In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.
Das große Spiel um Chips, Taiwan und den möglichen Krieg
piqer:
Jannis Brühl
Innovation, Hochtechnologie-Standort, Arbeitsplätze – hinter diesen Schlagworten versteckt sich der womöglich härteste geopolitische Konflikt unserer Zeit – zumindest wenn es um die Chip-Produktion geht. Dieses Interview mit Buchautor Chris Miller, das der geschätzte Johannes Kuhn geführt hat, geht wirklich in die Tiefe (und ist das volle Transkript dieses DLF-Audio-Interviews). Miller hat das Buch „Der Chip-Krieg“ geschrieben und analysiert das Chip-Wettrennen des Westens mit China. Er nimmt den Leser mit in die Geschichte des Mikrochips, die Trennung von Produktion und Design durch den TSMC-Gründer Chang, ohnehin ist die Rolle Taiwans in diesem Spiel faszinierend. Sie muss in direktem Zusammenhang mit Spatenstichen für Chipfabriken in Magdeburg und Dresden gesehen werden:
Wenn wir Begriffe wie “Versorgungsprobleme” verwenden, benennen Sie das Problem, über das wir sprechen, nicht mit der nötigen Ehrlichkeit. Nämlich das Risiko, dass China Taiwan blockiert oder angreift. Politiker müssen verständlicherweise etwas vorsichtig sein, wenn sie über diese Fragen sprechen. Aber ich denke, in der Öffentlichkeit müssen wir ehrlich sagen, um was es geht. Es gibt nur ein Versorgungsproblem, das zählt: Und das ist das China-Risiko im Zusammenhang mit einem Angriff auf Taiwan, der hundertmal kostspieliger wäre als die Subventionen.
Das ist eine klare Ansage. Miller richtet sich auch gegen die These vom „Ende der Globalisierung“ beziehungsweise der „Deglobalisierung“:
Ich kann keine Anzeichen dafür sehen. Wenn sie sich die Schlagzeilen der letzten Monate ansehen, werden sie feststellen, dass Intel aus den USA eine Investition von 20 Milliarden Dollar in Deutschland angekündigt hat. TSMC in Taiwan hat gerade eine bedeutende Investition in Deutschland bekannt gegeben. Samsung aus Südkorea baut Chipfabriken in den USA. TSMC baut Chipfabriken in Japan…das sind einige der größten ausländischen Investitionsvereinbarungen, die je…angekündigt wurden. Was passiert, ist, dass es eine bedeutende Veränderung in der Art und Weise gibt, wie China sich zum Rest der Chipindustrie verhält
Was Miller erzählt, liest sich auf unangenehme Art prophetisch – und ist eine gute Grundlage für die kommenden Jahre. Die Chips sind schließlich nur der Anfang.
Die phänomenale Erfolgsgeschichte der Photovoltaik
piqer:
Ralph Diermann
Bei allem Frust über das Schneckentempo beim Klimaschutz tut es gut, hin und wieder auch mal Erfolgsgeschichten zu hören. Und die schreibt die Photovoltaik wie keine andere Technologie. Spiegel-Kolumnist Christian Stöcker hat kurz zusammengefasst, welche phänomenalen Fortschritte hier zuletzt zu verzeichnen waren.
Das beginnt beim Zubau in Deutschland: Bereits in den ersten acht Monaten dieses Jahres wurde so viel Photovoltaik neu installiert, wie es die Bundesregierung als Jahresziel gesetzt hatte. Wobei Stöcker gar nicht erst das irre Ausbautempo in China erwähnt – dort werden 2023 wohl rund 200 Gigawatt neu in Betrieb gehen, fast das Dreifache der bis dato insgesamt in Deutschland installierten Leistung.
Der starke Zubau ist auch ein Grund dafür, dass die Strompreise für Verbraucher nach dem Hoch im letzten Jahr hierzulande wieder stark gefallen sind. Mit einem dynamischen Stromtarif können sich Haushalte zu vielen Zeiten schon für 10 bis 20 Cent pro Kilowattstunde eindecken.
