Brexit

Wie die Märkte auf die gebrochenen Versprechen der Leave-Kampagne reagieren

Vier Tage lang reagierten die Finanzmärkte sehr heftig auf das Brexit-Referendum – doch inzwischen haben sie sich wieder gefangen. Was ist passiert?

Die Berg- und Talfahrt an den Finanzmärkten wird solange anhalten, bis es Klarheit über die künftigen Beziehungen Großbritanniens zur EU gibt. Foto: Pixabay

Nach Bekanntgabe der Ergebnisse des Brexit-Referendums am 23. Juni sind die Finanzmärkte weltweit abgestürzt. Das Pfund verlor mehr als 10%, der britische Aktienmarkt 7%. Währenddessen erlitten Aktien von Finanzinstitutionen überall in Europa und vor allem in Großbritannien erhebliche Verluste.

Diese Reaktion war von den allermeisten Volkswirten erwartet worden – tatsächlich waren sich die Ökonomen in einer Frage selten so einig wie in dieser. Die meisten stimmten darüber überein, dass der Austritt aus dem gemeinsamen europäischen Binnenmarkt für britische und europäische Unternehmen negative Folgen haben und möglicherweise kurzfristig eine Rezession verursachen und langfristig das Bruttoinlandsprodukt sinken lassen wird.

Die Ökonomen sind sich auch einig, dass die langfristigen ökonomischen Konsequenzen größtenteils davon abhängen, welche Bedingungen Großbritannien mit der EU und anderen Handelspartnern aushandeln wird.

Die Reaktion an den Märkten hat bisher dem entsprochen, was die ökonomische Theorie über Effekte der Errichtung von Handelsbarrieren aussagt: Die ökonomische Aktivität fällt, was wiederum zu einer niedrigen Aktienmarktbewertung führt.

Aber warum haben sich die Märkte dann heute erholt? Unter solch volatilen Umständen ist es natürlich sehr schwer einen klaren und einzelnen Grund für diese Erholung an den Aktien- und Devisenmärkten zu identifizieren. Ein Aspekt ist sicherlich das politische Chaos in Großbritannien und das Ausmaß, zu dem die Märkte erwarten, dass sich die politische Situation wieder beruhigt und eine neue Regierung eingesetzt wird.

Aber ein weiterer und wichtiger Faktor ist, wie stark die während des Wahlkampfs gemachten Versprechungen gebrochen werden. Meiner Meinung nach ist die Erholung an den Märkten das Ergebnis eines eindeutigen Richtungsschwenks in der britischen Politik. Lassen Sie mich das erklären:

Viele Wähler stimmten für den Brexit unter der Annahme, dass

Beide Vorschläge wurden am Montag von Boris Johnson und Michael Gove, die beide Mitglieder der offiziellen Leave-Kampagne waren, größtenteils vom Tisch genommen. Boris Johnson redet jetzt davon, dass Großbritannien ein Teil von Europa bleiben und einen Zugang zum Binnenmarkt anstreben könnte. Andere haben währenddessen angemerkt, dass ein EU-Austritt nicht notwendigerweise bedeuten müsse, die Arbeitnehmerfreizügigkeit zu begrenzen.

Die Zeitungen verkünden jetzt, dass die realistischste Option für Großbritannien darin besteht, wie Norwegen zu werden. Rufen wir uns noch einmal in Erinnerung, dass Norwegen ein vollständiges Mitglied des Binnenmarktes mit einer vollständigen Arbeitskräftemobilität ist, sowie die EU-Regulierung, die EU-Wettbewerbspolitik und die EU-Rechtsprechung bezüglich des Binnenmarktes vollständig akzeptiert und fast komplett in das EU-Budget einzahlt.

Tatsächlich ist Norwegen in ökonomischer Hinsicht de facto ein EU-Mitglied, ohne irgendeine formale Möglichkeit zu besitzen, seine Souveränität bei der Gestaltung der EU-Gesetzgebung auszuüben. Im Vergleich zu einem Austritt aus dem gemeinsamen Binnenmarkt wäre diese Option für britische und europäische Unternehmen tatsächlich sehr attraktiv – aber es würde die während des Wahlkampfs gemachten Versprechen brechen und die britische Souveränität im Vergleich zur einer andauernden EU-Mitgliedschaft schmälern, nicht stärken. Eine von Gideon Rachmann in der Financial Times erwogene Alternative dazu ist, dass Großbritannien letztlich die EU überhaupt nicht verlassen wird.

Das bedeutet, dass die Volatilität an den Märkten in den kommenden Monaten solange weiter bestehen bleiben wird, bis die Bedingungen der künftigen Beziehungen Großbritanniens zur EU festgelegt worden sind. Je politisch machbarer es scheint, dass Großbritannien auch weiterhin eng mit dem EU-Binnenmarkt verbunden bleibt, desto besser wird die Marktreaktion ausfallen. Andersherum werden die Verluste an den Aktienmärkten sowohl in Großbritannien als auch in der EU umso größer sein, je mehr sich Großbritannien isoliert und je bestrafender die Stimmung auf dem Kontinent ist.

Das zeigt eine grundsätzliche ökonomische Wahrheit auf. Obwohl manchmal das Gegenteil behauptet wird, kann man nicht auf zwei Hochzeiten gleichzeitig tanzen – oder wie es im Englischen heißt: you cannot have your cake and eat it too. Aber diese ökonomische Wahrheit schafft ein politisches Dilemma: Entweder du verlierst ökonomisch oder du brichst deine Wahlversprechen. Und das, was vor dem Referendum als Wahlmöglichkeiten verkauft worden war, sind nun politische Dilemmata.

 

Zum Autor:

Guntram B. Wolff ist Direktor des Thinktank Bruegel.

Hinweis:

Dieser Beitrag wurde zuerst vom Thinktank Bruegel in englischer Sprache veröffentlicht und mit Zustimmung von Bruegel ins Deutsche übersetzt.