In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.
Italien – Tradition vs. Globalisierung?
piqer:
Thomas Wahl
Italien, wie wir es lieben, das ist u.a. der Prosciutto, der Parmesan, der Aceto balsamico. Geschützt als italienische Kulturgüter, die nicht gefälscht, kopiert oder anderswo produziert werden sollen. Doch nun zeigt Alberto Grandi, Professor an der ökonomischen Fakultät der Universität Parma, dass diese Traditionen eigentlich ziemlich jung und in Zeitschleifen mit der Vergangenheit und der ursprünglichen Globalisierung verschlungen sind. Den wirklich echten Parmesan soll es in Wisconsin in den USA geben, dort hingelangt durch die erste italienische Einwanderungswelle:
«Der Parmesan aus Wisconsin ist nicht so gut wie derjenige, den wir heute hier herstellen, aber er ist viel näher am ursprünglichen Produkt, also an jenem, das unsere Vorfahren kannten.» Während er in der Emilia-Romagna, seinem Ursprungsterrain, lange Zeit vergessen war, stellten ihn italienische Auswanderer in den USA nach den alten Rezepten her. Seine Textur ist fetter, der Käse weicher, seine Rinde ist schwarz, weil er wie früher, damals zwecks Konservierung, mit Asche behandelt wird. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Parmesan in Italien zum bröckligen Hartkäse weiterentwickelt, als der er heute verkauft und geschätzt wird.
Und da auch viele Italiener lieber in einer idealen Welt leben und die reale Geschichte eher als Kritik auffassen, schlagen die Erregungswellen hoch. Seit einem Interview, das Grandi Ende März der «Financial Times» gegeben hat, muss er sich in den Medien erklären und rechtfertigen.
Der Vizeregierungschef Matteo Salvini ritt sofort eine Attacke gegen Grandi, und Coldiretti, der italienische Landwirtschaftsverband, veröffentlichte ein wütendes Statement und warf dem Professore vor, einen «surrealen Angriff auf die ikonischen Gerichte der italienischen Küche» zu starten, und dies ausgerechnet zu dem Zeitpunkt, da sich die Regierung um die Aufnahme derselben in das immaterielle Kulturerbe der Unesco bewerbe.
Den Italienern liegt ihre „erfundene“ Tradition (die ja keiner wirklich zerstören möchte) wohl näher als die Moderne und die Zukunft. Italien, im vergangenen 20. Jahrhundert einst ein Land der Innovation, pflegt seine Mythen, seinen «Gastro-Nationalismus». Man vergisst z. B., dass etwa Giulio Natta, der Erfinder des Plastiks, eines der wichtigsten Produkte der Neuzeit, ein Italiener war. Oder dass der Vorläufer des PC aus Italien stammt, nämlich der erste frei programmierbare Tischrechner der Welt, der P101 von Olivetti. Ähnlich wie viele in Deutschland ist man skeptisch gegen Gentechnik oder AI. Man behindert und verbietet Entwicklungen und Anwendungen.
Die Rückbesinnung auf vermeintliche alte kulinarische Traditionen und die Genese von identitätsstiftenden Erzählungen über die italienische Küche habe ihren Ursprung in den Nachkriegsjahren. Ende der fünfziger und Anfang der sechziger Jahre hat Italien einen unglaublichen wirtschaftlichen Boom erlebt. Innerhalb kürzester Zeit ist aus einem Armenhaus ein wohlhabendes Land geworden. Die Alternative für die Menschen habe gelautet: «Du verzichtest auf deine Traditionen, dafür erhältst du Wohlstand, wie du ihn noch nie erlebt hast», erklärt der Professore. Doch auf den Aufschwung folgte die Krise. In den siebziger Jahren seien die sozialen Kosten sichtbar geworden, und Modernität sei plötzlich als gefährlich empfunden worden.
Und nun suchen Italiener (wie auch viele Deutsche) eine neue Erzählung von einem glücklichen Land, in dem es sich schon immer anständig leben und essen lässt. Wobei das kein alleiniges Merkmal der Konservativen sei, so Grandi.
In ihrer Skepsis gegenüber Globalisierung und freien Märkten träfen sie sich mit der Linken. Auch diese habe nostalgische Vorstellungen von Ernährungssicherheit und Produktionsbedingungen. … Schon der grosse linke Intellektuelle Pier Paolo Pasolini sei modernitätskritisch gewesen und habe in der bäuerlichen Gesellschaft nach eigenständigen kulturellen Traditionen und Wertvorstellungen gesucht. «Dabei war das eine sehr arme, gewalttätige Welt.»