Auch technologisch ist viel passiert: Die heute gängigen Solarzellen sind mittlerweile so effizient, dass das physikalisch mögliche Maximum nicht mehr weit entfernt ist. Daher setzen Forscher auf alternative Materialien, mit denen sie permanent neue Wirkungsgrad-Rekorde erzielen. In spätestens fünf Jahren sind die neuen Zellen marktreif.
Die Erfolgsgeschichte der Photovoltaik soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass es etwa bei der Windenergie oder auch beim Wasserstoff viel zu langsam vorangeht. Aber immerhin: Sie zeigt, was möglich ist!
Stellt China das deutsche Wirtschafts- und Exportmodell infrage?
piqer:
Thomas Wahl
Die Konfrontation mit Russland verdeckt teilweise ein anderes Feld der globalen Auseinandersetzung – den wirtschaftlichen Wettbewerb mit China. Oder muss man gar von einem existentiellen Kampf um die wirtschaftliche Vorherrschaft sprechen?
Zuletzt stand dabei oft die Abhängigkeit hiesiger Unternehmen von chinesischen Rohstoffen und Vorleistungen im Mittelpunkt. Mindestens ebenso besorgniserregend ist allerdings, wie chinesische Unternehmen deutschen Firmen auf den globalen Märkten Konkurrenz machen – und das nicht zufällig: Die chinesische Regierung zielt mit ihrer Strategie „Made in China 2025“ darauf ab, durch massive Förderung die heimischen Unternehmen auch im Medium- und Hightech-Bereich zum Innovationsführer zu machen. Damit nimmt sie exakt jene Branchen ins Visier, in denen Deutschland bislang Spezialisierungsvorteile hat.
Das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) hat gerade am Beispiel des europäischen Marktes analysiert, wie sich dieser Wettbewerb zwischen China und Deutschland konkret entwickelt. Zusammenfassend kann man mit Blick auf die gesamten Importe der EU sagen: China gewinnt Marktanteile, Deutschland verliert welche.
Während sich Chinas Anteil an allen Warenimporten der EU seit 2005 annähernd verdoppelt hat und 2022 fast 9 Prozent betrug, verringerte sich der deutsche Anteil um fast 3 Prozentpunkte auf 12,5 Prozent.
Besonders besorgniserregend erscheint der Trend bei anspruchsvollen Industriegütern. Analysiert wurden acht Gruppen von technologieintensiven Produkten, bei denen deutsche Unternehmen viel Know-how besitzen. Zusammen machen diese Güter 61 Prozent der EU-Importe aus Deutschland aus.
Es handelt sich dabei um Kraftwagen und -teile, sonstige Fahrzeuge, Maschinen, Metallerzeugnisse, elektrische Anlagen, Chemie, Pharma sowie um Datenverarbeitungsgeräte, elektrische und optische Erzeugnisse. In zwei der acht Gruppen liegt China inzwischen vor Deutschland, in allen anderen schrumpft der deutsche Vorsprung kontinuierlich. Zum Beispiel war bei
elektrischen Ausrüstungen … der deutsche Anteil an den EU-Importen im Jahr 2005 mit gut 20 Prozent noch fast doppelt so hoch wie der chinesische – inzwischen kommt Deutschland nur noch auf 15,5, China jedoch auf 23,7 Prozent.
Besonders dramatisch für unseren Wirtschaftsstandort erscheint mir ein Feld zu sein, das in der Analyse des IW nicht explizit ausgewiesen wird – die Erneuerbaren Energien (EE). In diesem Segment der sogenannten „Clean Tech“ ist China laut NZZ
unangefochtener Weltmarktführer in allen Bereichen:
Im Bereich Photovoltaik sowie bei Batterien dominiert es mit einem Anteil von 75% den Weltmarkt mit riesigem Abstand. Auch im Bereich Windturbinen und Elektroautos stammt mehr als die Hälfte aller global verkauften Anlagen und Fahrzeuge aus China. Einerseits ist China der grösste Markt sowohl für Windkraft als auch Elektromobilität. Mit einem Anteil von 35% dominiert das Land inzwischen selbst im Export von Elektroautos.
Rund 60% der weltweiten Produktionskapazitäten für erneuerbaren Technologien stehen demnach laut IEA in China.
