Ende Mai haben sich etliche führende Wissenschaftler und Praktiker auf Einladung des Forum New Economy zu einem Gipfel bei Berlin unter der Überschrift „Winning Back the People“ getroffen. Am Ende des Treffens wurde die „Erklärung von Berlin“ verabschiedet, in der einige zentrale Lehren für die künftige Wirtschaftspolitik festgehalten werden. Weitere Hintergründe dazu finden Sie hier. Im Folgenden lesen Sie die Erklärung im Wortlaut.
Liberale Demokratien sind heutzutage mit einer Welle des Misstrauens und der Zweifel an ihrer Fähigkeit konfrontiert, der Mehrheit der Bürger und Bürgerinnen zu dienen und die zahlreichen Krisen zu lösen, die unsere Zukunft bedrohen. Dies droht uns in eine Welt gefährlicher populistischer Politik zu führen, in der die Wut der Menschen ausgenutzt wird, ohne die tatsächlichen Gefahren anzugehen – vom Klimawandel über dauerhaft unhaltbare Ungleichheiten bis hin zu großen globalen Konflikten. Um erhebliche Schäden von der Menschheit und dem Planeten abzuwenden, müssen wir uns dringend mit den Ursachen für die Unzufriedenheit der Menschen auseinandersetzen.
Inzwischen gibt es zahlreiche Belege dafür, dass das Misstrauen nicht nur, aber zu einem großen Teil auf die weit verbreitete Erfahrung eines tatsächlichen oder gefühlten Verlusts von Kontrolle über die eigenen Lebensumstände und den Verlauf gesellschaftlicher Veränderungen zurückzuführen ist. Dieses Gefühl der Machtlosigkeit wurde durch Schocks der Globalisierung sowie des technologischen Wandels ausgelöst und wird nun durch den Klimawandel, künstliche Intelligenz und den Inflationsschock verstärkt. Zugleich haben Jahrzehnte schlecht gemanagter Globalisierung, ein übermäßiges Vertrauen in die Selbstregulierung der Märkte und Austeritätspolitik die Fähigkeit der Regierungen untergraben, wirksam auf solche Krisen zu reagieren.
Um das Vertrauen der Bevölkerung zurückgewinnen, müssen diese Kapazitäten wieder aufgebaut werden. Wir behaupten nicht, endgültige Antworten zu haben. Es erscheint uns jedoch entscheidend, die Politik auf der Grundlage einiger zentraler Lehren neu zu gestalten und zu stärken, die aus den Ursachen des Misstrauens zu ziehen sind. Wir sollten dazu
- unsere Politik und Institutionen neu ausrichten, sodass sie nicht mehr in erster Linie auf wirtschaftliche Effizienz ausgerichtet sind, sondern auf die Schaffung von Wohlstand für alle sowie von sicheren, hochwertigen Arbeitsplätzen;
- eine Industriepolitik entwickeln, die drohenden regionalen Umbrüchen proaktiv begegnet, indem neue Industrien gefördert und Innovationen auf die Schaffung von Wohlstand für viele ausgerichtet werden;
- sicherstellen, dass Industriepolitik weniger darauf ausgerichtet ist, Subventionen und Kredite an bestehende Standorte zu vergeben, sondern vielmehr darauf, diese Sektoren bei Investitionen und Innovationen zu unterstützen, um Ziele wie die Klimaneutralität zu erreichen;
- eine gesündere Form der Globalisierung entwickeln, die die Vorteile des Freihandels mit der Notwendigkeit in Einklang bringt, die Schwächsten zu schützen und Klimapolitik zu koordinieren, und gleichzeitig nationale Kontrolle über wichtige strategische Interessen ermöglicht;
- Einkommens- und Vermögensungleichheiten angehen, die sich durch Vererbung und Finanzmarktautomatismen selbst verstärken, sei es durch die Stärkung jener, die schlecht bezahlt werden, eine angemessene Besteuerung hoher Einkommen und Vermögen oder die Schaffung weniger ungleicher Ausgangsbedingungen durch Instrumente wie ein soziales Erbe oder Startkapital;
- die Klimapolitik neugestalten durch eine Kombination aus einem angemessenen CO2-Preis, starken positiven Anreizen zur Reduzierung der CO2-Emissionen und ehrgeizigen Investitionen in die Infrastruktur;
- sicherstellen, dass Entwicklungsländer über die notwendigen finanziellen und technologischen Ressourcen verfügen, um den Klimawandel zu bewältigen und Maßnahmen zur Eindämmung und Anpassung zu ergreifen, ohne ihre Zukunftsaussichten zu gefährden;
- ein neues Gleichgewicht zwischen Märkten und kollektivem Handeln herstellen, um selbstzerstörerische Austeritätspolitik zu vermeiden und gleichzeitig in einen effektiven innovativen Staat zu investieren;
- die Marktmacht auf stark konzentrierten Märkten reduzieren.
Wir befinden uns in einer kritischen Phase. Die Märkte allein werden weder den Klimawandel aufhalten noch zu einer weniger ungleichen Verteilung des Wohlstands führen. Die Idee eines Trickle-Down hat versagt. Wir stehen nun vor der Wahl zwischen einer konfliktreichen protektionistischen Gegenreaktion und einer Reihe neuer Maßnahmen, die auf die Sorgen der Menschen eingehen. Es gibt zahlreiche bahnbrechende Forschungsergebnisse, wie eine neue Industriepolitik, gute Arbeitsplätze, eine bessere globale Governance und eine moderne Klimapolitik für alle gestaltet werden können. Jetzt kommt es darauf an, sie weiterzuentwickeln und in die Praxis umzusetzen. Was wir brauchen, ist ein neuer politischer Konsens, der sich mit den tieferen Ursachen des Misstrauens der Menschen auseinandersetzt, statt sich nur auf die Symptome zu fokussieren oder in die Falle jener Populisten zu tappen, die vorgeben, einfache Antworten zu haben.
Da die Gefahr bewaffneter Konflikte auf der ganzen Welt durch divergierende geopolitische Interessen zugenommen hat, müssen liberale Demokratien ihre Fähigkeit unter Beweis stellen, sowohl ihre Werte zu verteidigen als auch direkte Feindseligkeiten zu entschärfen, um letztlich den Weg zu einem dauerhaften Frieden zu ebnen und die Spannungen zwischen den USA und China abzubauen.
Alles was Bürger und ihre Regierungen wieder zum eigenen Handeln und Wirken befähigt, hat nicht nur das Potenzial, das Wohlergehen vieler Menschen zu fördern. Er wird auch dazu beitragen, das Vertrauen in die Fähigkeit unserer Gesellschaften wiederherzustellen, Krisen zu lösen und eine bessere Zukunft zu sichern. Wir brauchen eine Agenda für die Menschen, um die Menschen zurückzugewinnen. Die Zeit läuft.
Hinweis: