Fremde Federn

Bildungsmythos, Flächenfraß, Vier-Tage-Woche

Diese Woche unter anderem in den Fremden Federn: Warum in der Diskussion um die Vier-Tage-Woche zwei verschiedene Gerechtigkeitskonzepte zusammenlaufen (sollten), wie für Emmanuel Macron eine geeinte europäische Politik aussehen könnte und welche Corona-Rettungspakete die ökologische Nachhaltigkeit torpedieren.

Foto: Jojo Bombardo via Flickr (CC BY-ND 2.0)

In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.

4-Tage-Woche: Soziale und gleichstellungspolitische Argumente!

piqer:
Michael Hirsch

Zum zweiten Mal innerhalb von zwei Tagen erscheint im Wirtschaftsteil der Süddeutschen Zeitung ein Kommentar, der eine generelle Absenkung der tariflichen Arbeitszeit fordert. Aktueller Anlass ist die bald beginnende Tarifrunde in der Metallindustrie. Die Gewerkschaft IG Metall fordert zwar offiziell 4 % Lohnerhöhung. Es kann aber vermutet werden, dass sie im Tausch gegen Lohnzurückhaltung ein Bündnis zur Sicherung von Arbeitsplätzen durchsetzen will, in dessen Zentrum die Absenkung der Tarifarbeitszeiten mit der Einführung der 4-Tage-Woche steht.

Diese Idee ist nicht nur eine Krisenstrategie in der pandemiebedingten Rezession. Sondern auch darüber hinaus eine plausible Strategie zur gerechten Verteilung von Arbeit im Kontext von aktuellen und kommenden Rationalisierungsschüben.

Bemerkenswert an der öffentlichen Debatte ist dabei, dass, auch in der SZ fast nie zusammen gesehen und zusammen argumentiert wird, was doch zusammengehört: die soziale Frage der Arbeitsplatzsicherung und der fairen Verteilung von Arbeit, Arbeitszeit und Löhnen zwischen den Beschäftigten – und die Geschlechterfrage der fairen Aufteilung von Erwerbsarbeit und Familien-, Haus- und Sorgearbeit zwischen den Geschlechtern.

So kommt der aktuelle Artikel Zeit für eine Vision ohne Bezugnahme auf die gleichstellungs- und familienpolitische Dimension von Arbeitszeitverkürzungen aus – ebenso wie der zwei Tage alte Artikel Väter in Teilzeit an derselben Stelle der Zeitung ebenfalls ohne jede Berücksichtigung des sozialen Aspekts der Neuaufteilung von Arbeitszeiten auskommt (und damit der seit langem geäußerten Vermutung Vorschub leistet, die Gleichstellungs- und Familienpolitik sei von einem eher anti-sozialen neoliberalen Elitenfeminismus gekapert). Darin drückt sich die unselige Spaltung unserer Debattenkultur aus: soziale Themen für die einen – Frauen- und Familienthemen für die anderen.

Es ist Zeit, endlich zusammen zu betrachten, was zusammengehört. Es ist Zeit für eine umfassende Vision eines sozial gerechten und geschlechtergerechten Umbaus unserer Arbeitsverhältnisse. Nur dann wird Teilzeit nicht mehr wie bisher eine berufliche Falle sein, sondern ein neuer Standard der prinzipiellen Vereinbarkeit der Zeit der Erwerbsarbeit und der Familie. Nur im Kontext einer generellen Verkürzung der Arbeitszeit werden ausgedehnte Elternzeiten und langjährige Elternteilzeiten nicht mehr zu gravierenden Risiken für die eigene berufliche Biografie. Nur wenn das allgemeine gesellschaftspolitische Ziel klar formuliert wird (die gleiche Beteiligung aller Männer und Frauen an Erwerbs- wie Haus- und Familienarbeit) – nur dann werden die einzelnen Reformelemente in ihrem Zusammenhang plausibel. Und nur dann können sie eine gesellschaftliche Dynamik entfalten, die in der Lage ist, der konservativen Gegenseite im Rahmen von Tarifrunden, Streiks, öffentlichen Debatten und parlamentarischen Gesetzesvorhaben wirksam entgegenzutreten.

Wir müssen die Formen internationaler Zusammenarbeit neu erfinden

piqer:
Ruprecht Polenz

In einem ausführlichen Interview legt der französische Präsident Emmanuel Macron seine Vorstellungen von Europa, von internationaler Zusammenarbeit und den Herausforderungen dar, die gemeinsam bewältigt werden müssen. Da die EU nur vorankommt, wenn Deutschland und Frankreich gemeinsame Initiativen ergreifen, sollte jede/r Europainteressierte diese Vorstellungen Macrons kennen.