Europa hingegen ist mit Ausnahme von Windturbinen in allen Bereichen auf Importe angewiesen – jeweils zu mehr als einem Viertel in den Bereichen Elektroautos sowie Batterien und fast zu 100% bei Photovoltaikanlagen.
Aber wie Siemens-Gamesa-Chef Jochen Eickholt auf einer Podiumsdiskussion nüchtern für die deutsche Windkraftbranche formulierte: „Wir schreiben alle miteinander rote Zahlen.“
Schon heute enthalten Windkraftanlagen aus deutscher Produktion zu 60 bis 70 Prozent Komponenten aus China. Viele Guss- und Schmiedeteile sind in Europa gar nicht mehr zu bekommen. Künftig liefern die Asiaten womöglich gleich die ganze Turbine.
Wir steuern also auf eine Energiewende zu, deren Technik wir weitgehend nicht mehr selbst produzieren. Noch haben wir wohl das Geld, die Technik zu kaufen. Aber womit wollen wir das zukünftig bezahlen, wenn unser Wirtschaftsmodell wankt? Offensichtlich sind wir mit unseren Lohn- und sonstigen Kosten, mit unseren Strategien nicht mehr wettbewerbsfähig. Eine Vorreiterrolle bei wesentlichen Innovationen im technologischen Spitzenbereich spielen wir schon länger nicht mehr.
Aber auch China ist mit wirtschaftlichen Problemen konfrontiert. Das sich abschwächende Wirtschaftswachstum und die schnell steigenden Jugendarbeitslosigkeit untergräbt die unausgesprochene Übereinkunft zwischen kommunistischer Partei und Volk, wonach ein Mangel an politischer Freiheit durch stetig zunehmenden Wohlstand ausgeglichen werden soll. Das erhöht die geopolitischen Spannungen zwischen dem Westen und China.
Gerade aufgrund ihrer Weltanschauung kommen Xi und andere Spitzenpolitiker zum Schluss, dass jeder wirtschaftliche Rückschlag die Tür für liberale Ideen weiter öffnen und eine existenzielle Bedrohung für ihre Herrschaft darstellen könnte.
So fordert Peking zwar von Washington, sich zur «Koexistenz» zu bekennen – aber das mit ihrer Sicht auf die Auseinandersetzung:
Die Kommunistische Partei interpretiert Wettbewerb und Rivalität so, dass die eine oder die andere Seite zerstört wird. Und die Partei ist sich nicht sicher, wie gut ihre Aussichten wären.
Beide Seiten haben offensichtlich Schwierigkeiten, die Beziehungskonzeption des anderen zu verstehen und zu akzeptieren.
Dies setzt dem diplomatischen Dialog und den Erfolgsaussichten von Entspannungspolitik harte Grenzen. Selbst eine potenzielle Zusammenarbeit in Bereichen, wo gemeinsame Interesse offensichtlich sind – etwa beim Klimawandel, bei der Ernährungssicherheit oder der makroökonomischen Stabilität –, kommt in China heute schlecht an. Verhandlungen über Kooperation werden in der Regel als Mittel betrachtet, dem anderen seinen Willen aufzuzwingen.
Gleiches gilt natürlich auch für den fairen wirtschaftlichen Wettbewerb zwischen den Lagern. Wenn man die wirtschaftliche Globalisierung als eine „Win-lose-Dynamik“ und nicht als Win-Win“ Chance betrachtet, kommt es fast zwangsläufig zum Wirtschaftskrieg, zu Abschottung sowie dem Zusammenbruch etablierter Wertschöpfungsketten und arbeitsteiliger Spezialisierungen. Das wiederum heißt sinkende Stückzahlen bei steigenden Kosten, sinkende Produktivität und damit schrumpfender Wohlstand – für alle. Eine verrückte Situation, in der sich unsere Welt da hinein manövriert ….
