Fremde Federn

Blair-Syndrom, Krypto-König, stinkende Agrarpolitik

Diese Woche unter anderem in den Fremden Federn: Wie sich der digitale Kapitalismus bändigen ließe, warum es Investitionen in Afrika braucht und wieso sich nur noch Reiche eine spezielle Form des Sozialismus leisten können.

Foto: Jojo Bombardo via Flickr (CC BY-ND 2.0)

In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.

Mögliche Instrumente im Kampf gegen die Giganten

piqer:
Jörn Klare

Angeregt von der SPD-Chefin Andrea Nahles spekuliert Alexander Hagelüken in einem interessanten Kommentar über die Chancen, den „digitale Kapitalismus zu bändigen“. Erfreulich daran ist erst einmal, dass überhaupt die Möglichkeit in Betracht gezogen wird, global tätige Giganten wie Facebook, Google, Amazon und Apple – von den chinesischen Internetkonzernen Bai­du, Ali­baba und Ten­cent ist hier noch gar nicht die Rede – ernsthaft zu kontrollieren. Zu oft klingen Aussagen zu dem Thema gerade auch aus der Politik vor allem resigniert und fatalistisch.

„Mich treibt das wirklich um, wie man die fortschreitende Spaltung der Gesellschaft eindämmt“, sagte vor ein paar Tagen nicht Andrea Nahles – sondern Siemens-Chef Joe Kaeser.

Auch Hagelüken möchte da in seinem kurzen Kommentar – Lesezeit gut fünf Minuten – keine allzu großen Hoffnungen wecken. Dabei ist die Palette der möglichen Instrumente durchaus breit. Sie reicht vom ordnungspolitischen Wettbewerbsrecht, Verbraucherschutz, Steuerrecht, Arbeitnehmerschutz bis hin zur sicher diskussionswürdigen Empfehlung, im Sinne der Wertschöpfung in Aktien zu investieren.

Ein Manko bei all den schönen Ideen ist die Notwendigkeit zur internationalen Zusammenarbeit. Die ist aufgrund unterschiedlicher Interessenlagen, allein wenn man nur an die Weigerung Irlands denkt, berechtigte Steuern von Apple anzunehmen, ganz und gar nicht einfach und doch alternativlos.

Was an der Agrarpolitik der EU stinkt

piqer:
David Kretz

„In der aktuellen Periode von 2014 bis 2020 sind 38 Prozent aller EU-Ausgaben für die Gemeinsame Agrarpolitik der EU veranschlagt; insgesamt 408 Milliarden Euro.“

Von diesem Kuchen wollen viele essen. Ein Journalistenteam aus acht EU-Ländern hat recherchiert, wer am meisten von der Förderung profitiert und festgestellt, dass es nicht immer die innovativsten oder umweltfreundlichsten Betriebe sind. Im Gegenteil, gerade die Agrarbetriebe, die von der EU auch juristisch wegen Verstößen gegen Umweltauflagen belangt werden, streifen oft höchste Förderungen ein.

Mit welchen Tricks hier gearbeitet wird, um Prüfungen und Auflagen zu entgehen, legt der Artikel anschaulich am Beispiel Österreich dar. Dabei sind es manchmal gar nicht nur die Bauern, die Kosten sparen wollen, sondern schlecht verfasste und exekutierbare Gesetze, die zu ungewollten, systemisch negativen Effekten führen.

Komplexe Materie klar und lesbar aufbereitet, große Zusammenhänge konkret dargestellt, Urteile nuanciert gefällt, kurzum: sehr zu empfehlen.

Mit „Gemeinnützigkeit“ lassen sich sehr viele Steuern sparen – dabei weiß niemand, was es bedeutet

piqer:
Rico Grimm

Manchmal, wenn ich bei einem Vortrag über politische Themen mein Publikum mal richtig schocken will, dann sage ich folgenden Satz: „Wer die Welt wirklich verändern will, sollte sich mit Steuerrecht beschäftigen“. Da gucken dann alle immer etwas betreten und halten das wahrscheinlich auch für großen Schmarrn.

Hier aber, in diesem Text, kommt wieder so ein Beispiel für meine These. Denn da ist ein vermeintlich kleines, unsexy Detail, das dafür sorgt, dass eine wichtige NGO kurz mal am Abgrund balancierte, reiche Unternehmerfamilien die Debatten in diesem Land manipulieren können oder eine Redaktion wie Correctiv auch Workshops geben muss, um ihre eigentliche journalistische Arbeit zu finanzieren.