Wirtschaftliche Erholung = Ruinierung des Klimas?

piqer:
Dominique Lenné

Viele Länder und Wirtschaftsgebiete haben ein enormes Deficit Spending begonnen, um den Wirtschaftskreislauf wieder zu beschleunigen und den Lebensstandard ihrer BürgerInnen wiederherzustellen. Seit Monaten lesen wir wöchentlich Appelle, dieses Geld nicht zur Verstärkung fossiler Energiegewinnung zu verwenden, sondern in Investitionen zur emissionsfreien Wirtschaft zu stecken.

Der Guardian hat nun die Klimawirkung der von 22 Ländern und der EU geplanten Ausgabenpakete analysiert und verglichen. Nur fünf davon sind unter dem Strich klimafreundlich: EU, Frankreich, Spanien, Vereingtes Königreich und Deutschland, in dieser Reihenfolge. Falls Biden mit seiner Umwidmung der Mittel nach Art des „Green New Deal“ Erfolg haben sollte, was äußerst fraglich ist, wären die USA hier am klimafreundlichsten. Bedenklich, dass die Ausgabenplanung in China – soweit bekannt – sehr weit im klimaschädlichen Bereich liegt. Man hofft, dass sich dies bis zur Festlegung des nächsten Fünfjahresplans noch verändert.

Der größte Teil der Ausgaben sei bisher in die Bereiche Liquidität, Lohnsubvention und Konkursabwendung gegangen, sagt Nicholas Stern.

Deutschland blockiert Dekarbonisierung der EU-Stromgewinnung

piqer:
Dominique Lenné

Ember ist ein britischer Think-Tank, eine Nachfolgeorganisation des einschlägig bekannten Sandbag, die sich auf den Übergang von Kohle auf Regenerative im Elektrizitätssystem der EU spezialisiert hat.

Der Piq ist eine Studie, in der die regenerativen Anteile bei der Stromgewinnung der verschiedenen EU-Länder im Zeitraum bis 2030 gemäß den veröffentlichten Planungen (NECPs) verglichen werden. Das Ergebnis ist wenig schmeichelhaft für Deutschland. Zwar landen wir nicht in der Gruppe der absoluten Bremser und Nachzügler. Die ist für Polen, Tschechien, Bulgarien, Rumänien und interessanterweise auch Belgien reserviert. Aber unser allzu träger geplanter Fortschritt wiegt schwer, weil wir eine so große Wirtschaft haben.

Die Seite ist sehr gut gemacht, gut gegliedert, mit konzisem, auf den Punkt gehendem Text und vielen informativen Diagrammen.

Wie deutsche Kommunen versuchen, den Flächenfraß zu reduzieren

piqer:
Daniela Becker

Bauen, bauen, bauen, um der Wohnungsnot entgegenzuwirken. Neue Straßen, um mehr Platz für Autos zu schaffen, neue Gewerbegebiete mitten in ehemaligen Grünstreifen, um Arbeitsplätze zu schaffen.

Der enorme Flächenverbrauch ist bislang kein Thema, das so präsent ist wie etwa die Plastikvermüllung. Aber die Folgen von Flächenfraß sind beträchtlich: Natur und Artenvielfalt werden minimiert, Arbeits- und Einkaufswege verlängern sich, Lärm- und Luftbelastung nehmen zu.

„Seit den Sechzigerjahren ist die in Deutschland pro Kopf im Schnitt beanspruchte Wohnfläche von 18 auf 47 Quadratmeter gestiegen“, sagt Michaela Christ, die das Projekt an der Uni Flensburg zusammen mit Bernd Sommer verantwortet. Angesichts begrenzter Flächen und der „sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Folgen“ müsse diese Dynamik gebremst werden. „Es sollte nicht mehr nur gefragt werden: Wie und wo kann durch höhere Häuser oder dichtere Bebauung noch mehr Wohnfläche entstehen?, sondern auch: Was braucht es jenseits bestimmter Quadratmeterzahlen für ein gelingendes Leben?“

Konkret heißt das: Kommt es anstelle von Quadratmetern nicht viel mehr darauf an, wie viele Wege man zu Fuß erledigen kann, wie oft der Bus fährt, wie weit Schulen und Hochschulen, Theater, Supermärkte, Kinos, Ärzte oder Parks entfernt sind?

Suffizienz bei der städtischen Flächenpolitik ist ein Thema, mit dem sich politisch bislang eher wenig gewinnen lässt, geht es doch oft darum, sehr lange vorausschauend zu planen oder zu einem neuen Parkplatz oder Shopping-Center in der Peripherie einfach mal Nein zu sagen. Ein Thema ist besonders kniffelig: Das gute alte Eigenheim bringt ein Platzproblem mit sich. Und doch wird es massiv gefördert.

