Fremde Federn

CBAM, Klima-Immobilien-Blase, Schul-Boom

Diese Woche unter anderem in den Fremden Federn: Wie die Europäer immer noch Putins Kriegskasse unterstützen, warum die USA den Irak wirklich angegriffen haben und wieso die Klimakrise eine Immobilienblase anheizt.

Foto: Jojo Bombardo via Flickr (CC BY-ND 2.0)

In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst Forum (früher piqd) eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. Formum.eu versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.

Mehr Gas aus Russland als aus den USA

piqer:
Marcus von Jordan

Manchmal ist einfach eine einzige Zahl schon der ganze Beitrag. Im 2. Quartal 24 hat die EU etwas mehr Gas aus Russland gekauft als aus den USA. Die schmerzhafte, naheliegende und finale Aussage dazu, kommt von CDU Mann Röttgen:

„Die Europäer unterstützen die Ukraine mit Milliarden und zahlen gleichzeitig Milliarden in die Kriegskasse Putins – das ist weder verantwortlich noch rational, noch glaubwürdig.“

Deutschland bezieht kein Gas mehr aus Russland. Österreich noch zu weit über 50%. Dazu ist dieser Artikel aus dem Juni im Standard interessant, der von weiteren Maßnahmen der EU gegen russisches Gas berichtet und von der Sorge um eine neue Abhängigkeit von US-Gas.

Mit den Preisen ist es komplex. Der Chat sagt, dass europäische Kunden dieses Jahr etwa 33€/MWh für amerikanisches LNG bezahlt haben. Das wäre dann etwa dreimal so viel wie russisches Pipeline-Gas vor der Invasion gekostet hat.

CBAM: Die Stunde der Erbsenzähler

piqer:
Dominik Lenné

CBAM ist die durchschlagende Abkürzung für „Carbon Border Adjustment Mechanism“, EU-Sprech für die 2026 anlaufende Verpflichtung aller Importeure, für eine Reihe von Importwaren EU-ETS-Zertifikate zu kaufen und zu entwerten. 2023 begann die Startphase, in der Emissionen erhoben und berichtet werden müssen, aber noch nicht bezahlt. Der CBAM ist unabdingbare Voraussetzung dafür, von der EU-Industrie, die aus Konkurrenzgründen ihre Zertifikate bis dato weitgehend kostenlos bekommt, dasselbe zu verlangen.¹ Dass sie weniger Emissionssenkung ls der Elektrizitätssektor vorweisen kann, hängt auch damit zusammen.

So weit, so logisch. Der Teufel steckt aber in der Praxis: Die Importeure müssen nach einem sehr detaillierten Regelwerk den importierten Waren einen Emissionswert zuschreiben, und dafür brauchen sie Daten der im EU-Ausland befindlichen Herstellungsketten – die Emissions-Erbsen müssen minutiös gezählt werden.

Während die EU-Industrie seit Bestehen des EU-ETS, also seit 2005, gelernt hat, diese Informationen für ihre eigene Produktion zu erheben und sinnvoll zu kondensieren, ist dies im Ausland noch lange nicht der Fall. Es gibt oft entweder gar keine oder falsche Daten, oder sie werden sogar aus Gründen des Misstrauens verweigert.

In diesem Pick beschreibt Simon Göß, Gründer der Consultingfirma carboneer, seine Erfahrungen bei der Beratung von Importeuren und chinesischen Produzenten. Emissionsberechnung ist ein neues Know-How-Feld, das sich global erst aufbaut. Sie kostet Arbeitszeit und damit Geld, und zwar am Anfang ziemlich viel. Einige Produzenten sehen dies als Vorbereitung auf mögliche ähnliche Importanforderungen anderer Märkte, also als lohnende Investition. Für alle aber gilt, dass sie einen konkreten finanziellen Anreiz haben, die mit ihrer Produktion verbundenen Emissionen zu senken.

Anmerkungen:

¹ Ein klassisches Beispiel dafür, dass der Markt Umweltvorschriften unmöglich macht, wenn sie nicht für alle Teilnehmer gleichermaßen erlassen werden können. Der CBAM ist im Grunde Flickschusterei: gäbe es eine Emissionsbepreisung, die alle Industrieländer umfasste, könnte man sich den Aufwand der Emissionszuschreibung für jedes einzelne Produkt sparen, die niemals ganz befriedigend möglich ist. 

Nope, die USA führten den Irak-Krieg nicht wegen des Öls

piqer:
Rico Grimm

Wir befinden uns heute wieder in einer Zeit, in der Zugriff auf Rohstoffe zu einem der wichtigsten geopolitischen Themen geworden ist. Deswegen ist dieser Artikel hilfreich, den ich dir heute empfehle.

