In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.
What about … ? – Armut in Europa im Vergleich
piqer:
Christian Huberts
Wenn es um die Relativierung von Armut in Deutschland geht, wird gerne auf einen „Whataboutism“ zurückgegriffen: Im Vergleich etwa zu armen Menschen in Rumänien, ginge es armen Deutschen doch eigentlich ganz gut. Das ist nicht von der Hand zu weisen. Da sich die Armutsrisikoquote am mittleren Einkommen eines Landes misst, werden konkrete Entbehrungen dabei nicht eingefangen. Jemand, der in Deutschland weniger als 60% des mittleren Einkommens zur Verfügung hat – also als einkommensarm gilt – besitzt beispielsweise zu 99,9% ein eigenes WC in der Wohnung. In Rumänien genießt jedoch gleich ein Drittel der Gesamtbevölkerung diesen Luxus nicht. Also alles halb so wild in Deutschland?
Für Spiegel Online kommt Florian Diekmann zu einem differenzierteren Urteil: »Armut ist ein komplexes Phänomen, das nicht auf eine einzige Kennzahl reduziert werden kann«, schreibt er. Dabei bezieht sich Diekmann auf aktuelle EU-Statistiken, die ebenfalls konkrete Lebensumstände abfragen. So zeigt sich, dass relative Armut auch in Deutschland durchaus mit ernsten Entbehrungen einhergeht. Eingeschränkte Mobilität, gesundheitsschädliche Wohnverhältnisse und regelmäßige Schulden machen es den Betroffenen schwer, gesellschaftlich teilzuhaben. Das gilt sogar für Menschen, die oberhalb der 60-Prozent-Schwelle verdienen. Und trotz besserer Ausgangslage, können es sich weniger Einkommensarme in Deutschland leisten, einmal im Monat mit Freunden essen oder trinken zu gehen, als etwa in Griechenland.
Die Unzuverlässigkeit der Armutsrisikoquote zeigt sich auch drastisch in anderen Ländern. Obwohl sich der Anteil der Einkommensarmen in Griechenland seit der Eurokrise kaum verändert hat, gibt es dort heute fast doppelt so viele Menschen, die von erheblichen materiellen Entbehrungen betroffen sind. Gleichzeitig nimmt im Rest der Europäischen Union der Anteil der Menschen, die unter erheblichen materiellen Entbehrungen leiden, insgesamt ab. Die Lage ist also zu komplex für einfache Relativierungen von Armut.
10 Vorhersagen zum Brexit
piqer:
Silke Jäger
Charles Grant macht im Guardian 10 Vorhersagen, worauf sich die EU und UK in den Brexit-Verhandlungen verständigen werden. Der Direktor des Centre for European Reform, auf das hier im Kanal schon öfter verlinkt wurde (aus guten Gründen), zieht seine Schlussfolgerungen nach Gesprächen mit EU- und UK-Diplomaten.
In 10 Thesen räumt er mit Befürchtungen, Träumen und Irrtümern auf, die auf beiden Seiten des Kanals zu finden sind – allerdings mit einem Übergewicht auf der britischen – und sortiert das, was zuweilen als chaotisches Rauschen durch die Medien geht. Er begründet, wie er zu seinen Vorhersagen über den Verhandlungsfahrplan, die nordirische Grenze, eine Übergangsphase, die zukünftigen Handelsbeziehungen, die politische Partnerschaft, die Rolle Londons, über EU-Zugeständnisse und rote Linien kommt.
Sein Fazit: Es wird einen Vertrag geben, aber er wird das Vereinigte Königreich einiges kosten: Geld, Mitspracherechte, Handlungsfreiheit – in ökonomischer und sozialer Hinsicht.
Dieses Fazit wird von einigen noch als zu optimistisch eingestuft, denn die Gefahr, dass die Verhandlungen komplett scheitern, scheint längst nicht gebannt. Verständlicher Einwand, wenn man sich anschaut, was zuletzt auf der Agenda in Brüssel stand. Es wirkt so, als ob die Ratlosigkeit darüber, wie man bei den Streitfragen konkret weitermachen soll, auf beiden Seiten recht groß ist.
Barnier jedenfalls ist sichtlich ungeduldig, und forderte gestern Großbritannien auf, sich zu entscheiden, welchem Modell es eher folgen möchte: dem der EU oder dem der USA. Dies vor dem Hintergrund, dass UK-Kabinettsmitglieder zur Charmeoffensive ausschwärmen, in EU-Länder und anderswo. Das, worauf die britische Seite hinarbeitet, nämlich die Einigkeit des EU-Blocks aufzubrechen, scheint Barniers Rolle nun doch zu schwächen.