Weil das Eigenheim gerade in Zeiten von Niedrigzinsen als gute Geldanlage und Altersvorsorge gilt – und dank Baukindergeld, Pendlerpauschale, Dienstwagenprivileg und in Bayern auch noch dank Eigenheimzulage kräftig gefördert wird. Wenn die so gut subventionierten Häuslebauer dann auch noch in die Nachbargemeinde im Speckgürtel ziehen, profitiert die von deren kommunalem Anteil an der Grundsteuer. Zwischen den Kommunen herrscht folglich ein Überbietungswettbewerb beim Ausweisen neuer Flächen, die den klammen Stadtkassen Einnahmen bescheren. Forscherin Christ fordert daher: „Alles, was institutionell und förderpolitisch den Flächenverbrauch hebt, sollte abgeschafft oder eingeschränkt werden.“

Das Problem Flächenverbrauch berührt eine unübersichtliche Gemengelage und scheint unendlich schwer zu lösen. Umso wichtiger, dass der Spiegel das Thema aufnimmt und zeigt, wie Städte wie Ulm und Flensburg das Problem angehen.

Wie die Biden-Regierung mit der Welt umgehen wird

piqer:
Emily Schultheis

Es ist kein Geheimnis, dass US-Präsident Donald Trump Amerikas Beziehungen mit anderen Ländern beschädigt hat (und, zumindest wenn es um Europa geht, diese Beziehungen gezielt beschädigen wollte).

Deswegen hat die Nachricht, dass Joe Biden die US-Präsidentschaftswahl gewinnen wird, ein Gefühl der Hoffnung und Erleichterung in vielen europäischen Hauptstädten ausgelöst. Endlich wieder werden die USA einen Präsidenten haben, der mit internationalen Partnern zusammenarbeiten will; einen Präsidenten, der wieder an dem Pariser Klimaabkommen teilnehmen möchte, der die USA wieder in die Weltgesundheitsorganisation integrieren wird und der die Notwendigkeit der NATO erkennt.

Aber wie der Autor dieses Artikels schreibt: Bidens Sieg wird nicht einfach bedeuten, dass diese Beziehungen zurück zum Status Quo von 2016 zurückkehren werden oder dass alles, was in den letzten vier Jahren passierte, vergessen wird. Die Trump-Ära hat eine politische und diplomatische Neuausrichtung ausgelöst, die nicht einfach weggeworfen werden kann. Trumps Regierung hat viele Länder verunsichert und trug dazu bei, dass europäische Politiker*innen mehr Verantwortung tragen wollen. Dass die US-Wahl schlussendlich nur sehr knapp entschieden wurde, lässt zudem die Möglichkeit offen, dass es in vier Jahren wieder eine ähnliche Präsidentschaft wie jene Trumps geben könnte.

Die Hoffnungen auf einen Neuanfang sind groß, aber der Prozess, wieder gute und vertrauensvolle Beziehungen aufzubauen, braucht Zeit. (Übrigens gibt es viele interessante Artikel zum Thema: von Politico Europe, The New York Times, The Washington Post, etc.)

Russland auf dem Rückzug

piqer:
Ulrich Krökel

Schon die russischen Reaktionen auf die Massenproteste in Belarus hatten viele Beobachter überrascht. Lange sah der Kreml dem Treiben im Nachbarland, das doch zum Kernbestand der von Moskau beanspruchten Einflusszone zählt, einfach nur zu. Später stützte Präsident Wladimir Putin den in Bedrängnis geratenen Alexander Lukaschenko so weit, dass der Langzeitdiktator (vorerst) an der Macht bleiben konnte. Zwei Monate später aber zeigte Putin nun im Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan um die Region Bergkarabach ein ähnliches Muster. Er wartete ab, sah zu, wie sich die Türkei auf aserbaidschanischer Seite einmischte und setzte erst spät eine Waffenruhe durch. Was ist da los in Moskau?

Der russische Politikwissenschaftler Wladimir Frolow erkennt darin eine neue Leitlinie der „strategischen Zurückhaltung“, wie er in republic.ru schreibt. Die deutsche Version, die ich hier verlinkt habe, findet sich bei dekoder.org unter dem etwas unglücklich gewählten Titel „Tschüss, Russki Mir?!“ Man hätte es auch bei „Lass es lodern“ aus dem Original belassen können, finde ich, zumal der Begriff „Russki Mir“ Vorwissen voraussetzt. Er bezeichnet ein Konzept, das Russland als eine sprachlich-kulturelle Hegemonialmacht im postsowjetischen Raum versteht. Ansonsten ist die Übersetzung aber sehr gut, und wie immer liefert dekoder auch viel Hintergrund zum Thema frei Haus, inklusive der Begriffserklärung zu „Russki Mir“.

