Neue Serie

Braucht Deutschland Industriepolitik – und wenn ja, welche?

Auch jenseits der gegenwärtigen Krisen ist klar, dass der Staat der Wirtschaft bei der Transformation helfen muss – eine Möglichkeit dafür ist die Industriepolitik. In einer neuen Makronom-Serie erörtern wir deren Vor- und Nachteile.

Bild: Pixabay

Die letzten Jahre haben die Wirtschaft weltweit mit neuen, aber jeweils andersartigen Krisen konfrontiert. Ob nun Ukraine-Krieg oder Corona-Pandemie: In beiden Krisen half der Staat als Retter, nicht nur, aber vor allem auch in Deutschland.

Beide Krisen trafen das deutsche Wirtschaftsmodell im Kern. Was zuvor als Wachstumsmotor wirkte, stellte sich danach als Risiko heraus: Die starke Außenhandelsverflechtung wurde in Lieferkettenabbrüchen sichtbar und die Abhängigkeit von billig aus Russland importierten fossilen Energieträgern führte zu Problemen in den energieintensiven Wirtschaftsbereichen und in den Privathaushalten.

Auch jenseits dieser akuten Krisen ist klar, dass der Staat der Wirtschaft bei der Transformation helfen muss – eine Möglichkeit ist die Industriepolitik.

Was ist Industriepolitik?

Aber was genau ist das eigentlich? In einer engen Definition könnte Industriepolitik als „die gezielte Beeinflussung der sektoralen Produktionsstruktur einer Volkswirtschaft durch den Staat“ bezeichnet werden. Damit scheint das Produzierende Gewerbe gemeint. Die zunehmende Bedeutung von wissensbasierten Sektoren macht es aber notwendig, die gesamte Wirtschaftsstruktur in diese Definition einzubeziehen, also auch bestimmte Dienstleistungen. Dies tut das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) offenkundig, wenn es eine moderne Industriepolitik folgendermaßen abgrenzt: „Dazu gehören zum Beispiel der Maschinen- und Anlagenbau, die Mikroelektronik, die Produktionstechnik, die Werkstofftechnologie, die Bio- und Nanotechnologie, die Energie- und Umwelttechnik, Mobilität und Logistik, Gesundheitswirtschaft und Medizintechnik sowie die Informations- und Kommunikationstechnologie.“

Wirtschaftswissenschaftlich werden Staatseingriffe dadurch begründet, dass der Staat dann tätig werden muss, wenn der Markt versagt:

  • Wenn externe Kosten entstehen, die nicht im Marktpreis internalisiert, sondern auf die gesamte Gesellschaft abgewälzt werden. Dies gilt aber auch bei positiven externen Effekten, von denen die gesamte Wirtschaft profitiert und die sich ebenfalls nicht internalisieren lassen.
  • Wenn Unsicherheit aus politischen Gründen das normale Unternehmensrisiko übersteigt und als Investitionshemmnis wirkt.
  • Wenn Netzwerkeffekte und hohe Fixkosten sehr große Unternehmen bevorzugen und den Wettbewerb gefährden.
  • Wenn Pfadabhängigkeiten dafür sorgen, dass Unternehmen tendenziell an bestehenden Technologien festhalten.

Wann diese Gründe allerdings tatsächlich dazu führen, dass gesamtwirtschaftlich erwünschte Investitionen ausbleiben und der Staat entsprechend aktiv werden muss, ist nicht immer eindeutig. Von vielen Ökonomen wird zudem bezweifelt, dass der Staat genügend Wissen über den Markt haben kann, um die richtigen Prioritäten zu setzen. Ein direkter, lenkender Eingriff,  sogenannte vertikale Industriepolitik, wird auch vom Sachverständigenrat für Wirtschaft als wenig sinnvoll angesehen. Er setzt sich für eine horizontale Industriepolitik ein, die für wirtschaftsfreundliche Rahmenbedingungen sorgt.

Um nicht einzelne Sektoren zu bevorzugen, sondern Beiträge zur Problemlösung für gesellschaftliche Herausforderungen zu leisten, wendet die Europäische Union in ihrem Programm Horizon Europe einen branchenübergreifenden missionsorientierten Ansatz an, den Mariana Mazzucato vorgeschlagen hatte. Die EU stellt für den Zeitraum 2021 bis 2027 Mittel im Umfang von 95,5 Milliarden Euro für verschiedene Themenbereiche zur Verfügung: Anpassung an den Klimawandel, Krebsbekämpfung, Wiederherstellung der Ozeane, Smart Cities, Boden-Regeneration. Allerdings ist bei sehr breit aufgestellten Projekten die Ergebnisanalyse schwierig.

Ziele

Während in der Vergangenheit häufig Maßnahmen ergriffen wurden, die einen Strukturwandel (zu Lasten der Stahlproduktion und des Kohlebergbaus) verlangsamen und seine sozialen Härten abmildern sollten, orientiert sich die neue Industriepolitik an der Zukunft zugewandten Zielen, ein Strukturwandel in Richtung auf zukünftig vermutete erfolgreiche Technologien zur Bewältigung der ökologischen und digitalen Transformation steht im Vordergrund. Dabei werden Förderbereiche identifiziert, die auch in anderen Politikfeldern eine Rolle spielen:

  • Aus geopolitischen Gründen werden Produktionsstätten unterstützt, die für eine größere Unabhängigkeit von unsicheren Handelspartnern sorgen, um Lieferengpässe zu vermeiden und die Industrie resilienter zu machen.
  • Zukunftstechnologien wie etwa der Einsatz von Wasserstoff als Energielieferant werden spezifisch gefördert. Aber auch ganz allgemein wird Forschung und Innovation In privaten Unternehmen unterstützt.
  • Die Verkehrswende soll durch die Förderung der Elektromobilität beschleunigt werden.
  • Klimapolitische Ziele sollen durch geförderte Investitionen in Solar- oder Windenergie erreicht werden.
  • Die wettbewerbliche Vielfalt soll durch die explizite Förderung kleiner und mittlerer Unternehmen gesichert werden.
  • Regionalpolitische Ziele sollen dadurch erreicht werden, dass Unternehmen in schwächer entwickelten Regionen besondere Förderung erhalten.