Sicher, die ursprüngliche italienische Küche war eine «cucina domestica», was man (etwas lieblos) mit «Hausmannskost» übersetzen kann. Die charakteristischen Speisen entstanden zu Hause am heimischen Herd. Aber es ist kein Zufall, dass es erst 1985 überhaupt einen Michelin-Stern für ein italienisches Restaurant gab, in Zeiten des wachsenden Wohlstandes.
Italiens Küche ist einfach und kommt mit wenig aus. «Raffinement» ist demgegenüber eine Erfindung der Franzosen. «Das Tiramisu ist charakteristisch dafür», erklärt er, «es ist eine moderne und typisch heimische Speise.» Erst mit dem aufkommenden Wohlstand sei es möglich geworden, den relativ teuren Mascarpone dafür zu verwenden.
Also pflegen wir doch in unserem Wohlstand beides – Tradition und Innovation. Nicht nur in Italien. Guten Appetit und „künstliche“ Intelligenz …
Gesellschaftliche Kipppunkte
piqer:
Jürgen Klute
Wer die klimapolitischen Debatten verfolgt, dem bzw. der ist der Begriff „Kipppunkte“ sehr wahrscheinlich vertraut: Es sind Punkte, nach deren Überschreiten sich gegenseitig verstärkende Prozesse beginnen, die nicht mehr zu stoppen oder zurückzudrehen sind.
Daniel Mullis, Maximilian Pichl und Vanessa E. Thompson haben den Begriff „Kipppunkte“ nicht zufällig als zentralen Begriff ihrer Analyse gewählt. Darin geht es nicht um das physikalische Klima, sondern um das gesellschaftliche Klima. Auch wenn gesellschaftliche Prozesse nicht unumkehrbar seien, wie sie schreiben, sehen sie Parallelen zwischen klimatischen und gesellschaftlichen Kipppunkten. „Allerdings sind etablierte Diskurse,“ schreiben die Autorinnen weiter, „Strukturen und Normen oft nicht rückgängig zu machen. Sind autoritäre Kipppunkte überschritten, wird der Boden brüchig, auf dem plurale und demokratische Gesellschaften stehen.“ Gesellschaftliche Kipppunkte sind aus Sicht der Autorinnen Punkte, durch deren Überschreiten demokratische Gesellschaften in autoritäre Gesellschaften umkippen, wie in Ungarn und Polen bereits geschehen.
Die Autorinnen fragen dementsprechend nach Anzeichen dafür, ob, in welchem Maße und in welcher Geschwindigkeit sich die deutsche Gesellschaft auf einen „autoritären Kipppunkt“ zubewegt. Sie weisen auf eine ganze Reihe kritischer Entwicklungen innerhalb der deutschen Gesellschaft hin. Allerdings betrachten die drei Autorinnen den autoritären Kipppunkt bisher noch nicht als überschritten und hegen trotz aller Besorgnis die Hoffnung, dass die deutsche Gesellschaft heute trotz ihrer langen rassistischen und autoritären Tradition ausreichend demokratische Gegenkräfte mobilisieren kann. Schön wäre es, persönlich teile ich diesen Optimismus schon seit längerer Zeit nicht mehr.
Hybrides Arbeiten – Nach wie vor ein Orchideen-Fach in Unternehmen?
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Ole Wintermann
McKinsey hat 50 große Konzerne aus 10 Ländern nach ihren Erfahrungen und Strategien zur Umsetzung hybriden Arbeitens befragt. Die Antworten fallen in Summe eher ernüchternd aus:
„Though organizations acknowledge that hybrid work is the new normal, most have not yet adopted true hybrid principles, which include creating policies, workflows, and documentation to help employees understand the most effective ways of hybrid working.“
Oder anders formuliert: Die CEO waren stets bemüht, verirren sich aber in technokratischen Kleinigkeiten statt die Nutzensteigerung hybriden Arbeitens vorn an zu stellen:
„Many company leaders today are preoccupied with the ongoing debate about days in the office rather than the capabilities and strategies being deployed to create a sustainable, responsive, and magnetic workplace experience.“
McKinsey hat die Unternehmen nach einer bewährten Systematik der Überprüfung des Umsetzungsgrads hybriden Arbeitens analysiert. Hierbei zeigte sich, dass CEO bzw. die Vorstände grundsätzlich inzwischen zwar schon verstanden haben, dass Work- und Workplace Experience einen Vorteil in Zeiten des Fachkräftemangels darstellen und insgesamt die Produktivität der Beschäftigten befördert. Übergeordnete Strategien, Langfristdenken und Nachhalten des Erfolgs einzelner Maßnahmen sind aber nur bei einem kleineren Teil der Konzerne zu finden. So kann nicht einmal die Hälfte der Unternehmen einen iterativen Prozess der beständigen Verbesserung der Work-Experience nach Umsetzung einzelner Maßnahmen vorweisen. Positiv zu sehen: 3 von 4 Unternehmen beziehen mittlerweile Nachhaltigkeits- und Klimaschutz-Aspekte in die Planung der Arbeitsplatzgestaltung mit ein.