Es geht um eine einfache Frage: Was ist Gemeinnützigkeit? Der Aktivist Stefan Diefenbach-Trommer hat diese Frage 404 Finanzämtern in Deutschland gestellt. Das Ergebnis ist erschreckend: Niemand von den Prüfern weiß es. „Man hätte ebenso gut eine Münze werfen können.“

Warum es Investitionen in Afrika braucht

piqer:
Cornelia Daheim

Ausnahmsweise mal eine Empfehlung eines Artikels hinter einer Bezahlschranke – weil das Thema so wichtig ist. Im Magazin Bilanz (online lesbar bei Blendle) wirft ein Interview mit Paul Kagame, dem neuen Vorsitzenden der Afrikanischen Union, einen Blick auf die Entwicklung in und Perspektiven von Afrika:

In meiner Antrittsrede habe ich auch daran erinnert, dass wir eigentlich wissen, worin das Kernproblem besteht. Lassen Sie es mich Ihnen erklären: Viele Afrikaner haben zu Hause oder im Ausland gewisse Fähigkeiten und Fertigkeiten erworben, deshalb arbeiten sie auch erfolgreich in anderen Teilen der Welt, in Nordamerika oder Europa zum Beispiel. Das veranlasst weitere Menschen in Afrika, ihr Zuhause zu verlassen und sich woanders Arbeit zu suchen. Wir müssen herausfinden, wie wir diese talentierten Menschen, insbesondere die jungen Menschen, veranlassen können, zurückzukommen oder gar nicht erst fortzugehen.

Kagame „gilt als Afrikas Hoffnungsträger“, ist Staatschef von Ruanda. Seine Haltung, es brauche in Afrika Investitionen, besonders in Menschen, und zwar im Kontext verlässlicher Rahmenbedingungen und Rechtsordnungen, um in Afrika Wachstum schaffen zu können, setzt die hiesige Debatte über die Zukunft der Arbeit in einen weiteren Kontext. Zu oft denken wir dieses Thema wohl in rein nationaler Perspektive, oder aus der Sicht westlicher Länder mit bereits erreichtem hohem Wohlstand. Dass in globalisierten Arbeitsmärkten auch Migrationsströme und Sicherheit mit der (weltweiten) Verteilung von Arbeit und Wohlstand zu tun haben, wird hier sehr deutlich.

Amazon macht als Firma eigentlich keinen Sinn – dieser Text über die Firma dafür umso mehr

piqer:
Rico Grimm

Wunderbarer Text für alle, die sich für digitale Wirtschaft und für das Schreiben darüber interessieren. Denn normalerweise dürfte es eine Firma wie Amazon nicht geben, eine Firma,  „die Seife verkauft und Seifenopern produziert“, die Zehntausende Austräger beschäftigt und die wichtigste Cloud-Computing-Plattform der Welt betreibt, die inzwischen die drittwertvollste Firma der Erde ist, aber weniger Gewinn macht als Southwest Airlines, die auf Rang 426 stehen. „Amazon wurde im Cyberspace geboren, aber belegt so viel Fläche wie 90 Empire State Buildings“.

Normalerweise sollte ein Text über ein Unternehmen auch nicht zu viele Zahlen enthalten – dieser Artikel hier bricht mit dieser Regel komplett. Jeden Absatz hat die Autorin Shira Ovide mit Geschäfszahlen, Verkaufsstatistiken und aberwitzigen Dollarsummen vollgepackt ohne dafür zu viel Übersichtlichkeit preizugeben. Und genau deswegen liest er sich – für Interessierte – wie ein Krimi.

Freiheitssicherung statt/gleich bedingungsloses Grundeinkommen

piqer:
Ali Aslan Gümüsay

Eigentlich sind (bereits) 49 Prozent der Deutschen für die Einführung eines „bedingungslosen Grundeinkommens“. Dieses verstanden als soziales Menschenrecht sei:

“Eine finanzielle Zuwendung (…), die jede und jeder qua Mitgliedschaft in der Gesellschaft ausgezahlt bekommt, als Grundrecht, ohne Gegenleistung Monat für Monat.“

Dafür werden Sozialtransfers abgeschafft, Bürokratie abgebaut. Doch die Verfechter, so schreibt Johannes Hillje, zeigen einen sprachlichen Dilettantismus.

Erstens ist Einkommen kognitiv in unserer Gesellschaft an Leistung geknüpft und damit wird die Gleichung Leistung für Nicht-Leistung aufgemacht. Zweitens ist selbst das bedingungslose Grundeinkommen nicht bedingungslos, sondern an gesellschaftliche Regeln geknüpft. Daher sollte ein neuer Begriff her. Der Autor schlägt Freiheitssicherung vor. Und in der Tat klingt das schon einmal ganz anders.

Eine andere Herausforderung wird nur gestreift, nämlich, dass der Vorstoß aus Teilen der SPD für ein solidarisches Grundeinkommen nicht nur diskursiv problematisch ist, sondern eben auch zeigt, dass die SPD sich wohl weiterhin als Arbeit(er)partei statt Bürgerpartei versteht. Denn dieses solidarische Grundeinkommen würde für gemeinnützige Arbeit ausgezahlt. Wenn die Arbeit(er) weniger werden, bräuchte die SPD dagegen vielleicht eher eine Neuorientierung. Meines Erachtens könnte das ein Weg von Arbeit hin zu Gestaltung sein: einem vita activa und gerne auch vita contemplativa.

Macron und das „Blair-Syndrom“

piqer:
Eric Bonse

Über den Besuch von Emmanuel Macron bei US-Präsident Donald Trump ist fast alles gesagt worden. Der Pomp, die Männerfreundschaft, die peinlichen Schuppen – nichts ist der Öffentlichkeit entgangen. Auch die Politik kam nicht zu kurz: Der französische Staatschef präsentierte sich überzeugend als „Monsieur Europe“ – und las Trump im US-Kongress sogar noch die Leviten.

