Fremde Federn

Bioökonomie, Geschichte der Arbeit, Gaddafis Schatz

Was uns die Steinzeitmenschen in puncto Arbeit voraus hatten, mit welchen Mitteln Thomas Piketty die Ungleichheit in Europa senken will und wie sich das immense Vermögen von Libyens Ex-Diktators Muammar al-Gaddafi rund um den Globus verteilt hat.

Foto: Jojo Bombardo via Flickr (CC BY-ND 2.0)

In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.

Thomas Piketty beim Denken und Vorschlagen zusehen

piqer:
Achim Engelberg

Der französische Wirtschaftswissenschaftler Thomas Piketty ist seit seinem Buch Das Kapital im 21. Jahrhundert (2014) ein bekannter und gefragter Mann. Auch sein aktuelles Buch Kapital und Ideologie, das vor der Pandemie erschien, erregte Aufsehen.

Der Essay Die Ideologie der Ungleichheit fußt auf dem monumentalen Werk und die Blätter für deutsche und internationale Politik schalteten ihn so weit frei, dass man tiefe Einblicke bekommt.

Thomas Piketty schlägt dabei große historische Bögen vom Ancien Régime vor der Französischen Revolution bis in unsere Epoche:

Jede menschliche Gesellschaft muss ihre Ungleichheiten rechtfertigen. Sie muss gute Gründe für sie finden, da andernfalls das gesamte politische und soziale Gebäude einzustürzen droht. So bringt jedes Zeitalter eine Reihe kontroverser Diskurse und Ideologien hervor, um Ungleichheit in der Gestalt, in der es sie gibt oder geben sollte, zu legitimieren und wirtschaftliche, soziale und politische Regeln aufzustellen, die geeignet sind, das gesellschaftliche Ganze zu organisieren.

Sein Anliegen dabei zielt aufs Heute:

Zu behaupten, Ungleichheit sei ideologischer und politischer, nicht ökonomischer oder technologischer Natur, heißt daher nicht schon, sie ließe sich wie durch Zauberhand aus der Welt schaffen. Es heißt bloß, sehr viel bescheidener, dass man die ideologisch-institutionelle Vielfalt menschlicher Gesellschaften ernst nehmen und sich vor allen Diskursen hüten muss, die Ungleichheiten naturalisieren und die Existenz von Alternativen leugnen wollen.

Dass die Ungleichheit während der Pandemie stieg und steigt, das ist eine Binse, die nur Ideologen leugnen. Deshalb kam Thomas Piketty im Dezember-Interview für Voxeurop zu folgendem vorläufigen Fazit, das auf eine Ausweitung der Demokratie in die Wirtschaft zielt:

Hinsichtlich der demokratischen Mitbestimmung innerhalb der Unternehmen gab es in den 1970er und 1980er Jahren, von Deutschland getragen, eine Initiative zur Schaffung einer europäischen Direktive, die ein größeres Mitspracherecht der Belegschaft ermöglichen sollte. Dies stieß auf Widerstand von Frankreich und vielen anderen Ländern.

Man muss große soziale Ziele erneut schmackhaft machen, in der Steuerpolitik wie auch im Unternehmensrecht, um die öffentliche Meinung wieder mit Europa zu versöhnen, genauso wie die sozialdemokratische mit der europäischen Idee.

Das war Ende vergangenen Jahres und die Auswirkungen der Ungleichheit werden immer gravierender. Welche Antworten gibt es, um die Ungleichheit auf europäischer Ebene zu bekämpfen? Wie ist es möglich, eine Vermögenssteuer auf europäischer Ebene zu erkämpfen? Über den aktuellen Stand sprach und diskutierte Thomas Piketty diese Woche mit Cansel Kiziltepe und Fabio De Masi.

Mit Bioökonomie zu mehr Nachhaltigkeit: Das EU-Projekt MAGIC

piqer:
Ole Wintermann

Das EU-Projekt MAGIC, an dem die Universität Hohenheim beteiligt ist, befasst sich mit der Frage, in welcher Weise Flächen, die sich für den Anbau von Lebensmitteln nicht (mehr) eignen, für den Anbau von robusteren nachhaltigen Rohstoffen geeignet sein könnten. Diese Fläche entspricht allein in Europa ungefähr der Fläche Frankreichs. Der Anbau selbst wie auch die Pflanzen müssen nachhaltig sein und dürfen nicht zu einem weiteren Abbau der Biosphäre beitragen. Zudem dürfen die Pflanzen und die mit ihnen genutzte Fläche nicht in Konkurrenz treten zur eigentlichen Nahrungsmittelproduktion.