Die Förderstruktur muss vor dem Hintergrund des globalen Wettbewerbs bewertet werden. Deutschland befürchtet, international technologisch ins Hintertreffen zu geraten und dies vor allem gegenüber China, das sehr aggressiv seine „Made in China 2025“-Strategie verfolgt, und den USA, die ihre eigenen Industrien mit dem Inflation Reduction Act massiv unterstützen. Daher legt die Industriepolitik ihren Fokus auf die Stellung Deutschlands und Europas in der gesamten Welthandelsordnung und auf die Frage, wer die globale Technologieführerschaft und damit Dominanz erringt.

Maßnahmen

Der frühere Wirtschaftsweise Christoph M. Schmidt beispielsweise sieht an einer Politik viel zu bemängeln, die einzelne Unternehmen oder Branchen durch die Zuweisung finanzieller Vorteile oder den Schutz vor Wettbewerbern begünstigt. Zweifellos nützt es dem Standort Deutschland, wenn stattdessen die Rahmenbedingungen für die Industrie verbessert werden, wenn also die Verwaltung funktioniert, das Rechtssystem stabil, die Infrastruktur ausgebaut, schulische und universitäre Bildung allen zugänglich und der Wettbewerb lebendig ist. Dafür sind nicht allein Finanzmittel erforderlich. Ebenso wichtig sind Regelsetzungen und Bestimmungen der allgemeinen Politik. Horizontale Maßnahmen sind allerdings zu allgemein, um als spezifisch industriepolitisch angesehen zu werden.

Wenn aber auch unter optimalen marktwirtschaftlichen Bedingungen strategische wirtschaftspolitische Ziele nicht erreicht werden können, muss der Staat selbst unternehmerisch tätig werden oder private Unternehmen unterstützen. Dies geschieht durch Beteiligungen, direkte Zuschüsse, durch zinslose oder zinsbegünstigte Kredite, durch Bürgschaften und Kreditversicherungen, Steuer- und Abschreibungsvergünstigungen. Diese Instrumente beziehen sich vor allem auf den Kapitaleinsatz. Aber auch Betriebskosten, wie z.B. für den Energieeinsatz, können durch staatliche Förderung gesenkt werden.

Die Finanzmittel werden auf den unterschiedlichsten Ebenen gewährt: durch Kommunen, Länder und den Bund, hier nicht nur durch das BMWK sondern ebenso z.B. durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung. Inzwischen hat die EU-Kommission mit verschiedenen Programmen wie dem Green Deal oder Horizon Europe eine wichtige Rolle übernommen. Die Finanzierung erfolgt auf diesen Ebenen sowohl durch reguläre Haushaltsmittel, aber auch durch verschiedene Fonds (z.B. auf Bundesebene durch den Klima- und Transformationsfonds).

Offene Fragen

Die aktuellen Zuschüsse für den Bau von Halbleiterfabriken in Magdeburg und Dresden haben die Kritik an der vertikalen Industriepolitik wieder aufleben lassen. Dabei werden verschiedene Probleme benannt:

  • Inwieweit sind dem Staat marktwirtschaftliche Entscheidungen zuzutrauen?
  • Wie ist die Finanzierung der Industriepolitik zu beurteilen? Sollte sie aus allgemeinen Haushaltsmitteln oder durch Fonds erfolgen?
  • Wenn Steuermittel spezifische Fördermaßnahmen finanzieren, fehlen die Mittel bei anderen wichtigen Projekten. Ist immer transparent, nach welchen Kriterien die Mittel verteilt werden?
  • Sollten die Mittel nach dem Gießkannenprinzip verteilt werden, oder kommt es darauf an, mit einem hohen Einzelbetrag Einfluss zu nehmen?
  • Inwieweit lässt sich das jeweilige Volumen der Zuschüsse rechtfertigen? Gibt es eine Neigung der PolitikerInnen, sich mit markanten Projekten ein Denkmal zu setzen?
  • Ist angesichts der Förderprogramme in China und den USA mit einem Subventionswettlauf zu rechnen? Oder sind diese Programme ein berechtigter Grund für die zunehmende Förderung in Deutschland?
  • Wie wirken die verschiedenen Instrumente und Ebenen zusammen? Kommt es zu Überschneidungen und Doppelförderungen?
  • Wie werden eventuell entstehende Gewinne wieder eingesammelt?
  • Welche Bedeutung haben nicht-finanzielle Maßnahmen wie Regulierungen und wettbewerbspolitische Entscheidungen für die Industriepolitik?

Diese und weitere Fragen werden wir in einer neuen Makronom-Serie zur Industriepolitik zu beantworten versuchen. Wie schon frühere Serien wird auch die Industriepolitik-Serie einen „offenen“ Charakter haben: Wir haben bereits einige AutorInnen für verschiedene Beiträge gewinnen können. Es besteht aber die Möglichkeit, noch eigene Akzente zu setzen oder mit Repliken auf bereits erschienene Beiträge zu reagieren. Themenvorschläge schicken Sie bitte an [email protected].

 

Zur Autorin:

Susanne Erbe ist Redakteurin beim Makronom. Bis Ende 2020 war sie stellvertretende Chefredakteurin der Zeitschrift Wirtschaftsdienst. Auf Twitter: @susanneerbe