Fremde Federn

Cliodynamik, Generationenkonflikt, Beton-Aufstocker

Diese Woche unter anderem in den Fremden Federn: Ein Blick unter die Trümmer von Leave oder Remain, welche sozialen Probleme der Klimawandel mit sich bringt und warum die westlichen Länder auf einen handfesten Generationenkonflikt zusteuern.

Foto: Jojo Bombardo via Flickr (CC BY-ND 2.0)

In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.

Unter den Trümmern von Leave oder Remain

piqer:
Frank Lübberding

Beim Brexit sind ökonomische Analysen längst Auftragsarbeiten zur Stützung einer politischen Position. Entsprechend werden sie in dieser Schlacht um die Zukunft Britanniens kaum noch ernst genommen. Eine interessante Ausnahme ist der konservative Unterhausabgeordnete Greg Hands. Den seit der gestrigen Rede von Theresa May wieder frisch aus der Konserve gezogenen Vorschlag einer Zollunion unterzieht er in diesem Artikel einer substantiellen Kritik. Sie findet sich prägnant zusammengefasst in diesem Zitat:

„However, Labour’s policy appears to be now to allow others to negotiate these trade agreements with the US, but now the UK would have no influence at all at the table, and no access to EU papers (as a non-EU member state), even in a “secret reading room”!“

Eine Zollunion macht aus dieser Perspektive keinen ökonomischen und politischen Sinn. Es ist trotzdem die Position von Labour. Warum soll aber deren Vorsitzender Jeremy Corbyn als möglicher Premierminister nur noch Brüsseler Beschlüsse ratifizieren wollen? Corbyn gilt bekanntlich als Brexiteer. Entsprechend werden wir in seinen heutigen Gesprächen mit Theresa May eine seltsame Konstellation erleben. Frau May müsste eine Zollunion gegen ihre Fraktion durchsetzen, wie Hands heute klarstellte. Corbyn im Gegenzug das bisher von ihm verdammte Übergangsabkommen akzeptieren. Entsprechend groß ist das Misstrauen.

Beide suchen allerdings keine Lösung für den Brexit, sondern nach einer Lösung zur Eindämmung innerparteilicher Fliehkräfte. Einigkeit besteht zudem darin, die Teilnahme an der Europawahl auszuschließen. Beide haben sicher auch kein Interesse, das britische Parteiensystem unter den Trümmern von Leave oder Remain zu begraben. Hands sieht den Ausweg aus der parlamentarischen Selbstblockade in der zeitlichen Begrenzung des backstops für Nordirland. Damit wäre der Schwarze Peter wieder in Brüssel gelandet. Diese Aussicht könnte für ins Schlingern geratene Parteiführer durchaus eine gewisse Attraktivität haben.

Der Generationenkonflikt ist da

piqer:
Rico Grimm

Treten wir einen Schritt zurück von der EU-Urheberrechtsreform, vom Brexit, von den Debatten um die Schülerstreiks – was bleibt stehen? Was ist die große Gemeinsamkeit? Christian Stöcker beantwortet es so:

Es gibt gerade eine Reihe von krassen Beispielen dafür, wie die Älteren in vollem Bewusstsein gegen die Interessen der Jüngeren entscheiden, aus Rechthaberei, Gier, Rücksichtslosigkeit oder einer Mischung von allem.

Deutschland und auch die anderen westlichen Länder steuern auf einen handfesten Generationenkonflikt zu, bei dem zunehmend das Geburtsjahr ein gutes Anzeichen für die politischen Einstellungen sein kann. Wie absurd, wie unnötig dieser Konflikt im Grunde ist, zeigt diese Kolumne mit einer cleveren Analogie.

Wir sind zum Mond geflogen, wir können auch die Erderwärmung in den Griff bekommen

piqer:
Daniela Becker

Der Weltklimarat (IPCC) sagt in seinem Sonderbericht 2018, dass es noch möglich ist, die Erderwärmung auf 1,5 Grad Celsius zu begrenzen. Doch um dies zu erreichen, seien „beispiellose Veränderungen“ nötig bei der Stromerzeugung, der Fortbewegung, der Landwirtschaft, Industrieprozessen und der städtischen Infrastruktur – in den nächsten zehn Jahren.

Hoffnungslos?