Die beiden Guardian-Texte geben einen guten Überblick über die Brexit-Verhandlungen und -Aussichten, ohne dass man Gefahr läuft, sich mit den Ereignissen in Westminster zu verzetteln.
Neoliberalismus, meisterhaft zerlegt
piqer:
Christian Odendahl
Neoliberalismus ist ein politischer Kampfbegriff, und das ist auch nicht mehr zu ändern, allen Versuchen von Liberalen zum Trotz, ihn historisch zu erklären. Doch die Ideen und Rezepte des Neoliberalismus sind allgegenwärtig.
That neoliberalism is a slippery, shifting concept, with no explicit lobby of defenders, does not mean that it is irrelevant or unreal. … Much of our contemporary policy discussion remains infused with norms and principles supposedly grounded in homo economicus.
Dieser Text von Dani Rodrik ist das beste, was es aus ÖkonomInnensicht zum Thema Neoliberalismus zu lesen gibt. Er ist ein Essay, also nicht kurz, aber jede Minute wert.
Für moderne, wissenschaftliche ÖkonomInnen — also keine FDP-ÖkonomInnen mit ihren Mickey-Mouse-Modellen — ist es ein Ärgernis, dass nicht-ÖkonomInnen oft glauben, die Ökonomik sei so eine Art wissenschaftlicher Neoliberalismus.
Neoliberalism and its customary remedies—always more markets, always less government—are in fact a perversion of mainstream economics. Good economists know that the correct answer to any question in economics is: it depends.
Doch trifft Ökonomen Mitschuld, und die arbeitet Rodrik meisterhaft heraus.
Perhaps maps offer the best analogy. Just like economic models, maps are highly stylized representations of reality. They are useful precisely because they abstract from many real world details that would get in the way. … But abstraction also implies that we need a different map depending on the nature of our journey. … Economists tend to be very good at making maps, but not good enough at choosing the one most suited to the task at hand. … As a result, economists’ contributions to public debate are often biased in one direction, in favor of more trade, more finance, and less government. That is why economists have developed a reputation as cheerleaders for neoliberalism.
Der Text schließt mit einer Betrachtung von Globalisierung aus einer wirklich ökonomischen Perspektive. Sehr, sehr lesenswert.
Die FAZ versteht die Aufregung um die Paradise Papers nicht. Ist doch alles legal?
piqer:
Frederik Fischer
Das ist eine Empfehlung mit Einschränkungen. Den Text von FAZ-Autor Rainer Hank könnte man leicht zerreißen. Das fängt an bei seiner Interpretation der #metoo-Kampagne als „Kampf gegen Männer“ und zieht sich als unangenehm polemischer Ton durch den kompletten Text („die Kampagneros der Paradise Papers“). Auch die Grundlage seiner Argumentation, in der er versucht, das Rechtssystem von moralischen Vorstellungen zu lösen, um der Empörung über die legalen Machenschaften etwas entgegenzustellen, die die Paradise Papers beschreiben, steht auf tönernen Füßen. Jeder Jura-Ersti weiß, dass sich Recht und Moral nicht so leicht voneinander trennen lassen.
Diese Schnitzer sind schade, denn der Text enthält auch einige lohnende Denkanstöße. So stellt er die hiesige Steuertrickserei von Apple in einen globalen Kontext. Hierzulande zahlt Apple lediglich 25 Millionen Euro, insgesamt entrichtet das Unternehmen aber 16 Milliarden Dollar und liegt damit gemessen am Jahresgewinn von 62 Milliarden Dollar im Schnitt.Auch der Exkurs in die historischen Anfänge der Unternehmenssteuer sind erhellend. Sie führen uns nach Preußen im Jahr 1851, wo erstmals eine sogenannte „Körperschaftssteuer“ von Unternehmen erhoben wurde, für die Nutzung der staatlichen Infrastruktur, die damals noch überwiegend physisch war (Straßen, Schifffahrtswege, Bildungseinrichtungen, etc.) – eine Logik, die in Zeiten der Digitalisierung natürlich immer seltener greift und die daher angepasst werden muss (und seit dem 19. Jahrhundert natürlich längst mehrmals angepasst wurde). Aber Hank weist darauf hin, dass Deutschland von der aktuellen Regelung durchaus auch profitiert.
Würde man das Wertschöpfungsprinzip aufgeben und etwa die jeweiligen Umsätze in den einzelnen Ländern besteuern, würde der deutsche Staatshaushalt darunter dramatisch leiden. Volkswagen zum Beispiel nimmt nur 20 Prozent seines Geldes hierzulande ein, zahlt aber mehr als 60 Prozent seiner Steuern hier.