Der Klimagipfel und seine fossilen PR-Berater
piqer:
Leonie Sontheimer
Ende November beginnt in Dubai die 28. UN-Klimakonferenz, die COP28. Als Anfang dieses Jahres bekannt wurde, wer Präsident der COP sein soll, gab es Aufruhr: Sultan Ahmed al-Jaber, CEO der staatseigenen Abu Dhabi National Oil Company (ADNOC). Unter al-Jabers Aufsicht hat ADNOC seine Öl- und Gasproduktion in einem Ausmaß ausgeweitet, das nicht mit dem Pariser Klimaziel vereinbar ist. Dieser Mann führt also nun die Verhandlungen in Dubai an.
Doch natürlich gibt es um einen COP-Präsidenten ein ganzes Team. Bereits im Februar berichtete Ben Stockton im Guardian, dass mindestens 12 Mitglieder des Präsidentschaftsteams direkt aus der fossilen Industrie kämen. Im Juni deckte der Guardian dann auf, dass ADNOC wohl die E-Mail-Kommunikation des COP28-Büros mitlesen konnte und bei der Antwort auf eine Medienanfrage beraten habe.
Diese Verstrickungen sind vielleicht wenig überraschend, trotzdem ein Skandal. Von daher macht Ben Stockton einen sehr wichtigen Job, indem er immer wieder neue Details zu diesen Verstrickungen veröffentlicht. Im aktuellen Artikel erklärt er, dass zwei PR-Experten von ADNOC auch das Präsidentschaftsteam der COP beraten:
The two Adnoc communications executives named in the leaked document – Philip Robinson and Paloma Berenguer – have a combined 28 years of experience in the fossil fuel industry, according to their LinkedIn accounts. They both previously worked for Shell before joining Adnoc.
Unter anderem sollen sie al-Jaber zu seiner Rede beim UN-Nachhaltigkeitsgipfel in New York letzte Woche beraten haben. Dort sprach der Sultan erneut von einem „phase-down“ (Runterfahren) aus den fossilen Brennstoffen. Dass wir eigentlich ein „phase-out“ brauchen, also das Ende für Öl, Kohle und Gas, wird in der Kommunikation von al-Jaber wohl nicht vorkommen. Tragisch!
Der Wohlfahrtsstaatkompromiss ist gekündigt (Vogl)
piqer:
Achim Engelberg
Es ist nicht ausgeschlossen, dass es das Ferment einer neuen Vorkriegszeit liefern wird.
Dieser Satz steht in Joseph Vogl bislang letzten Buch „Kapital und Ressentiment“ aus dem Jahr 2021, auf das ich in diesem piq hinwies.
Dass der Berliner Germanist, Philosoph und Medientheoretiker einer der klügsten Köpfe ist, wissen alle, die piqd lesen, sehen und hören. Eigentlich wollte ich hier seine Abschiedsvorlesung an der Humboldt-Universität posten, über die zum Beispiel die SZ von einem Vortrag mit der Intensität eines Pop-Konzerts schrieb. Da er sie zu einem Buch ausarbeitet, wie ich hörte, wird sie noch nicht publiziert. Aber seine Antworten auf die Fragen von Michael Hesse über gravierende Veränderungen und erstaunliche Kontinuitäten sind auch hochinteressant.
Über den Aufstieg der Rechtsextremen und der menschenfeindlichen Migrationsabwehr bemerkt er:
Ich habe das Ressentiment einen Basisaffekt kapitalistischer Gesellschaften genannt, aber vielleicht sollte man zunächst an manche Umstände erinnern, die nicht unbedingt Zufälle sind. Seit der Nachkriegszeit gab es in der alten Bundesrepublik ein rechtsextremes Wählerreservoir von ungefähr 20 Prozent, das man immer wieder aktivieren konnte. Und seit 1993 führen konservative Parteien regelmäßig Wahlkämpfe mit Ressentiments gegen Geflüchtete, Migranten, Ausländer – jüngst wurde wieder für die Abschaffung des Asylrechts plädiert. Solche und verwandte Ressentiments haben dann in den digitalen Netzwerken einen neuen Mobilisierungsschub erhalten, nicht zuletzt deshalb, weil das Geschäftsmodell der Plattformindustrie keine rechtliche Verantwortung für das dort gepostete Zeug kennt. Die bloße Meinung, das Meinungshafte ist zum Währungsstandard dieser Kommunikationssphären geworden.
Nach den großen Finanzzusammenbrüchen des vielgestaltigen Kapitalismus – also nach 1873, nach 1929 und dann nach 2008 – wuchsen die rechtsextremen Parteien. Gleichzeitig sind heute die Finanzmärkte
in einer Weise geordnet und reguliert, dass Vermögensungleichheit und die Umverteilung von unten nach oben garantiert bleiben.
Joseph Vogl sieht dadurch die Zukunft der Demokratie gefährdet – nicht nur in Deutschland.
Man hat den Wohlfahrtsstaatkompromiss, eine Folge aus den Desastern des 20. Jahrhunderts, gekündigt. Dieser Prozess hat sich in den letzten Jahren verstärkt. Für die Brexit-Kampagne etwa ging es darum, die Pflege der heimischen Finanzindustrie mit dem Abbau von Rechtsstaatlichkeit zu verknüpfen, wie man das in den gegenwärtigen Projekten beobachten kann: Verschärfungen im Polizei- und Demonstrationsrecht, im Asylrecht, Wahlrechtsreformen, Austritt aus der Europäischen Menschenrechtskonvention. Und der gegenwärtige Plattform- und Informationskapitalismus benötigt nach den Aussagen seiner Protagonisten vom alten Rechtsstaat nur noch Minimalgarantien, etwa für den Schutz des Eigentums und für die Freiheit des Kapitalverkehrs, nicht unbedingt aber Parlamente und repräsentative Demokratie. Alle sozialen und politischen Probleme werden besser technokratisch, von Privatunternehmen gelöst. Hier hat sich die liberale Phobie gegen den vorsorgenden Staat in die libertäre Feier des fürsorglichen Unternehmens verwandelt.
Das wird noch erschreckender, wenn man seine Fernsehgespräche aus den letzten Jahrzehnten noch mal hört und sieht. Oft lag er mit seinen scharfsinnigen Einsprüchen richtig. Diese Gespräche geben auch prächtige und tief blickenden Einblicke in die Kulturgeschichte des „Westens“: Hier findet man die mit Alexander Kluge auf der Webseite von dctp.tv
BullshitjobsGPT und die Psychologie der menschlichen Wirksamkeit
piqer:
René Walter
In einem Text im hervorragenden, auf künstliche Intelligenz fokussierten Summer Special des Magazins New Atlantis warnt Brian J. A. Boyd vor einer kommenden Sinnkrise durch die Automatisierung von Wissensarbeit im Servicesektor und den sogenannten „White Collar Jobs“, also Arbeit, für die man einen Business-Anzug trägt.
Viele Zeilen wurden bereits geschrieben über die Vernichtung von den in David Gräbers gleichnamigen Buch sogenannten „Bullshit Jobs„. Im Mai empfahl ich hier auf piqd einen Text des Science-Fiction-Autors Ted Chiang, der die Automatisierungspotenziale mit der Unternehmensberatung McKinsey verglich und passenderweise veröffentlichte Ökonomie-Professor Ethan Mollick eine Studie über den Einsatz von ChatGPT-4 in der Boston Consulting Group, die zeigte, dass Angestellte, die ChatGPT einsetzten, produktiver und schneller arbeiteten als Angestellte, die keine AI einsetzten und zwar in allen nachgemessenen Dimensionen.
David Karpf, Professor für Medienforschung, kommentiert die Studie ein wenig zynisch “Hey! I hear you think A.I. is a bullshit generator. Well, we gave a whole profession of bullshit generators access to A.I., and you’ll never believe how much more productive they became at generating bullshit! This is such a big deal for the Future of Work!” und fordert enthusiastische AI-Maximalisten auf, genauer über die gesellschaftlichen Auswirkungen dieser Automatisierungen nachzudenken.
Genau das hat Brian J. A. Boyd im von mir hier gepiqden Text getan und konstatiert nicht nur eine potenzielle Automatisierungswelle für Knowledge-Worker in allen Sektoren, sondern auch einen Verlust des menschlichen Gefühls für die Wirkungskraft der eigenen Handlungsfähigkeit – eine der essenziellen Erfahrungen des menschlichen Lebens: Als Mensch kann ich Pläne schmieden, in die Tat umsetzen und die Entfaltung ihrer Wirkung betrachten.
Unser Leben in einer modernen, kapitalistisch geprägten Gesellschaft hat diese Erfahrung bereits erheblich beeinträchtigt – Stichwort: Entfremdung –, und der Siegeszug von künstlicher Intelligenz gerade in Verwaltung, Service und Wissensarbeit läuft Gefahr, sie weiter zu untergraben.
Die Befreiung von scheinbar lästiger und sinnloser Arbeit ist demnach ein zweischneidiges Schwert, wenn sie den Menschen zu einem Leben als ausführender Arm einer komplett automatisierten Maschine und ihrer algorithmischen Anweisungen verdammt. Deshalb sollten wir vorsichtig sein, das Ende der sogenannten Bullshit Jobs zu feiern, so wie ich es gerne und schulterzuckend getan habe.
Folge dem Geld – Wirtschaftsverbrechen und Korruption in Europa
piqer:
Thomas Wahl
Vor einer Woche hat Jürgen Klute eine piqd-Empfehlung zum Thema Katar-Gate, dem Schmiergeld-Skandal im Europäischen Parlament, abgegeben. Schmiergeld ist offensichtlich für viele Staaten ein Mittel, um ihre Politik durchzusetzen. Aber das umfasst nur einen kleinen Teil der umfangreichen Finanz- und Wirtschaftsverbrechen auf unserem Kontinent mit seinen halblegalen bis kriminellen Netzwerken. Im Mittelpunkt stehen dabei unauffällige, verdeckte Finanztransfers etwa auch zur Geldwäsche.
Der unauffällige internationale Finanztransfer, juristische Betreuung und verschiedenen Formen von Lobbying sind längst auf eine Weise professionalisiert worden, dass daraus zum Beispiel in Großbritannien eine ganze „Industrie“ mit Rechtsanwälten, Buchhaltern, Immobilienmaklern und PR-Leuten entstanden ist.
Als Antwort darauf gründete Europol im Jahr 2020 das Kompetenzzentrum für Finanz- und Wirtschaftsverbrechen, das kürzlich erstmals einen Bericht zur Bedrohungsanalyse publiziert. Darin heißt es:
Kriminelle Akteure nutzen die Schwachstellen unseres Systems aus, schwächen dabei unsere Gesellschaft und generieren dabei enorme Gewinne. Mit dem Wachsen der schweren und organisierten Kriminalität, entwickeln sich auch kriminelle Strukturen, die an Finanz- und Wirtschaftsverbrechen beteiligt sind, indem sie die illegalen Erlöse waschen und das unterirdische kriminelle Finanzsystem verwalten. Und damit in der Lage sind, den Reichtum krimineller Akteure zu erhalten. Sie müssen auch Brücken zu relevanten Akteuren mit Zugang zu (politischer) Macht oder Informationen in wichtigen Bereichen der Gesellschaft und Wirtschaft aufbauen. Dafür ist die Korruption der Schlüssel. Daher bilden Geldwäsche, kriminelle Finanzen und Korruption weiterhin die Hauptmotoren der organisierten Kriminalitätsmaschine.
Ein zentraler Bestandteil der organisierten Kriminalität ist laut dem Papier die Geldwäscherei. Das gilt für alle „Branchen“ – egal ob Drogenhändler, Zigarettenschmuggler, Mehrwertsteuerbetrüger, Wettmafias oder Geldfälscher. Die Akteure im Katar-Gate scheinen da Amateure gewesen zu sein, die recht unvorsichtig mit großen Mengen Bargeld hantiert haben.
Knapp 70 Prozent der in der EU aktiven kriminellen Netzwerke benutzen gemäss dem Bericht «Basistechniken» zur Geldwäscherei, während der Rest professionelle Geldwäschedienste oder das System der Untergrundbanken braucht. Professionelle Geldwäscher verlangen laut den Behörden typischerweise für ihre Dienste 5 bis 20 Prozent der gewaschenen Gelder.
