedingten Arbeitslosigkeit.
„Als sie dann aus möglicherweise anderen Gründen tatsächlich stieg, machten die Menschen die Technologie dafür verantwortlich, was zu sinkendem Konsum führte“, so Shiller.
Das Ergebnis kann man den Geschichtsbüchern entnehmen. Wirtschaftspolitiker und Zentralbanker sollten sich mit narrativer Ökonomie beschäftigen und auf Analysen von Wilhelm Röpke von 1993 zurückgreifen. Die Mangelhaftigkeit der wirtschaftlichen Informationen führe zu Vermutungen, zu gefühlsmäßig gefärbten Prognosen und letztlich zu Irrtümern aller Art. „Das Seelische“, so Röpke, spiele eine aktive Rolle bei der „Überwindung des toten Punktes in der Depression“, wenn es um die Vervielfältigung der Aufschwungkräfte geht.
Orbán-Kritiker über dunkle Wirtschaftspraktiken in Ungarn: „Das grenzt an Kriminalität“
piqer:
Keno Verseck
„Raiderstvo“, so genannte Raider-Attacken – erpresserische Unternehmens- und Vermögensübernahmen – sind eine gängige Praxis in Russland und anderen postsowjetischen Staaten. Dabei nehmen mafiotische Gruppen und mit ihnen kooperierende Sicherheits- und Justizbeamte Geschäftsleuten teilweise oder ganz deren Unternehmen und Vermögen ab, legalisiert durch Gerichtsentscheidungen.
Aus osteuropäischen Mitgliedsstaaten der EU ist so etwas bisher nur in etwas entfernterer Form und nur in wenigen Einzelfällen bekannt. Nun erhebt ein ungarischer Ökonom den Vorwurf, dass Orbán-nahe Kreise ebenfalls systematisch eine Art Raiderstvo praktizieren. Es ist ein schwerwiegender, bisher nicht bewiesener Vorwurf. Doch er wird nicht von irgendjemandem erhoben, sondern von dem konservativen Ökonomen und ehemaligem Nationalbankpräsidenten Péter Ákos Bod, der heute an der Budapester Corvinus-Universität lehrt.
Dass Unternehmer in Ungarn in vielerlei Hinsicht unter Druck gesetzt werden (beispielsweise nicht in regierungskritischen Medien zu annoncieren), ist bekannt und kann ich aus Recherchegesprächen ebenfalls bestätigen. Dass ihnen ihre Unternehmen durch „unabweisbare Angebote“ abgenommen werden, wie Bod in einem Interview mit dem österreichischen Standard behauptet, wäre eine neue Qualität. Der Ex-Nationalbankpräsident behauptet, dies in Gesprächen mit Geschäftsleuten immer wieder zu erfahren.
Auch wenn an der Integrität von Bod kein Zweifel besteht, bleibt zu prüfen, ob es stimmt oder nicht – ich empfehle das Interview mit Bod jedoch vor allem, weil er in einem Fünfeinhalb-Minuten-Video (Englisch mit deutschen Untertiteln) kurz und treffend Orbáns Wirtschaftspolitik analysiert und zusammenfasst, was an den vermeintlichen Erfolgen, die Ungarns Premier immer wieder propagiert, wahr ist und was falsch. Zugleich ist das neue Video-Interviewformat des Standard ein interessantes journalistisches Format für Analysen und Kommentare zu wichtigen Themen.