Die BBC zeigt in diesem kurzen Film, was für dramatische gesellschaftliche Veränderungen und technologische Innovationen Menschen in sehr kurzen Zeiträumen bereits geschafft haben, wenn sie es nur wollen (oder müssen).

Das ist der erlebte Klimawandel – Kapstadt und die sozialen Folgen der Dürre

piqer:
Veit Nottebaum

Der Klimawandel wird seit Jahren porträtiert. Berühmte Motive sind abschmelzende Gletscher oder die Veränderungen in Ökosystemen. Mehr und mehr rücken aber auch die sozialen Aspekte in den Fokus der Medien. Es mehren sich nun die erlebbaren Beispiele für handfeste, das Leben der Menschen berührende Sachverhalte im direkten Zusammenhang mit den Folgen des Klimawandels. Hier ist es die Regelung, in Kapstadt die Trinkwassernutzung ausschließlich dem namensgebenden Zweck vorzubehalten und jegliche darüberhinaus gehende Nutzung (Toilette, Garten, Autowäsche) zu bestrafen.

Ohne die Diskussion neu zu eröffnen, ob eine Naturkatastrophe direkt vom Klimawandel ausgelöst wurde oder ’natürlich‘ ist, möchte ich auf diesen Video-Beitrag von Aeon aufmerksam machen. Er zeigt Beispiele dafür, wie Kapstadts Administration und seine Bewohner mit den Folgen der derzeitigen Dürre umgehen (müssen). Kapstadt ist ein Beispiel; aber die zunehmende Anzahl der Dürren weltweit (Brasilien, Kalifornien oder Australien) lässt Böses ahnen.

Der Beitrag dokumentiert kunstvoll mit ausgewählten Bildern und mit von den Betroffenen kommentierten Alltagssituationen, was der Klimawandel in diesem Teil der Welt mit einer Gesellschaft anzustellen vermag und verdeutlicht, dass sie mit ihren eigenen mitgebrachten, ererbten Lasten und Fähigkeiten reagiert. Da seien die eindrücklichen Bilder genannt oder das Zitat:

„At this point, the chance of reaching Day Zero is very likely. We can no longer ask people to stop wasting water. We now have to force them.“

Oder die schwarze Bevölkerung, die gegen die ungerechte Verteilung des Wassers protestiert. Oder der Golfer, der zynischerweise im fast ausgetrockneten Kanal, am Rand des grünen Courts, das Eisen schwingen „muss“ und kann.

Diese Art der Kurz-Beiträge dienen der Bewusstwerdung. Möge sie möglichst viele Menschen erreichen.

Aufstocken statt Neubauen: So kann neuer Wohnraum geschaffen werden

piqer:
Cornelia Daheim

In vielen Städten und Gemeinden gibt es Mangel an (besonders günstigem) Wohnraum und damit potenziell immensen Neubaubedarf, zugleich aber auch wenig Fläche und vor allem aus ökologischen Gründen das Ziel, möglichst wenig Fläche neu zu versiegeln. Eine aktuelle Studie hat nun einen möglichen Lösungsansatz genau durchgerechnet und sieht hier immenses Potenzial: Neuen Wohnraum schaffen, indem leerstehende „Nichtwohngebäude“ oder Flächen umgenutzt werden, oder auf bestehende Gebäude „aufgestockt wird“.

Die „Deutschland-Studie 2019“ zu den Bau-Reserven beziffert das Potenzial zusätzlicher Wohnungen, die durch Aufstockung und Umnutzung gewonnen werden können, bundesweit auf bis zu 2,7 Millionen Wohneinheiten – und damit deutlich mehr als die geplanten 1,5 Millionen.Allein 1,1 bis 1,5 Millionen Wohneinheiten könnten auf Gebäuden der 1950er- bis 1960er-Jahre entstehen,weitere 560.000 durch Aufstockung von Büro- und Verwaltungsgebäuden,400.000 auf eingeschossigen Geschäften,360.000 durch Nutzung von leerstehenden Büro- und Verwaltungsgebäuden und20.000 auf Parkhäusern.

