Ungleichheit & Migration

Europas Fluch des Wohlstands

Ein anhaltender Migrationsdruck und eine quasi automatisch weiter steigende Ungleichheit vergiften die politische Atmosphäre in Europa. Es macht allerdings keinen Sinn, „Populisten“ Unverantwortlichkeit vorzuwerfen oder zu glauben, dass die Präferenzen der Menschen durch „Fake News“ verzerrt worden wären. Denn die Probleme sind echt – und sie erfordern echte Lösungen. Ein Kommentar von Branko Milanovic.

Felsküste von Manarola in Ligurien: Noch nie in der Menschheitsgeschichte hat jemand so gut gelebt wie die Westeuropäer von heute. Foto: Pixabay

Niemandem, der insbesondere im Sommer durch Westeuropa reist, wird es gelingen, nicht durch den Wohlstand, die Schönheit und die Lebensqualität des Kontinents beeindruckt zu werden. Letzteres ist in den Vereinigten Staaten – trotz des höheren Pro-Kopf-Einkommens – weniger offensichtlich, zum Teil deswegen, weil das Land größer und weniger dicht bevölkert ist: Die USA bieten dem Reisenden nicht das Spektakel einer tadellos erhaltenen Landschaft, die mit zahlreichen Schlössern, Museen, exzellenten Restaurants und Wi-Fi ausgestattet ist, wie man es in Frankreich, Italien oder Spanien erlebt. Ich denke, man kann durchaus behaupten, dass noch nie jemand in der Menschheitsgeschichte so gut gelebt hat wie die Westeuropäer von heute, und insbesondere die Italiener.

Aber wie jeder weiß, gibt es quer durch den Kontinent eine tiefe Unzufriedenheit, nicht zuletzt in Italien: Die Menschen sind unglücklich mit der Art, wie die europäische Politik funktioniert, mit der Immigration, den Aussichten der jungen Generation, prekären Jobs, dem Unvermögen mit billigeren Arbeitskräften in Asien konkurrieren oder zu den amerikanischen IT-Konzernen und der US-Start-Up-Kultur aufschließen zu können. Aber das soll heute nicht mein Thema sein. Stattdessen möchte ich mich auf die zwei „Flüche des Wohlstands“ konzentrieren, die Europas Prosperität paradoxerweise entblößt hat.

Migrationsdruck

Der erste Fluch dreht sich um die Migration. Die Tatsache, dass die Europäische Union so prosperierend und friedlich im Vergleich zu ihren östlichen Nachbarn (Ukraine, Moldawien, dem Balkan, der Türkei) und – noch wichtiger – zum Nahen Osten und Afrika ist, bedeutet, dass sie ein exzellentes Migrationsziel darstellt.

Die Einkommenslücke zwischen „Kern“-Europa (der früheren EU 15) und dem Nahen Osten und Afrika ist nicht nur gewaltig, sie ist sogar noch angewachsen. Heutzutage liegt das westeuropäische BIP pro Kopf nur knapp unter 40.000 internationalen Dollar. In Subsahara-Afrika liegt es bei 3.500 Dollar – eine Lücke von 11 zu 1. 1970 lag das BIP pro Kopf in Europa bei 18.000 Dollar, in der Subsahara-Region bei 2.600 – eine Lücke von 7 zu 1. Weil die Menschen in Afrika ihre Einkommen durch das Auswandern nach Europa also um über das Zehnfache steigern können, ist es wenig überraschend, dass sie dies weiter tun werden, und das trotz aller Hindernisse, die ihnen Europa in den Weg legt. Würde es etwa ein Holländer anders machen, wenn er zuhause 50.000 Euro pro Jahr verdienen könnte, aber in Neuseeland eine halbe Million?

Angesichts der Größe der Einkommenslücke wird der Migrationsdruck für mindestens weitere 50 Jahre anhalten oder noch größer werden – selbst wenn Afrika in diesem Jahrhundert einen Aufholprozess zu Europa einleiten könnte (was bedeuten würde, stärker zu wachsen als die EU). Dieser Druck ist auch nicht statisch, weil Afrika der Kontinent mit dem höchsten erwarteten Bevölkerungswachstum ist und die Zahl der potenziellen Migranten somit noch um ein Vielfaches steigen wird. Während das Bevölkerungsverhältnis zwischen Subsahara-Afrika und der EU heute bei einer Milliarde zu 500 Millionen liegt, dürfte sie in rund 30 Jahren 2,2 Milliarden zu 500 Millionen betragen.