Da die Umfrage in Kooperation mit Immobilienfirmen durchgeführt wurde, wurde die negative Folge dieser fehlenden Strategie besonders herausgestellt. Denn in der Konsequenz ergibt sich ein hoher Anteil ungenutzter, nicht optimal genutzter und überteuerter Büroräume, die bei den Unternehmen zu unnötigen Mehrkosten führen.
Spannend ist der Hinweis der Autoren auf die Lösung des Problems des suboptimalen Managements hybriden Arbeitens durch die Immobilienfirmen:
„The future for corporate real estate teams may be more like how retailers operate today.“
Und dasselbe sollte letztlich auch im Binnenverhältnis zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern gelten. Die Angestellten sind letztlich die Kunden, auf die die Unternehmen mehr zugehen sollten.
ChatGPT im Gesundheitsbereich: Chancen und Risiken
piqer:
Ole Wintermann
In diesen Tagen ist es üblich geworden, dass die Debatte um die Nützlichkeit oder Gefährlichkeit eines Sprachmodells wie ChatGPT polarisiert und teils auch aus einer Warte der negativen Betroffenheit heraus geführt wird. Der vorliegende wissenschaftliche Text hebt sich wohltuend davon ab, ohne Nutzen oder Risiken zu überbetonen.
Es geht hierbei um den Einsatz von ChatGPT im Gesundheitsbereich. Auf der Seite der Vorteile steht die Nutzung der KI für die Erstellung oder auch vorbereitende Recherche wissenschaftlicher Texte. Themenauswahl und Projektplanungen können schneller und spezifischer getroffen und formuliert werden. Zusammenfassungen zu Forschungsständen aus verschiedenen Studien können bereits heute so perfekt von ChatGPT geschrieben werden, dass Plagiatssoftware die „Handschrift“ der KI nicht mehr zu erkennen vermag.
Experimente können mit weniger Zeitaufwand durchgeführt werden, da der Abgleich mit dem aktuellen Forschungsstand nahezu in Realtime erfolgen kann. Gegenseitiges Kommentieren kann in der Form von Social Graphen gespeichert und berücksichtigt werden.
Für Patienten kann die KI die Rolle eines begleitenden Assistenten übernehmen, der sich um die Krankengeschichte, die Kombination von Medikamenten oder den Stand der Behandlung kümmert. Patientenübergreifend kann die KI Muster erkennen und helfen, Behandlungserfolge zu skalieren.
Für Angestellte im Gesundheitsbereich kann die KI die Rolle des Fortbilders übernehmen, der die Angestellten auf neueste Entwicklungen im eigenen Bereich hinweist und diese darstellt.
Und schließlich kann die KI die Arzt-Patienten-Schnittstelle ergänzen und bei Diagnose und Behandlung zur Hand gehen.
Auf der Seite der Risiken steht beispielsweise die Gefahr von Urheberrechtsverletzungen und unklaren Haftungsfragen im Zuge einer falsch erstellten Diagnose. Auch bei Ungenauigkeiten während der Behandlung muss die Frage der Haftung vorab geklärt werden. Und letztlich ist der Output der KI nur so gut wie der zu Beginn initiierte Prompt, der vom medizinischen Fachpersonal hochqualitativ formuliert werden muss.
Ethische Fragen resultieren aus unklaren Rechtslagen beim Datenschutz, der Nutzung privater Daten, der Transparenz der KI, der Vorgabe der Nicht-Diskriminierung und der Folgen für die soziale und ökologische Nachhaltigkeit. Auch stellt sich die Frage, ob die KI die ökonomische und soziale Ungleichheit innerhalb von Staaten oder zwischen dem globalen Norden und Süden verstärkt oder abschwächt.
Lösungsansätze sind aus Sicht der Autoren die rechtzeitige Einbeziehung der KI in die Ausbildung sowie eine weitreichende Regulierung.