Die Projektleitenden suchen ein- wie auch mehrjährige Pflanzen (bis zu 20-jährige) aus, die ganzheitlich genutzt werden können und nicht zu ausgelaugten Böden führen. Gemeinsam mit den Landwirten, denen diese Flächen gehören, werden detaillierte Schritte vom Aussetzen bzw. der Aussaat, über die Pflege bis hin zur Ernte abgesprochen, da es sich meist um vorher bezüglich der Behandlung unbekannte Pflanzen handelt. Ziel ist aber für die Projektverantwortlichen stets, dass der Landwirt dadurch keinen unnötigen Mehraufwand hat, sondern dass er im Gegenteil den Ertrag seiner Flächen steigern kann. Dabei hat sich gezeigt, dass der Aufwand für Pflege und Düngung direkt davon abhängt, in welcher Weise die ausgewählte Pflanze auf die Standortbedingungen abgestimmt ist.

Die abgeernteten Pflanzen werden dann zur Herstellung biobasierter Kunststoffe, Chemikalien, Schmierstoffe oder Arzneien verwendet.

Die Kartierung der Flächen ist über die Projektseite öffentlich zugänglich. Gleiches gilt für die wissenschaftliche Auswertung der Projektergebnisse.

Warum die „Kernenergie“ uns nicht weiterhilft

piqer:
Nick Reimer

Das ist die Idealvorstellung, der sich so mancher hingibt: „irgendeine“ neue Energieversorgung, die fossilfrei ist, uns aber unser altes, schönes Leben weiterleben lässt. Neuere, sichere Atomkraftwerke zum Beispiel. Bill Gates erklärte jüngst:

„Ich habe ein Unternehmen, das wir nur aus Gründen des Klimaschutzes auf die Beine gestellt haben und das eine Konstruktion für supersichere Kernkrafttechnologie entwickelt hat.“

Oder vielleicht die Kernfusion? Also quasi die Chemie der Sonne auf die Erde holen? Ich hatte 2006 die Gelegenheit, mir in Greifswald die Forschung am Max-Planck-Institut für Plasmaphysik anzusehen. Rudolf Brakel, einer der Köpfe hinter dem „Wendelstein 7-X Stellarator“ erklärte damals: „Die Kernfusion liefert die Energieversorgung der Zukunft.“ Seitdem sind viele Milliarden Forschungsgeld in die Kernfusion geflossen und die Zukunft ist immer noch in weiter Ferne. Und trotzdem kommt in der Diskussion immer wieder das Argument, die Kernfusion oder neuere Atomtechnologien würden unser Klimaproblem lösen.

„Raus aus dem Dampfzeitalter!“ heißt ein Text in der Zeit, der überzeugend darlegt, warum uns solche Technologien überhaupt nicht weiterbringen. Autor ist Matthias Kleiner, Präsident der Leibniz-Gemeinschaft und Professor für Umformtechnik an der Technischen Universität Dortmund. Kleiner rechnet erstens vor, dass es noch Jahrzehnte dauern wird, bis die Kernfusion einen nennenswerten Beitrag zur Stromproduktion leisten kann:

„Um das Jahr 2035 herum wird der Fusionsreaktor Iter im südfranzösischen Kernforschungszentrum Cadarache, so hofft man, etwa 500 Megawatt Wärmeleistung (das ist grob so viel wie die Leistung eines mittelgroßen Offshore-Windparks) mit einer höchst komplexen Technologie erzeugen. Sie soll später genutzt werden, um, na ja, schlicht Wasser zu erhitzen, dadurch Dampf zu erzeugen und eine ziemlich konventionelle Turbine zur Stromerzeugung anzutreiben.“

Zweitens müssten wir, schreibt Kleiner, uns immer wieder fragen, ob unsere Forschung, unser Wissen und unser Handeln Teil des Problems oder Teil der Lösung sind. Und da lässt der Professor keinen Zweifel daran zu, dass die „Kern“-Technologien Teil des Problems sind:

„Heute … dauert es von der Entscheidung, ein Kernkraftwerk zu bauen, bis zur ersten Stromproduktion etwa 15 bis 20 Jahre, wenn man angesichts der Fragen der Wirtschaftlichkeit dieser Technologie überhaupt so weit kommt. Die gleiche, gesicherte Leistung kann bei erneuerbaren Technologien – vor allem Wind und Solar – jetzt schon nach etwa zwei bis drei Jahren ans Netz gehen.“

