In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.
Wohlstand, Wachstum, Wegziehen: So bunt ist Europa
piqer:
Simone Brunner
Von Portugal über Benelux bis Bulgarien: Wie vielfältig die EU ist, ist bekannt. Doch das Schweizer Online-Magazin Republik hat nicht die Unterschiede zwischen den EU-Ländern (plus der Schweiz), sondern den Regionen unter die Lupe genommen. Herausgekommen ist ein vergleichender Blick auf 276 Regionen Europas, der die europäische Wirtschaftsentwicklung der vergangenen Jahre zeigt.
Die Datenanalyse gibt interessante Aufschlüsse: Zwar ist der große europäische Wohlstand eher in Zentraleuropa, entlang der Achse Südengland-Niederlande-Deutschland-Österreich-Schweiz-Norditalien konzentriert, aber Osteuropa holt kräftig auf, was bedeutet, dass die wirtschaftliche Diskrepanz zwischen den reichsten und den ärmsten Regionen tendenziell abnimmt – „und nicht zunimmt, wie es beispielsweise in den USA der Fall ist“, wie es im Text heißt.
Doch selbst dort, wo es relativ große Wohlstandszuwächse gibt, wie in Osteuropa, ziehen viele Menschen weg. Die Wirtschaftskrise hat – wenig überraschend – vor allem in Griechenland zu großen Einbußen geführt, wo das BIP pro Kopf zuletzt gegenüber dem EU-Schnitt um 31 Prozent geschrumpft ist. Andererseits gibt es auch viele EU-Länder, die in sich sehr heterogen sind, wie Spanien, Frankreich, Italien oder Großbritannien.
Ein faszinierender, anderer Blick auf die Buntheit des Kontinents, wenige Wochen vor den Wahlen zum Europäischen Parlament.
Argumentationshilfen gegen immer wiederkehrende Falschaussagen bezüglich der globalen Erwärmung
piqer:
Daniela Becker
Am 15.03.2019 hat die AfD bei einer Fridays-for-Future-Demo an die Schüler ein Klimaquiz verteilt. Harald Lesch spricht in diesem Video mit dem Klimaforscher Prof. Stefan Rahmstorf darüber, was von diesem Quiz zu halten ist.
Die AfD bedient sich hier der gleichen „Argumente“ mit denen die Klimawissenschaft seit über drei Jahrzehnten u. a. durch die Öl-Industrie professionell diskreditiert und angezweifelt wird.
Einer der beliebtesten Tricks ist, sich eine bestimmte Datenreihe herauszugreifen, die in das ideologische Weltbild passt und daraus falsche Schlussfolgerungen ziehen.
Besonders perfide finde ich jene Vorgehensweise, bei der mit dem kleinen Anteil von CO2 in der Atmosphäre (0,04% entspricht 4 Moleküle pro 10.000 Moleküle) bewiesen werden soll, dass auch die Wirkung von CO2 auf das Klima gering sein müsse.
Rahmstorf meint dazu:
Wer dieser Logik folgt, trinkt sicher auch gerne einen Zyankali-Cocktail. Den Wissenschaftlern, die behaupten, schon 3 mg/kg Körpergewicht (also 0,0003 %) Zyankali seien tödlich, ist bestimmt nicht zu trauen!
Es lohnt sich, beide Beiträge zu bookmarken. Denn seit die Klimakrise endlich auch in größeren Talkformaten etc. besprochen wird, bekommen auch die Zweifler und Skeptiker einen noch größeren Resonanzraum. Da ist es gut, auf deren vermeintlich einfachen und schlüssigen Aussagen wissenschaftlich untermauerte Fakten parat zu haben.
Rahmstorf stellt dazu richtig fest, dass das Quiz der AfD durchaus lehrreich ist.
Es könnte Grundlage einer Unterrichtsstunde über politische Propaganda sein – geht es doch um eine Form von Propaganda, die heute überall im Internet zu finden ist, den Fortschritt beim Klimaschutz erheblich behindert und damit die Zukunft der jungen Generation erheblich gefährdet und beeinträchtigt.
Das Kraftfahrtbundesamt als Wolfsburger Bettvorleger – Umwelt- und Klimaschutz in Deutschland
piqer:
Jörn Klare
Es beginnt mit der Live-Reportage einer Autobahneinweihung durch den „Führer“ aus dem Jahr 1935 und endet mit einer Schülerdemo an einem Freitag im März 2019, auf der auch Greta Thunberg zu hören ist. Tom Schimmek spannt in Dreckschleuder Deutschland – einem 53-minütigen vom NDR produzierten ARD-Radiofeature – den Bogen sehr weit. Und es lohnt sich, dem zuzuhören. Es geht dabei um den Umwelt- und Klimaschutz in Deutschland, um eine Politik, die von Lobbyisten diktiert wird, und somit um die Gefährdung unserer Lebensgrundlagen.