Dieser Text will herausfinden, ob die Lobbyisten uns regieren
piqer:
Jannis Brühl
Die Bevölkerung hat nichts mehr zu sagen, Wirtschaftslobbyisten kontrollieren die Regierung! Diesen Vorwurf, diese (auch in Bestsellern) verbreitete Annahme greift der Artikel auf und spricht mit Beteiligten. Eine Fallstudie über den Abgasskandal und den großen Kampf für sauberere Luft, ein differenzierter Blick auf ein Thema, zu dem alle schon alles zu wissen meinen.
EU-Parlamentsabgeordnete erklären, warum sie sich den Wünschen der Autoindustrie (die Merkels Placet hatten) nicht widersetzten. Die Antworten sind banal: Man könne nicht alle Vetos „verfeuern“, man wolle pragmatisch sein und nicht ewig aufs nächste Gesetz warten. Und ein Bandscheibenvorfall.
Es wird einem ganz anders, wenn man liest, wie Gesetze von Industrieverbänden geschrieben werden. Aber Stichwort gefühlte Wahrheit: Das sei nichts neues, sagt ein Lobbyforscher. Unterschied zur Nachkriegszeit sei aber, dass der Staat überfordert sei, weil er so viele Bereiche der Gesellschaft regeln müsse. Think Tanks und Stiftungen mit Unternehmen im Rücken nähmen ihm die Arbeit gerne ab – und brächten so ihre Agenda durch.
Die Autorin zitiert auch die interessante Studie, nach der langfristig die „Umweltlobby“ am längeren Hebel sitzt:
„Die Wirtschaft hat zwar viel mehr Lobbyisten als zivilgesellschaftliche Gruppen. Aber wir sehen nicht, dass sich dieser Größenvorteil auch in einen Einflussvorteil überträgt.“ Umweltverbände oder Gewerkschaften haben häufig viele Bürger hinter sich, Umwelt ist seit Jahrzehnten ein mediales Großthema, auf Internet-Plattformen wie Campact.de werden heute innerhalb kurzer Zeit Hunderttausende von Unterschriften zu Umweltthemen gesammelt(…)Kurzfristig ist die Autoindustrie vielleicht in der Lage, Gesetze zu verwässern. Aber langfristig betrachtet war die Umweltlobby eben sehr einflussreich“, so Klüver. Einfluss bedeute eben auch, Themen auf die Agenda zu setzen
Schade ist nur das wachsweiche Fazit (der Bürger wisse nicht genau, was er denn wolle). Dennoch lesenswert, weil unaufgeregt.
Die Arbeitsagentur will Hartz-IV-Empfänger nicht stigmatisieren – und wird es doch
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Rico Grimm
Wenn du Hartz-IV bekommst und deine Waschmaschine kaputt geht, hast du ein Problem. Denn eine neue zu kaufen frisst den kompletten Monatssatz auf, den du vom Amt bekommst. Damit Arbeitslosengeldempfänger sich nicht zwischen Essen und Waschen entscheiden müssen, zahlt die Arbeitsagentur in solchen Fällen eine Nothilfe. Bisher hat sie dafür an ihren Standorten Automaten benutzt, die aber fehleranfällig und teuer sind. Dafür hat sie nun eine neue Lösung gefunden. Mit Hilfe des Berliner Start-Ups „Barzahlen“ bekommen Arbeitslose, die kein Konto haben oder dringend Geld brauchen, einen Coupon, den sie an der Supermarktkasse einlösen können. Die Arbeitsagentur verspricht laut SZ:
Die Auszahlung der Barmittel erfolgt unkompliziert, ohne Wartezeit und diskriminierungsfrei im normalen Lebensumfeld des Kunden.
Die Scheine für Arbeitslose sehen genauso aus wie alle anderen Scheine, die unser Partner Barzahlen.de ausstellt
All das mag stimmen, nur das mit der Diskriminierung wahrscheinlich nicht. Denn habt ihr jemals jemanden gesehen, der sich mit einem Coupon, der nicht aus dem Pfandautomaten stammt, an einer Supermarktkasse Geld auszahlen lassen hat?
Wenn das System 2018 eingeführt wird und jemand mit so einem Coupon zur Kasse geht, wird klar sein: dieser Mensch bekommt Hartz-IV. Der Demütigung um Geld bitten zu müssen, um überhaupt Essen zu können, wird so eine zweite folgen.