Wärmewende? Einfach mal die Fachleute fragen!
piqer:
Ralph Diermann
„Es gibt nichts Schöneres als Heizungskeller“, sagt Olaf Zimmermann, Chef der Firma Heizung Obermeier in München und Vorstandsmitglied der Handwerkskammer für München und Oberbayern. Zimmermann beklagt sich darüber, dass in der Heizungsdebatte vor allem diejenigen die Stimmung prägen, die noch nie eine Zange in der Hand gehabt haben – anstatt mal die Fachleute zu Wort kommen zu lassen.
Das hat nun die lokale Boulevardzeitung tz getan und Zimmermann in einem langen Interview die Gelegenheit gegeben, seine Sicht auf die Wärmewende – die fast alle seiner Kollegen teilen, so der Handwerker – darzulegen. Er hält die nun von der Ampel-Koalition stark verwässerte 65-Prozent-Erneuerbaren-Quote bei neuen Heizungen für absolut sinnvoll, aus Klimaschutz-Gründen und auch, weil es wirtschaftlich sinnvoll ist. Technisch spreche ohnehin in den meisten Fällen nichts gegen den Einbau einer Wärmepumpe, auch nicht in Bestandsbauten. Wo der energetische Zustand des Gebäudes schlecht ist, können Eigentümer auf eine Hybridheizung ausweichen, in denen ein Gas- oder Ölkessel die Wärmepumpe an sehr kalten Tagen unterstützt.
Bei seinen Kunden beobachtet Zimmermann viel Unkenntnis und Vorurteile, eine gewisse Beratungsresistenz und auch eine große Portion Bockigkeit – lieber noch schnell eine neue Ölheizung einbauen, bevor der Staat das untersagt, schon aus Prinzip. Am Geld scheitere die Installation einer Wärmepumpe jedenfalls im reichen München meist nicht, sagt Zimmermann:
Ich sehe jeden Tag bei meinen Kunden, welche Autos vor der Garage parken. Das sind teure SUVs, die nach fünf Jahren wieder ausgetauscht werden. Bei ganz vielen Leuten ist das Geld da – aber an der Heizung wird gespart.
Wie ertragen, dass wir als Menschheit zu scheitern drohen?
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Silke Jäger
Der Philosoph Thomas Metzinger wirft im Gespräch mit Gert Scobel eine existenzielle Frage auf:
„Wie bewahrt man eigentlich seine Selbstachtung in einer historischen Epoche, in der die Menschheit als Ganzes ihre Würde verliert?“
Metzinger beantwortet sich diese Frage so:
Das geht nicht mehr, weil man das Verhalten von sehr großen Teilen der Menschheit nicht mehr respektieren kann. Wir sind eine scheiternde Spezies.
Aus seiner Sicht geht es für die Menschheit jetzt darum, Schadensbegrenzung und intelligentes Katastrophenmanagement zu betreiben. Er hält Achtsamkeits- und Mitgefühlstechniken, wie sie in nicht-westlich geprägten Kulturen entwickelt wurden, für einen wichtigen Teil solch eines intelligenten Katastrophenmanagements.
Dabei will Metzinger es nicht so verstanden wissen, als ob Meditation ein wirksames Mittel gegen den Klimawandel wäre. Vor allem dann nicht, wenn es als Konsumware verkauft wird. Vielmehr geht es um das Handeln, um zu Erkenntnissen zu kommen. Das wäre nach Kant zum Beispiel „Das Richtige tun, einfach weil es das Richtige ist.“ Aber die asiatische Praxis des Handelns ohne Worte hält er ebenso für etwas, das wir in unserer Lage gut gebrauchen können. Meditation hilft dabei, sich selbst anders wahrzunehmen und sich dann anders in die Welt zu stellen.
Er plädiert für eine Art säkulare Spiritualität als Weg, um die eigene Selbstachtung zu schützen, während sie auf dem Weg in die Klimakatastrophe durch das Erleben, dass die Menschheit ihr eigenes Verhalten nicht ändern kann, obwohl sie es für nötig hält, immer wieder zerstört wird.
Die vielleicht schwerste und zugleich notwendige Praxis ist für Metzinger:
„Sanft und präzise bei dem Gefühl bleiben, das man eigentlich nicht spüren will.“
Das Gespräch startet etwas sperrig, wird aber schnell sehr interessant und macht Punkte auf, die ich vorher so noch nicht gehört habe. Es verbindet die politischen und psychologischen Herausforderungen durch den Klimawandel mit philosophischen und spirituellen Traditionen. Dabei spielt der von Metzinger eingeführte Begriff der Bewusstseinskultur eine zentrale Rolle.