Doch was wird von diesem Staatsbesuch bleiben? Hat Macron es geschafft, Trump umzustimmen – oder wird er als charmanter  „Pudel“ des mächtigsten Mannes der Welt in die Annalen eingehen? Wird er gar ein zweiter Tony Blair? Der ehemalige britische Premier verstand es auch glänzend, sich in Szene zu setzen und als bester Freund der USA zu präsentieren.

Doch die Briten (und die Geschichte) haben es ihm nicht gedankt. Der Irak-Krieg und seine Lügen sind Blair zum Verhängnis geworden. Macron hat sich (noch) nicht so weit in den amerikanischen Sumpf ziehen lassen. Doch auch er läuft Gefahr, dem „Blair-Syndrom“ zu erliegen…

Der widerwillige Krypto-König

piqer:
Jannis Brühl

Ein anderer, ernüchternder Blick auf den Blockchain-Irrsinn. Schneller Reichtum, aber ohne Lamborghini und wilde Partys. Dafür mit gehöriger Melancholie, die Tech-Porträts sonst fremd ist.

In der Reihe „Lunch with the FT“ trifft die Reporterin Vitalik Buterin, Erfinder von Etherum, der nach Bitcoin erfolgreichsten Krypto-Währung. Das Porträt eines guten Programmierers, der etwas geschaffen hat, was ihm über den Kopf wächst.

Sein Leben ist kein Tech-Multimillionär-Klischee: Er hat keine feste Adresse („Ich lasse mich grad einfach nur treiben“), reist zwar nach Singapur, Thailand, China, USA, trifft Putin, erklärt Ethereum und die Blockchain. Die Reporterin trifft ihn in einem Haus in Kalifornien, in dem er und 5 andere Ethereum-Entwickler Algorithmen in Neongrün auf die Scheiben schreiben. Hier arbeitet er an der Zukunft des Geldes, des Netzes. Er besitzt praktisch nur sein Smartphone und einen Beutel mit Klamotten – und gibt sein Alter an, wie es nur Mathematiker tun: „23,96“. Glücklich ist er mit all dem aber nicht:

“Last year it got to the point where [the fame] got more annoying than good”.He recalls a man trailing him around an aeroplane and through an airport, trying to talk to him. Was this something he wanted, this leadership position? He doesn’t miss a beat. “No.” So how did it happen? “Mmmm. Ethereum got big.” He hangs his head, like I’d scolded him.“just so happened that Ethereum evolved without, I guess, other figures quite as large as myself.” Buterin seems downcast…“It’s the luck of the draw, where everyone who won the draw seems to feel like they deserved it for being smarter,” rants Buterin. He impersonates a bitcoin bull: “I was loyal and I was virtuous and I held through and therefore I deserve to have my five mansions and 23 lambos!”

Der Besuch endet dann passend zum Text trocken und plötzlich. Buterin wird nervös. Er will zurück an seinen Computer, online gehen.

Utopie und Realität: Was wurde aus den israelischen Landkommunen?

piqer:
Dirk Liesemer

Vor 70 Jahren, im Mai 1948, wurde der Staat Israel gegründet. Bereits mehr als eine Generation zuvor, im Oktober 1910, hatte eine zionistische Gruppe junger Menschen aus Weißrussland das erste Kibbuz ins Leben gerufen: die genossenschaftlich organisierte Siedlung Degania am Südende des Sees Genezareth. In dieser Langstrecke erzählen der Kulturwissenschaftler Philipp Felsch und die Dokumentarfilmerin Yael Reuveny die Geschichte der Kibbuzbewegung. Gemeinsam haben sie sich aufgemacht, um einige dieser israelischen Landkommunen zu besuchen.

Fast schon vergessen ist heute, welche sozialistischen, anarchistischen und lebensreformerischen Vorstellungen einst zur Gründung der ersten Kibbuzim führten. Die anfangs sehr jungen Mitglieder waren dabei alles andere als kiffende Hedonisten, was nicht heißt, dass nicht gefeiert und getanzt wurde. Tagsüber pflegten sie jedoch eine asketische Lebenshaltung und einen nüchternen Arbeitsethos.

Wie es sich für das Philosophie Magazin gehört, werden die ideengeschichtlichen Hintergründe ausführlich miterzählt. Während einige Kommunen äußerst erfolgreiche Wirtschaftsmodelle entwickelt haben (und deshalb keine neuen Mitglieder aufnehmen), gingen andere, weniger erfolgreiche den Weg der Privatisierung. Es sei eine Ironie der Geschichte, schreiben die beiden Autoren, dass sich nur noch die Reichen diese Art des Sozialismus leisten können. Immerhin wirtschaftet bis heute noch eine Handvoll Kibbuzim nach einem genossenschaftlich-sozialistischen Modell.

Zu Philipp Felsch, Autor des Buches Der lange Sommer der Theorie, gab es hier auch schon mal einen piq.