Aber wie jeder weiß, erzeugt die die Migration einen auf Dauer untragbaren politischen Druck auf die europäischen Länder. Das gesamte politische System befindet sich in einem Schockzustand, wie die Krise in Italien zeigt, das von seinen europäischen Partnern bei der Bewältigung der Migration alleine gelassen wurde, oder wie Österreichs und Ungarns Entscheidungen, Grenzwälle zu errichten, illustrieren. Es gibt kaum ein Land in Europa, dessen politisches System nicht nur die Migrationsfrage durchgeschüttelt worden ist: Rechtsrucke in Schweden, den Niederlanden und Dänemark, der Einzug der AfD in den Deutschen Bundestag, die wieder zunehmende Beliebtheit der Goldenen Morgenröte in Griechenland.

Ungleichheit

Das zweite Thema, das neben der Migration zu Europas politischer Malaise beiträgt, ist die steigende Ungleichheit der Vermögen und Einkommen. Die europäische Ungleichheit ist zumindest teilweise ebenfalls ein „Fluch des Wohlstands“: Das Vermögen jener Länder, deren Jahreseinkommen über mehrere Jahrzehnte zulegen, wächst nicht nur im Verhältnis zum Einkommen, sondern stärker. Dies liegt schlicht an den Ersparnissen und der Akkumulation von Vermögen. Die Schweiz ist nicht in Bezug auf die jährlich produzierten Waren und Dienstleistungen reicher als Indien (das Verhältnis zwischen dem Pro-Kopf-Einkommen beider Länder beträgt ungefähr 50 zu 1). Die Schweiz ist auch „reicher“ hinsichtlich des Vermögens pro Kopf (das Verhältnis liegt ungefähr bei 100 zu 1).

Vermögensdaten laut Davies, Shorrocks und Lluveras (2013 Credit Suisse Report)

Die Implikation der steigenden Vermögen/Einkommen-Quote ist, dass die Summe der aus Kapital erzielten Einkommen tendenziell schneller wächst als das BIP. Wenn das Vermögen sehr stark konzentriert ist, wie es in allen reichen Ländern der Fall ist, führt der steigende Kapitalanteil am Gesamtoutput fast automatisch zu einer steigenden interpersonellen Ungleichheit. Kurz gesagt: Die sehr ungleich verteilten Einkommensquellen (Profite, Zinsen, Dividenden) sind schneller gewachsen als die weniger ungleich verteilte Einkommensquelle (Löhne).

Es macht keinen Sinn, „Populisten“ Unverantwortlichkeit vorzuwerfen oder zu glauben, dass die Präferenzen der Menschen durch „Fake News“ verzerrt worden wären

Wenn also eben jener Wachstumsprozess tendenziell eine höhere Ungleichheit produziert, ist es eindeutig, dass stärkere Maßnahmen gebraucht werden, um gegen diesen Anstieg der Ungleichheit vorzugehen. Aber in Europa gibt es wie in den USA keinen ausreichenden politischen Willen, die Steuern für Spitzenverdiener zu erhöhen, die Besteuerung von Erbschaften in vielen Ländern wieder einzuführen oder eine Politik zugunsten kleiner, anstatt großer Investoren zu machen. Es gibt also eine politische Lähmung im Angesicht eines politischen Aufruhrs.

Führen wir diese beiden Trends zusammen: Ein anhaltender Migrationsdruck und eine quasi automatisch weiter steigende Ungleichheit sind die zwei Probleme, die heutzutage Europas politische Atmosphäre vergiften. Angesichts der Schwierigkeit, diese entschieden anzugehen, kommt man wenig überraschend zu der Einschätzung, dass die politischen Erdbeben weiter gehen werden. Sie werden nicht in ein paar Jahren verschwinden. Es macht auch keinen Sinn, „Populisten“ Unverantwortlichkeit vorzuwerfen oder zu glauben, dass die Präferenzen der Menschen durch „Fake News“ verzerrt worden wären. Die Probleme sind echt. Und sie erfordern echte Lösungen.

 

Zum Autor:

Branko Milanovic ist Professor an der City University of New York und gilt als einer der weltweit renommiertesten Forscher auf dem Gebiet der Einkommensverteilung. Milanovic war lange Zeit leitender Ökonom in der Forschungsabteilung der Weltbank. Er ist Autor zahlreicher Bücher und von mehr als 40 Studien zum Thema Ungleichheit und Armut. Außerdem betreibt er den Blog Global Inequality, wo dieser Beitrag zuerst in englischer Sprache erschienen ist.