Er wirft, 20 Jahre danach, einen Blick auf die Erklärungsansätze für den Irak-Krieg: Warum nur griffen die Vereinigten Staaten den Irak an? Eine in Deutschland extrem beliebte und in der globalen Linken quasi unwidersprochene These: Die USA wollten Zugriff auf die irakischen Ölfelder. Folgt man dieser Sichtweise, war der Irak-Krieg also vor allem ein ökonomisches Ereignis.

Nur: Bei näherem Hinsehen spricht nicht sehr viel dafür, dass Öl ausschlaggebend gewesen wäre. Das zeigt dieser wirklich tiefgründige Essay, der sowohl für geschichts- als auch für wirtschaftsinteressierte Leser aufschlussreich ist. Die Realität war deutlich differenzierter als eine Kabarett-Nummer von Volker Pispers.

Die Vereinigten Staaten befanden sich rund um den Jahrtausendwechsel auf dem Höhepunkt ihrer globalen Macht. Ihre marktbasierte, liberale Demokratie galt ihnen als das Modell für die Zukunft der Menschheit. Der Irak aber widersetzte sich den Regeln des Marktes, den Regeln der Demokratie und den Regeln der liberalen Weltordnung. Das war das eigentliche Projekt hinter dem Irak-Krieg: einen stabilen Verbündeten der USA in einer Region erschaffen, die den Vereinigten Staaten seit Jahrzehnten Kopfschmerzen bereitete.

Überspitzt gesagt: Sie wollten ein arabisches Südkorea (oder Deutschland). Öl spielte nur insofern eine Rolle, als das die irakische Wirtschaft von Öl abhängig war. Die Privatisierung der irakischen Wirtschaft allerdings war immer wichtiger, als Chevron oder Exxon mehr Profite zu verschaffen.

Klimakrise heizt die Immobilien-Bubble in den USA an

piqer:
Ole Wintermann

Inzwischen sieht man immer öfter Bilder aus dem erfolgreich wiederaufgebauten Ahrweiler. Dabei wird leider eine offensichtliche Frage nicht beantwortet: Welche Auswirkungen hat die Tatsache, dass die Häuser erneut in einer stark gefährdeten Überschwemmungszone stehen, auf deren perspektivische Wertentwicklung? Die Einbeziehung von Klimarisiken in die Bewertung von Immobilien findet derzeit in Deutschland so noch nicht statt. Anders sieht es in den USA aus, so dieser Beitrag bei „The Atlantic“.

In den USA wird in manchen Gegenden bereits von einer neuen Immobilien-Bubble gesprochen. Das bedeutet, dass der Markt in diesen Gegenden kurz davor steht, die negativen Folgen der Klimakrise einzupreisen. Studien haben gezeigt, dass die Überbewertung allein mit Blick auf die Überschwemmungsrisiken bei bis zu $ 237 Mrd. liegt.

So meint der Autor der Studie auch:

„We’re in a bubble, and whether it deflates slowly, causing some economic pain, or pops suddenly, shocking the country’s economic system, will come down to policy choices that governments make now.“

Ungefähr 39 Mio. Immobilienbesitzer zahlen derzeit eine unrealistisch niedrige Versicherungsprämie mit Blick auf nicht eingepreiste Klimarisiken. So ist in Gegenden, die von Waldbränden bedroht sind, in den nächsten 5 Jahren mit einem Wertverlust der Häuser von 20% zu rechnen. Und das größte Problem daran: Im Gegensatz zur damaligen Finanzkrise kann nicht damit gerechnet werden, dass der Wert dieser Häuser langfristig wieder steigt.

Die Menschen sind immer noch nicht in der neuen Klimarealität angekommen.

Kipppunkte im Klima: Große Verunsicherung bei großer Unsicherheit

piqer:
Rico Grimm

In dieser Empfehlung will ich dir einen Trick verraten, wie du noch bessere Informationen findest: Nutze die Quellen, die auch die Profis nutzen, und versuche, sie zu verstehen.

Deswegen ist das hier wieder eine Doppel-Empfehlung. Einmal für das Science Media Center. Das ist eine NGO, die es sich zum Ziel gesetzt hat, zu den relevantesten wissenschaftlichen Fragestellungen unserer Zeit Kontext zu liefern. Dazu befragt die Organisation immer wieder mehrere Wissenschaftler nach ihrer Einschätzung zu neuen, aufsehenerregenden Studien. Das ist Wissen, das so niemand auf Wikipedia finden kann und deswegen sehr wertvoll.