Die Liste der praktizierten Methoden ist dabei ziemlich lang: von informellen Geldüberweisungssystemen, Bargeldschmuggel, Banküberweisungen via Konten von Strohmännern über Kryptowährungen bis hin zu fingiertem Warenhandel und der Zwischenschaltung von Scheinfirmen, d. h. dem Missbrauch legaler Geschäfte etwa von Restaurants oder Juwelierläden, aber auch Spielcasinos und Fußballklubs. Fantasie scheint gefragt, was die Summen der beschlagnahmten Gelder betrifft, sagt der Europol-Bericht:
In den EU-Mitgliedstaaten wurden pro Jahr durchschnittlich 4,1 Milliarden Euro an kriminellen Vermögenswerten in den Jahren 2020 und 2021 beschlagnahmt. Dies stellt einen Verdoppelung im Vergleich zu früheren Schätzungen dar. Es ist jedoch nur ein kleiner Teil dessen, was kriminelle Netzwerke wahrscheinlich illegal an finanziellen Gewinnen generieren.
Immer noch gibt es keine wirklich zuverlässigen Daten über illegale Erträge aus der organisierten Kriminalität in der EU. Daher handelt es sich bei den genannten Summen – sowohl über die gesamten illegalen Gewinne als auch über den Anteil der eingezogenen Gewinne – um vorsichtige Schätzungen. Allgemein gilt die begründete Vermutung,
dass die große Mehrheit der illegalen Erträge in den Händen der organisierten Kriminalität bleibt. Betrachtet man die Einnahmen der organisierten Kriminalität, so lagen die jüngsten Schätzungen der jährlichen Gewinne von neun kriminellen Märkten in der EU zwischen 92 und 188 Mrd. EUR. Demnach würden sich die beschlagnahmten kriminellen Gelder auf 4,4 % bis 2,2 % der gesamten illegalen Einnahmen belaufen. Wenn man bedenkt, dass selbst die höhere Schätzung von 188 Mrd. EUR zweifellos eine Unterschätzung der tatsächlichen Gewinne der schweren und organisierten Kriminalität darstellt (bei einer einzigen groß angelegten EU-Operation beliefen sich allein die beschlagnahmten kriminellen Gelder auf fast 900 Mio. EUR), bleibt der Betrag der Vermögenswerte, die die Strafverfolgungsbehörden den kriminellen Netzen entziehen konnten, immer noch unter 2 % der jährlichen Erträge aus der organisierten Kriminalität.
Sicher ein erträgliches Risiko für kriminelle Netzwerke. Dies zeigt u. a., dass die zu den Ermittlungen gegen die kriminellen Machenschaften zu wenig parallele Finanzermittlungen erfolgen. Noch sind solche integrierten Vorgehensweisen nicht in allen EU-Strafverfolgungsbehörden gängige Praxis. Das aber wäre
eine Voraussetzung für die Einziehung von mehr kriminellen Vermögenswerten und für einen besseren Schutz der Bürger und der legalen Wirtschaft ist. Die Investition von Milliarden von Euro an gewaschenen illegalen Gewinnen in die legale Wirtschaft verzerrt den Wettbewerb und die allgemeine Dynamik eines freien Marktumfelds und behindert letztlich die wirtschaftliche Entwicklung. Gleichzeitig stellt die Möglichkeit, kriminell erworbene Gelder einzubehalten und sie in kriminelle Aktivitäten oder Dienstleistungen zu reinvestieren, eine zentrale Bedrohung für die innere Sicherheit der EU dar, da sie kriminelle Strukturen und Märkte fördert.
Man fragt sich auch, ob die mittlerweile 84 Angestellten des europäischen Kompetenzzentrums für Finanz- und Wirtschaftsverbrechen ausreichen, um den gemeinsamen Markt mit fast 450 Mio. Einwohnern und ca. 23 Mio. Unternehmen erfolgreich im Blick zu behalten? Und so endet der empfohlene Artikel der NZZ sehr allgemein:
Luft nach oben in der Verbrechensbekämpfung ortet auch die zuständige EU-Kommissarin Ylva Johansson: «Wir brauchen bessere Gesetze.» Sie erinnerte am Montag vor den Medien an Vorschläge der EU-Kommission unter anderem zur Bekämpfung der Geldwäscherei und zur Modernisierung des chronisch von Betrügern missbrauchten Mehrwertsteuersystems.