Die ersten praktisch genutzten Dampfturbinen, entwickelt von Laval 1883 und Parsons 1884, stehen im Deutschen Museum in München, einem Forschungsmuseum der Leibniz-Gemeinschaft. Kleiner:

„Man kann diese Originale als Ausdruck früheren Erfindungsgeistes bewundern. Vor allem aber kann man von ihnen lernen – auch, dass alles seine Zeit hat.“

Bundesbehörde korrigiert Studie zur Lärmbelästigung von Windrädern

piqer:
Daniela Becker

Infraschall ist ein Schall, dessen Frequenz so tief ist, dass er vom menschlichen Ohr nicht wahrgenommen wird. Solcher Schall ist selbst im Innenraum von Autos messbar, aber nur in der Windkraftdebatte  ist er seit Jahren ein großes Thema.

Deutschlandweit behaupten Windkraftgegner, durch Windturbinen erzeugte Infraschallwellen verursachten Tinnitus oder Schlafstörungen und begünstigten Folgeerkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems. Immer wieder wird dabei dieselbe Studie von der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (BGR) in Hannover zitiert, die 2009 publiziert wurde. Seit einigen Tagen ist klar: In der Studie wurden viel zu hohe Dezibel-Angaben berechnet.

Die BGR ignorierte offenbar über Jahre mehrere andere Studien mit stark abweichenden Resultaten, sowie Wissenschaftler*innen, die deutlich machten, dass die Werte physikalisch nicht stimmen konnten.

Der Bayreuther Umweltwissenschaftler Stefan Holzheu sagt, er habe dem Autor der BGR-Studie, Lars Ceranna, seit Frühjahr 2020 insgesamt 18 E-Mails mit seinen Anmerkungen und Korrekturen geschickt, um mit ihm „von Wissenschaftler zu Wissenschaftler“ zu diskutieren. Holzheu wurde auf das Thema aufmerksam, als wenige Kilometer entfernt von seinem bayerischen Dorf eine Bürgerinitiative wegen der angeblichen Infraschall-Belästigung ein Windrad verhindern wollte – das kam ihm, dem Sensortechniker, seltsam vor.

Die BGR erklärte der ZEIT gegenüber, als Ursache der Fehlberechnung habe sich nun, nach 12 Jahren, eine falsche Programmierung des Algorithmus herausgestellt, durch den die Störsignale an Windanlagen überschätzt worden seien. Die BGR plane nun neue Messreihen an „modernen Windanlagen“.

Doch auch wenn der Fehler korrigiert wird, könnte das falsche Bild, dass diese Studie über die Infraschall-Belästigung gezeichnet hat, noch lange nachwirken.

Womöglich führte die BGR-Studie mit den fälschlich hohen Dezibelzahlen sogar zu realen Beschwerden bei Anwohnerinnen und Anwohnern von Windradanlagen. Dies beweist ein viel beachtetes Experiment von Gesundheitspsychologinnen der neuseeländischen Universität Auckland. Sie führten eine Gruppe von Probanden in einen Raum mit erhöhtem Infraschall. Die eine Hälfte las vorher beunruhigende Berichte über gesundheitliche Folgen des unhörbaren Schalls, die andere nicht. Das Ergebnis: Die durch die Berichte alarmierte Gruppe verspürte Kopfschmerzen, Schwindel oder Herzklopfen – der zweiten Gruppe ging es so gut wie vorher. Das Fazit der Forschenden: „Psychologische Erwartungen könnten erklären, warum Windräder zu gesundheitlichen Problemen führen.“

Geschichte der Arbeit: Was die Steinzeitmenschen uns voraus hatten

piqer:
Meike Leopold

Normalerweise geht die Geschichte so: In unseren Anfängen waren wir Menschen Jäger und Sammler. Wir führten ein mühsames, arbeitsames Dasein, um am Leben zu bleiben. Dann kam die Landwirtschaft und damit die Sesshaftigkeit. Wir hatten immer mehr zu essen und alles wurde immer besser bis zum heutigen Tag.

Wirklich? Der Ethnologe James Suzman hat eine ganz andere Meinung.

Die Landwirtschaft läutete keine Ära des besseren Lebens ein, ganz im Gegenteil: Sie brachte Krankheiten, Mangelernährung und vor allem: mehr Arbeit.