Ein Beispiel dafür: Die kleinen Interviews, die ich hier verlinke. Worum geht’s? Es gibt eine neue Studie über Klima-Kipppunkte. Diese sind ein hochumstrittenes und hochemotionales Thema, weil sich an ihnen entscheiden wird, ob wir die Klimakrise lösen können. Dementsprechend große Schlagzeilen machen Studien, die mit einem konkreten Datum für das „Kippen“ aufwarten können. Das Problem allerdings ist: Prognosen für dieses Kippen sind extrem unsicher. Und wenn ich extrem sage, rede ich von Zeitspannen wie „irgendwann zwischen dem Jahr 2053 und dem Jahr 8000“. Gleichzeitig aber weiß die Wissenschaft natürlich, dass es die Kipppunkte gibt. Wir haben also große Unsicherheit und das muss jeder im Hinterkopf behalten, wenn er mal wieder in düstere Gedanken wegen der Klimakrise verfällt.

Immer mehr Kinder weltweit besuchen eine Schule

piqer:
Squirrel News

Während eine Vielzahl von Kommentatoren damit beschäftigt ist, die Ballung der aktuellen Krisen (auch Polykrise genannt) zu analysieren, droht schon wieder unterzugehen, welche Fortschritte derweil weltweit erzielt wurden; zum Beispiel im Bildungsbereich.

Neuen Daten der UNESCO zufolge ist die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die keine Schule besuchen, zwischen 2000 und 2023 um fast 40 Prozent gesunken: von 390 Millionen auf 244 Millionen. Dabei ist die Weltbevölkerung in dieser Zeit sogar gewachsen. Auch der Abstand zwischen Mädchen und Jungen hat sich fast geschlossen. Bisher waren deutlich weniger Mädchen zur Schule gegangen.

Seit ungefähr 2018 stagniert die Entwicklung zwar. Sicher hat hier auch die Corona-Pandemie ihren Anteil. Und natürlich gibt es keine Garantie dafür, dass der Fortschritt in den nächsten Jahrzehnten weitergeht. Aber beachtlich ist er allemal.

Nike und das Internet – ein Lehrstück

piqer:
Jannis Brühl

Wenn Imperien erste Risse kriegen, ist das immer interessant, so auch im Fall von Nike. Ein digitaler Strategieschwenk des Sportartikel-Herstellers funktionierte nicht, weil die Entscheider klassische physische Vertriebswege und Marketing vergaßen.

Brian Morrissey, einer meiner Lieblingsreporter zu den Themen Medien und Online-Werbung, analysiert den Fall, die ursprünglich durch den viralen Linkedin-Post eines Nike-Managers Thema wurde. Es geht um Online-Vertrieb und -Marketing und was man als Konzern dabei falsch machen kann.

Nike hat eigentlich etwas getan, was sich heutzutage vernünftig anhört: go direct. Auf Deutsch: Kommunikation und Vertrieb rein online und DTC – direct to consumer. Der Konzern setzte weniger auf Verkäufe in Läden, dafür eindimensional auf das Netz. Ein Fehler, schreibt Morrissey, denn nicht nur das Netz, die ganze Wirtschaft habe sich verändert – zum Vorteil der kleineren Konkurrenz. Konkurrenten schnappten sich den Platz in den Regalen.

Empires also tend to fall based on external pressures. The defining external pressure on Nike that Rogers details is the democratization of the modern economy. Nike is not just competing with Adidas, it is competing with all kinds of upstarts that can tap into similar supply chains that were once one of Nike’s core competitive advantages. Its high-end marketing is now in competition with anyone with an iPhone.

Vor allem aber machte Nike laut Morrissey einen grundlegenden Fehler und verriet sein Selbstverständnis: Statt weiterhin die Marke für Sportler zu sein und die einzelnen Sportarten bestmöglich zu bespielen, erklärte man nun quasi alle Menschen zur Zielgruppe. Das ist selbst für ein Mainstream-Unternehmen zu mainstreamig.

Der Konzern verstand nicht, dass ein zu starker Fokus auf Online-Handel mit effizienzgetriebener Performanzmessung à la Amazon nicht zu ihm passt. Wer über eine derart starke Marke verfügt (der Swoosh, „Just do it“), kann sie nicht durch ein paar Online-Marketing-Ideen ersetzen.

Denn die Technisierung, die Online-Marketing mit sich bringt, ließ Nikes Führungsteam vergessen, die Marke zu pflegen. Man konnte nun zwar alles messen, aber wurde zu „kalt“ für die Kunden. Wer nur auf Zahlen starrt, vergisst die alten Marketing-Philosophien.

Nike hat also auf das Internet gesetzt, ohne das Internet zu verstehen.