Zum Inhalt: Frolows Analyse geht von der These aus, dass Russland seine Politik im postsowjetischen Raum faktisch bereits „geändert hat, ohne viel Aufhebens davon zu machen“. Demnach hätten viele politisch Verantwortliche im Westen den Strategiewechsel noch gar nicht realisiert. Während etwa Deutschland nach dem Giftanschlag auf Alexei Nawalny den Kreml durch mehr Härte in die Schranken zu weisen versuche, habe sich Putin bereits selbst Beschränkungen auferlegt:

Eine „Eurasische Union“, eine „Zone privilegierter Interessen“, der „Russki Mir“, die regionale Dominanz, die Verteidigung einer Pufferzone vor den „NATO-Panzern und -Raketen“ und die einzigartige Rolle als „Garant für Sicherheit und Souveränität“ für die postsowjetischen Staaten gegen äußere Einmischungen – diese großen Träume sind von der aktuellen Agenda des Kreml verschwunden, [da] der Preis für die Verwirklichung viel zu hoch ist. Man ist dazu übergegangen, die Ambitionen im postsowjetischen Raum zu optimieren und eine Bestandsaufnahme der realen Bedürfnisse und ihrer Umsetzungsmöglichkeiten vorzunehmen.

Das lasse sich in der Ukraine und in Georgien ebenso beobachten wie zuletzt in Belarus, dem Transkaukasus und Kirgisistan. Spannend ist auch, was Frolow zum russisch-türkischen Verhältnis zu sagen hat:

Russland und die Türkei befinden sich bereits in einer symbiotischen Beziehung, in der beide Seiten für die jeweils andere lebensnotwendig sind, um entscheidende außenpolitische Ziele durchzusetzen. Für Moskau ist es von zentraler Bedeutung, dass Erdogan seine Linie der werte- und geopolitischen Opposition zum Westen fortsetzt, was den Westen von einer Konfrontation mit Russland ablenkt, zu einem „Hirntod der NATO“ führt und die Wichtigkeit einer Zusammenarbeit Europas mit Moskau im Nahen Osten und dem Mittelmeerraum erhöht.

Alles in allem ein inspirierender Text, mit dem dekoder.org bei der Auswahl einmal mehr einen Volltreffer gelandet hat.

Mehr Bildung ist kein Allheilmittel

piqer:
Krautreporter

„Mehr Bildung“, darauf kann sich jeder einigen, egal um welche Probleme es geht.

Bent Freiwald ist unser Reporter für besseres Lernen und freies Wissen und müsste allein schon deshalb froh darüber sein, dass mehr Bildung so unumstritten als Lösung für viele Probleme gesehen wird. Lange Zeit war er das auch. Doch das änderte sich, als er das Buch „Mythos Bildung“ des Osnabrücker Soziologen und Bildungswissenschaftlers Aladin El-Mafaalani las.

El-Mafaalani hat gute Argumente dafür, dass der Ruf nach „mehr Bildung“ oft nur eine Beruhigungspille ist, die von den eigentlichen Problemen ablenkt. El-Mafaalani sagt:

„Immer, wenn man nicht mehr weiterweiß, kommt Bildung ins Spiel. Sie ist ein Lückenfüller. Und das ist völlig absurd.“

Bent hat sein Buch zwei Mal gelesen und stimmt ihm inzwischen zu:

Er hat Recht. Die Forderung nach mehr Bildung macht unsere Gesellschaft nicht gerechter, sie kann ihr sogar schaden.

Die sogenannte Bildungsexpansion wirft nämlich eine entscheidende Frage auf: Wie verändert es eine Gesellschaft, wenn es immer mehr Bildungsaufsteiger:innen gibt? Für diese Frage ist es wichtig, auf diejenigen zu achten, die nicht zu dieser Gruppe gehören. Denn für sie wird es immer schwieriger, an der Gesellschaft teilzuhaben. Aber auch die Bildungsgewinner:innen müssen Nachteile hinnehmen, wenn der Wert ihrer Abschlüsse sinkt.

Anhand einiger Beispiele aus dem Buch führt Bent Freiwald die Leser:innen durch die Argumentationskette des Autors und gibt Einblicke in seinen eigenen Reflexionsprozess. Er beschreibt, welche der Argumente Ef-Mafaalanis ihn letztendlich überzeugt haben.