Und wir haben es hier mit dem Kraftbundesamt zu tun, was mehr der Bettvorleger eines Unternehmens aus Wolfsburg ist als eine eigenständig agierende Behörde.
Die einzelnen Fakten sind nicht unbedingt neu (obwohl manche Details dann doch verblüffen), doch die Gesamtbetrachtung ist erhellend. Vor allem auch weil dieses Feature von Nikolai von Koslowski ausgesprochen hörenswert produziert wurde.
Auf in die Empathie-Ökonomie: Vier Szenarien zur Zukunft der Arbeit von der RSA
piqer:
Cornelia Daheim
Gerade ist eine neue Studie zur Zukunft der Arbeit bis 2035 erschienen, die sich zwar auf Großbritannien bezieht, aber vieles davon ist auf hiesige Verhältnisse übertragbar.
Erarbeitet wurde die Studie von der RSA (Royal Society for the encouragement of Arts, Manufactures and Commerce, mit ca. 29.000 Mitgliedern), einer in Großbritannien sehr renommierten wie anerkannten Institution der Wissenschaft. Beschrieben werden vier Szenarien – bemerkenswert ist insbesondere die „Empathie-Ökonomie“:
In this scenario, technology advances at a clip, but so too does public awareness of its dangers. Tech companies self-regulate to stem concerns and work hand in hand with external stakeholders to create new products that work on everyone’s terms. Automation, where it occurs is carefully managed in partnership with workers and unions. Disposable income flows into ‘empathy sectors’ like education, care and entertainment. This trend is broadly welcomed but brings with it a new challenge of emotional labour, where the need to be continuously expressive and available takes its toll. It’s hard being the shoulder to cry on all of the time.
Dem gegenüber stehen drei andere Szenarien, von einer „Big-Tech“-Welt über die „Präzisions-“ bis zur „Exodus“-Ökonomie. Dazu gibt es noch eine Vielzahl an Materialien, auch eine detailliertere Zusammenfassung der Szenarien. Wer Interesse hat, sollte sich die Studie selbst ansehen, hier sind u. a. das Intro (zu Schwierigkeiten der Einschätzung der Zukunft) und die Typisierung aktueller Positionen in der Debatte wertvoll. Zudem gibt es eine recht ernüchternde Befragung von Mitgliedern des britischen Parlaments, die sich selbst und auch die öffentlichen Institutionen als eher schlecht auf die zukünftigen Veränderungen vorbereitet einschätzen.
Wichtig ist das für alle, die sich mit alternativen Optionen der zukünftigen Entwicklungen in der Arbeitswelt auseinandersetzen, weil es über den Technologiefokus hinaus reicht und auch Handlungsansätze aufzeigt.
Gestern & Heute: Wie viele Enden überlebt der Kapitalismus noch?
piqer:
Achim Engelberg
Paul Mason taucht, seit es piqd gibt, regelmäßig auf. Hier ein piq zu seinem bekanntesten Buch, über das er im aktuellen Beitrag schreibt:
Als ich in „Postcapitalism“ warnte, die Globalisierung werde zusammenbrechen, wenn wir den Neoliberalismus nicht abschaffen, nannte die Financial Times dies „unnötig schrill“. Es hat sich gezeigt, dass es noch nicht schrill genug war.
Rückblende 1857:
Friedrich Engels glaubt, dass das Ende des Kapitalismus zum Greifen nah ist. Freudig schreibt er:
In Hamburg sieht es großartig aus. Ullberg und Cramer, … die mit Schulden von Bank Mk. 12 000 000 falliert sind … hatten ein Kapital von nicht mehr als 300 000 Mark!! … So komplett und klassisch ist noch nie eine Panik gewesen wie jetzt in Hamburg. Alles ist wertlos, absolut wertlos, außer Silber und Gold.
Bald schon lernten Marx und Engels den Kapitalismus besser verstehen. Noch eine schwere Krise erlebten Marx und Engels, die Ulrike Herrmann so kommentiert:
1873 kam es erneut zu einer Weltwirtschaftskrise, die zu den schwersten Crashs in der Geschichte gehört. .. Doch während wieder Panik um sich griff, blieb Marx ganz ruhig: Er hatte den Glauben aufgegeben, dass der Kapitalismus durch seine Krisen kollabiert.
Seitdem glaubten immer wieder kluge Beobachter, das Ende des Kapitalismus sei eingeleitet. Nun gehört Paul Mason dazu.
Sein Fazit:
Für die neuen progressiven politischen Bündnisse … bedeutet das: Sie müssen den kommenden Kulturkrieg intelligent führen. Der Staat, der von den Bewegungen für Umwelt und soziale Gerechtigkeit so lange vernachlässigt wurde, wird bei der Lösung unserer Probleme eine zentrale Rolle spielen.
Ein erheblicher Teil der Politik ist durch und durch unwirklich geworden. Dies liegt an den beiden technokratischen Grundannahmen unserer Zeit – dass das momentane soziale System zu einer kohlenstofffreien Gesellschaft führen kann und steigende Schulden durch Buchgeld für immer ausgeglichen werden können. Wir müssen dieser Sache endlich auf den Grund gehen.