Seine Grundthese lautet: Je weniger Arbeit, desto besser! Warum das? Suzman: „Es ist an der Zeit, eine Welt zu schaffen, in der Wachstumsideologie und Konsum nicht mehr unser Leben und unseren Planeten aussaugen. Dafür aber müssten die Menschen ihr Verhältnis zur Arbeit überdenken.“

Aus dieser Perspektive sah es bei unseren steinzeitlichen Vorfahren sehr viel besser aus als heute bei uns. Sie hatten zwar keine Smartphones, aber dafür viel Bewegung und keinen Stress mit der Arbeit. Im Gegenteil: Man hat berechnet, dass sie im Schnitt nur 15 Stunden in der Woche arbeiteten. Der Rest war Freizeit. Während wir uns fragen: „Muss ich arbeiten, um zu leben, oder lebe ich, um zu arbeiten?“ Außerdem lebten die ersten Menschen im Einklang mit der Natur um sie herum.

Diese „Idylle“ lässt sich heute nicht mehr herstellen. Was ist also die Lösung? Wir sollten unsere „grenzenlosen Ansprüche“ aufgeben, so Suzman. Es brauche „die Einsicht, dass weniger Arbeit besser ist – für den Menschen und für den Planeten.“

Wo ist das geklaute Gaddafi-Geld?

piqer:
Mohamed Amjahid

Diese investigative Recherche ist so abgedreht, ich bin mir unsicher, ob ich sie auf wenigen Zeilen zusammenfassen kann. Ich versuche es trotzdem mal: Nach dem Aufstand in Libyen im Jahr 2011 und dem Tod des Langzeitdiktators Muammar al-Gaddafi wurde schnell klar, dass der verrückte Autokrat (der einst „König von Afrika“ werden wollte) sein immenses Vermögen von geschätzten 150 Milliarden Dollar überall auf der Welt verstreut hatte. Gaddafi, einst der reichste Mann auf diesem Planeten, verschickte Paletten mit Bargeld quer durch alle Kontinente. Ein paar davon gingen nach Südafrika.

Wie die MacherInnen dieser Arte-Dokumentation so viele Stimmen vor die Kamera zur Verstrickung von Präsidenten und Monarchen in die Gaddafische Korruptionsmaschine versammeln konnten, ist ein wahres kleines Wunder. Zwischen Libyen und Tunesien, Serbien und Südafrika erzählen tollkühne Männer diese komplizierte Geschichte von Intrigen, Korruption und Raffgier: ein südafrikanischer Waffenhändler, ein dubioser tunesischer „Berater“ und ein serbischer Mittelsmann. Die Doku ist so gut erzählt (und transparent während der Erzählung belegt), dass sie wie ein Real-Life-Thriller daherkommt:

Zwei Journalisten verfolgen die Spur eines mysteriösen Bargeldbetrags in Höhe von 12,5 Milliarden Dollar, der in einer Nacht- und Nebelaktion von Libyen nach Südafrika geschafft worden war – nur wenige Monate vor Gaddafis Tod. In Südafrika finden sie einen Augenzeugen, der alles über das Geld zu wissen scheint. Doch bevor er ihnen Beweise liefern kann, nimmt die Geschichte eine finstere Wendung – die erste von vielen.

Die Journalisten erhalten Zugang zu zwei rivalisierenden Teams, die auf der Jagd nach Gaddafis Milliarden sind. Beide Teams sind davon überzeugt, das Geld zu finden und nach Libyen zurückzubringen. Sie sind bereit, alles dafür zu tun! Denn die libysche Regierung hat nicht weniger als zehn Prozent Finderlohn auf zurückgewonnene Gelder aus dem Ausland ausgesetzt. Während sie weitere Beweise sammeln, wird den beiden Journalisten klar, dass eine entscheidende Spur zu Gaddafis Geld zum ANC führt. Durch ihre Nachforschungen erfahren sie von geheimen Treffen im Untergrund, Korruption und Betrug – bis in die höchsten Kreise.

Auch einige Freiheitskämpfer haben sich mit Blick auf das Gaddafi-Regime nicht mit Ruhm bekleckert: Ausgerechnet Nelson Mandela hat einen großen Teil seines politischen Erfolgs seinem reichen Freund Muammar zu verdanken. Die Verstrickung des ANC in die Machenschaften Gaddafis ist in dieser postkolonialen Geschichte aber nur ein Beispiel von vielen, wie Prominente ihre Hände schmutzig gemacht haben. So trat Beyoncé mehrmals auf Feiern des Diktators auf, Nicolas Sarkozy ließ sich mutmaßlich seinen Wahlkampf aus Libyen finanzieren, ein bisschen Gaddafi-Geld floss natürlich in die Schweiz, nach Belgien, Italien, Großbritannien oder Dubai. Such-Aktionen nach den Quellen und Wegen dieser Zahlungen hätten definitiv auch solche spektakuläre investigative Recherchen verdient.