Die Vorteile liegen auf der Hand, und der Artikel führt ebenso aktuelle Umsetzungsbeispiele an. Wer sich mehr für das Thema interessiert, sollte sich unbedingt die Studie selbst ansehen, denn hier wird auch benannt, was noch getan werden muss, damit das Potenzial genutzt werden kann (z. B. die Anpassung von baurechtlichen Vorgaben), und 20 aktuelle Umsetzungsbeispiele werden vorgestellt. Eine Vorgängerstudie hatte 2016 bereits das Potenzial der Aufstockung in bestehenden Wohngebäuden beziffert – auch das ist beeindruckend.

Wie UK die Kontrolle verlor

piqer:
Eric Bonse

Das EU-Austrittsabkommen ist zum dritten Mal im britischen Unterhaus durchgefallen. Dies ist nicht nur eine schallende Ohrfeige für Premierministerin Theresa May, die politisch am Ende scheint, sondern auch ein Alarmsignal für die EU. Sie bereitet sich nun auf einen „No Deal“ – also einen chaotischen Brexit – am 12. April vor. Sogar ein Sondergipfel in Brüssel ist schon geplant.

Doch wie konnte es überhaupt so weit kommen? Dieser Frage geht „The Atlantic“ nach. Zitat:

Much like Brexit itself, Britain’s loss of control wasn’t a moment, but a process. It began two years ago, when May embarked on a series of negotiations with the bloc during which her government, without a plan or, soon, a governing majority to support one, appeared at best unprepared and at worst unsure of what it was even asking for.

May sei ohne Plan in die Verhandlungen mit der EU gegangen und habe dann auch noch die Regierungsmehrheit verloren, so das Magazin. Das ist allerdings nur die halbe Wahrheit. May stieß sich auch am erbitterten Widerstand der Europäer gegen ihre Forderung, den Scheidungsvertrag gleichzeitig mit einem Freihandels- und Partnerschaftsabkommen zu verhandeln. Brüssel hat diverse Alternativen verbaut.

Doch im Ergebnis hat „The Atlantic“ recht: UK hat die Kontrolle verloren. Welch eine Ironie, wenn man bedenkt, dass die Brexiteers mit dem Versprechen angetreten waren, die Kontrolle zurückzugewinnen!

Erst kommt das Wachstum, dann die Götter

piqer:
Paul Boes

Cliodynamik, das ist eine etwas obskure, wissenschaftliche Disziplin, die irgendwo zwischen Geschichtswissenschaft, Makrosoziologie und Ökonometrie sitzt. Ihr Ziel ist es, grob formuliert, Hypothesen zur Dynamik von Zivilisationen zu testen, etwa deren Auf- und Abstieg, ihre Entwicklungsstufen, und so weiter. Und zwar will man das nicht für einzelne Zivilisationen tun, sondern im Fokus stehen genau diejenigen Aspekte, die sie alle gemeinsam haben.

Manchem wird die Sinnhaftigkeit eines solchen Unterfangens fraglich erscheinen, aus mehreren Gründen: Etwa, weil man meint, dass die wirklich hilfreichen Einsichten immer spezifisch zu einzelnen Zivilisation sind; oder, weil man meint, dass es solche gemeinsamen Aspekte gar nicht gibt; oder, ganz praktisch, weil es einfach nicht genug archäologische Daten gibt für das Formulieren akkurater Aussagen.

Ein kürzlich erschienener Artikel von Cliodynamikern im renommierten Journal Nature will nun den letzten beiden dieser drei Vorbehalte den Wind aus den Segeln nehmen. In dem Artikel „Complex societies precede moralizing gods throughout world history“ steht drin, was drauf steht: Das Team von Forschern aus Instituten in sechs Ländern präsentiert Ergebnisse, denen zufolge in Staaten (meine ungelenke Übersetzung für den Fachbegriff polity) Gottheiten oder übernatürliche Entitäten, die moralisches Fehlverhalten bestrafen, sich historisch immer erst dann etabliert haben, als diese Staaten in ihrer Entwicklung eine gewisse soziale Komplexität überschritten haben (typischerweise bei einer Bevölkerung von etwa einer Million).