The Future Is Unwritten.
Wenn Immigration zum Wirtschaftszweig wird: „Border Hustle“
Menschenschmuggel ist in Honduras und Mexiko die profitabelste Form des illegalen Handels. Und das noch vor dem Drogengeschäft. Diese Doku lässt den „Border Hustle“ anhand der Geschichte eines honduranischen Vaters und seiner kleinen Tochter hautnah miterleben und zeigt, dass auch die USA von der illegalen Einwanderung profitieren.
Erzählt wird die Geschichte von Carlos, einem jungen Mann aus Honduras und seiner Tochter Heily, die eine Reise voller Gefahren und Strapazen antreten. Während Heily glaubt, dass es sich hierbei um einen Urlaubstrip handelt, scheint Carlos schon zu ahnen, worauf sie sich einlassen: „7.000 Dollar und sie bringen dich zur Grenze“.
Von gefährlichen Kartellen, die über den Erfolg des Grenzübergangs entscheiden, bis zur amerikanischen Grenzpolizei, welche die Immigranten auf der anderen Seite in privaten Gefängnissen festhält, haben sie täglich mit Leuten zu tun, die über ihr Schicksal bestimmen. Die Lebensumstände während dieser Reise sind katastrophal. Zusammen mit 80 bis 100 Leuten in einem LKW zu sitzen ist der Normalzustand. Reporter Jay Root begleitet sie auf diesem gefährlichen Weg und dokumentiert gleichzeitig die Netzwerke, die vom Menschenhandel profitieren.
Das Fazit: Auf amerikanischer Seite geht das Geschäft mit Immigration weiter. Polizisten werden pro eingefangenen Einwanderer bezahlt und Häftlinge müssen in den Gefängnissen für Niedriglöhne arbeiten, wenn deren Familien nicht für den Aufenthalt bezahlen. Begünstigt werden diese Machenschaften durch die Einwanderungspolitik von Donald Trump. „Der amerikanische Traum ist eine Lüge. Statt ein besseres Leben, erwartet dich hier die Sklaverei“, so Carlos am Ende der Reise.
Diese Reportage zeigt die gefährliche Flucht in die USA aus der Nähe und ist gleichzeitig eine erschreckende Studie über den Handel mit Menschen auf beiden Seiten der Grenze.
„Plattform Europa“: Her mit dem europäischen, gemeinwohlorientierten sozialen Netzwerk!
piqer:
Alexander Sängerlaub
Nehmen wir an, es gäbe im Fernsehen nur RTL und RTL2. Dann hätten wir zwar „Berlin Tag und Nacht“, „Familiengericht“ und „Let’s Dance“, und zumindest Peter Kloeppel, aber wir müssten auf eine ganze Reihe von wirklich guten Dokumentations- und Nachrichtenformaten verzichten – nämlich denen, die auf den öffentlich-rechtlichen Kanälen laufen.
Bei sozialen Netzwerken ist es gerade genauso: wir haben eigentlich nur RTL2 (nicht mal RTL). Facebook & Co. sind eine reine datengetriebene Plattform, die sich einen feuchten Kehricht dafür interessiert, wie qualitativ hochwertig ihre Inhalte sind. Hauptsache die Nutzer bleiben lange genug zwischen Katzen-Videos und rechter Bullshitpropaganda auf der Plattform, damit Werbetreibende Geld zahlen. Ein Paradies für Trolle und Fake News, die sich auf den Plattformen tummeln. Die Aufmerksamkeitsökonomie, also die Art und Weise welche Inhalte der Algorithmus auswählt, beinhaltet weder die Faktizität noch die Güte der dargebotenen Information als Kriterium. Im Grunde genommen ist der Algorithmus eigentlich die Social-Bot-Version von Julian Reichelt, dem BILD-Chefredakteur: sensationalistisch, polarisierend und mit der Wahrheit nimmt er es auch nicht so genau.
Als Gegengewicht bräuchte es da vielleicht so eine Art soziales Netzwerk, das sich ein bisschen mehr um die Inhalte und nicht um die eigenen Werbeerlöse schert. Das ganze ließe sich verbinden mit dem ehrenhaften Versuch erstmals so etwas wie eine europäische Öffentlichkeit herzustellen, die beispielsweise auch die Inhalte der öffentlich-rechtlichen europäischen Rundfunkanstalten beherbergt und in der sich die Menschen tatsächlich anregend über Gott und die Welt austauschen.
So eine Idee skizziert der hier vorgestellte Text und nimmt dabei den Gedanken von der „Plattform Europa“ auf, die Johannes Hillje in seinem gleichnamigen Buch skizziert. Wie man es finanziert? Mit der von Deutschland gerade verhinderten europäischen Digitalsteuer! Ich finde, das wäre eine prima Idee!