Die Forscher möchten damit eine offene Frage beantworten, nämlich ob Staaten erst dann groß und komplex werden können, wenn solche Gottheiten bereits existieren, oder ob sich letztere erst im Zuge dieses Wachstums entwickeln (und dann die Grundlage bilden für kooperatives Verhalten in einer Gesellschaft, in der Familie und ähnlich kleine soziale Zellen diese Funktion nicht mehr ausreichend erfüllen können). Ihr Ergebnis bringt nun die erste dieser beiden Kausalketten in empirische Bedrängnis und leistet damit einen interessanten und wissenschaftlich relevanten Beitrag, obwohl es natürlich völlig offen lässt, wie genau sich solche Gottheiten von Fall zu Fall entwickelt haben.

Die Daten, auf deren Basis die Forscher diese Frage untersucht haben, sind das Ergebnis von Experten-Befragungen und reichen über einen Zeitraum von 10.000 Jahren, 30 verschiedenen Regionen, 414 Staaten und basieren auf 51 Maßen für soziale Komplexität und 4 Maßen für „supernatural enforcement of morality“. Neben den interessanten Ergebnissen wirft damit die schiere Größe dieses Datensatzes auch spannende methodologische Fragen auf.

Während die eigentliche Publikation hinter der akademischen Paywall sitzt, verlinkt der Piq auf den Blogeintrag eines der Autoren, der die Inhalte laiengerecht diskutiert und zusammenfasst.

Equal Pay Day für Ostdeutschland

piqer:
Rico Grimm

Wer im Osten arbeitet, hat im Vergleich zu den Menschen im Westen bis letzten Donnerstag umsonst gearbeitet. Denn auch 30 Jahre nach dem Mauerfall klafft noch immer eine Lohnlücke von 24 Prozent. In diesem Artikel geht Josa Mania-Schlegel der Sache auf den Grund: Er beschreibt in sieben Charts, woher die Unterschiede kommen, welche zwei ostdeutschen Unternehmen als einzige zu den 100 größten des Landes gehören, aber auch warum es einen Gender Pay Gap in Ostdeutschland zwar gibt, aber nicht so wie wir ihn kennen.

Liberal – illiberal – neoliberal, ist das wirklich die Erklärung für Osteuropas Misere?

piqer:
Thomas Wahl

Aleida Assmann antwortet auf Analysen von Ivan Krastev zum Zustand Osteuropas und des wachsenden Nationalismus dort. Aus meiner Sicht erreicht sie die Differenziertheit und Tiefgründigkeit des Bulgaren nicht. Eher wiederholt sie linksliberale Stereotype der Weltbeschreibung. Krastev ist recht ausführlich auf die historischen, demographischen und wirtschaftlichen Ursachen der sozialpsychologischen Probleme Osteuropas mit der Flüchtlingskrise 2015 eingegangen. Dass er dies als Schockerlebnis schildert, sollte man m.E. nicht so abbügeln:

Diese Beschreibung ist nicht unproblematisch; zum einen, weil sie die Kategorie der Traumatisierung stillschweigend von den Flüchtlingen auf die Aufnahmegesellschaft überträgt, und zum zweiten, weil Krastev Flüchtlinge, die auf Gefahren und existentielle Not reagieren, mit Terroristen gleichsetzt.

Erstens setzt er nicht gleich. Ob es traumatisierend war oder nicht, sollte zweitens nicht nach dem Motto entschieden werden, dass etwas nicht sein kann, weil es nicht sein darf. Auch die Idee von A. Assmann, es wäre besser gewesen, die Geschichte Europas anders zu erzählen, um nicht in Fatalismus zu verfallen, erstaunt mich. Entweder Krastev und Holmes haben die Historie richtig analysiert und es war so. Dann müssen sie das auch vertreten. Ihnen nahe zu legen, die Geschichte doch bitte anders zu formulieren fürs Volk, finde ich bedenklich.

Auch wurde die westliche „Normalität“ nicht in dem Sinne zum wichtigsten Ziel der politischen Revolution erhoben. Es war eine tiefe Sehnsucht in breiten Teilen des Volkes nach dem westlichen Lebensstandard und viel abstrakter vielleicht auch nach Demokratie. Ja, es gibt sehr viel „auf Unausgesprochenes …. und Bauchgefühle wie Aversionen, Animositäten und Ressentiments.“

Es stimmt, „was die ost- und mitteleuropäischen Dissidenten erkämpft und erhofft hatten, war eine liberale Demokratie“. Das Volk aber wollte Wohlstand (ohne den Demokratie selten funktioniert), den es auch in der EU nicht geschenkt gibt.