Fremde Federn

Autolobby, Welt(un)ordnung, AI-Copyright-Krise

Diese Woche unter anderem in den Fremden Federn: Ein europapolitischer Rückblick auf das Jahr 2023, die Bundesregierung als effiziente Lobbyistin der Autoindustrie und wie gesellschaftlicher Fortschritt in Zeiten von AI-Innovationen gelingt.

Foto: Jojo Bombardo via Flickr (CC BY-ND 2.0)

In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.

Die Bundesregierung als effiziente Lobbyistin der Autoindustrie

piqer:
Jürgen Klute

Dass die deutsche Automobilindustrie ihre Interessen im politischen Raum sehr effizient zu vermitteln und durchzusetzen versteht, ist nicht neu. Nick Reimer zeichnet in diesem Artikel in der taz die „Vermittlungswege“, derer sich die Automobillobby bedient, detailliert nach. Das macht diesen Artikel lesenswert.

Beim Lesen gewinnt mensch den Eindruck, dass die Bundesregierung teils selbst Teil des Lobbynetzwerks der Automobilindustrie ist, wenn es darum geht, im Rat der EU in Brüssel Interessen der deutschen Automobilindustrie auf EU-Ebene zu Gehör zu bringen und durchzusetzen.

Zwei interessante Details aus dem Artikel:

Es gibt auf der ganzen Welt elf Staaten, in denen kein Tempolimit gilt: Unter anderem sind das Somalia, Bhutan, Nepal und Afghanistan. In zehn dieser Länder gibt es gar keine Straßen, auf denen Rasen möglich wäre. Und dann gibt es noch Deutschland – den weltweit einzigen Staat, der unbegrenztes Tempo erlaubt und der sehr viel Steuergeld investiert, um dieses Rasen möglich zu machen.
[…]

Vor allem würde ein Tempolimit in Deutschland die Treibhausgas-Emissionen drastisch senken: je nach Ausgestaltung um 1,9 bis 5,4 Millionen Tonnen, wie eine Studie des Umweltbundesamtes ergab. Das mag nicht viel klingen. Tatsächlich sind 5,4 Millionen Tonnen aber mehr, als die 11,8 Millionen Einwohner des Staates Burundi insgesamt emittieren. Unser Bleifuß ist also für mehr Treibhausgase verantwortlich, als in Ostafrika Millionen Menschen durch Essen, Wohnen, Produzieren emittieren.

Und:

Natürlich ist dies nur eine Strategie, mit der sich die deutschen Autokonzerne gegen Klimaschutz, Abgasnormen oder Tempolimit wehren. Eine andere nennt sich „Parteispende“: Nach Recherchen von Lobbycontrol flossen seit 2009 mehr als 17 Millionen Euro aus der Autoindustrie an Union, FDP, SPD und Bündnisgrüne.

Schöne, neue Welt(un)ordnung oder: Auf der Kippe

piqer:
Achim Engelberg

Die Welt steht auf der Kippe. Ein Zurück geht nicht mehr, ein weiter so führt in eskalierende Katastrophen, aber wo ist ein Weg ins Offene?

Paul Mason und Herfried Münkler sind vertraute Gäste auf Piqd. Nun publizierten beide über eine neue Welt(un)ordnung. Neben dem Artikel von Paul Mason gibt es diesen Podcast mit Herfried Münkler von Peter Dausend und Ileana Grabitz auf ZEIT-Online. Beide nehmen den Abzug des „Westens“ aus Afghanistan im August 2021 als Ausgangspunkt, beide nutzen historische Rückblenden. Herfried Münkler spielt als Politikwissenschaftler und -berater Möglichkeiten durch; Paul Mason blickt stärker auf die ökonomische Basis.

Es gibt, um eine Metapher von Karl Marx zu bemühen, einen rechtlichen und geopolitischen Überbau, der von der darunter liegenden wirtschaftlichen Basis nicht mehr getragen werden kann, weil diese Basis zerbrochen ist.

Die Weltwirtschaft hat begonnen, sich zu deglobalisieren, und zerfällt in rivalisierende Sphären. Der globale Informationsraum wird balkanisiert. Russland und China haben einen Systemwettbewerb gegen den Westen gestartet und sind mit Erfolg dabei, Oligarchien und gescheiterte Demokratien für ihr Projekt zu rekrutieren.

Beide Beobachter analysieren jenseits des Schwarz-Weiß-Musters oder des ebenso simpel-falschen Demokratie-Diktatur-Rasters die Lage. Der Aufbau einer neuen Ordnung, die oft schon den Keim ihres Untergangs in sich trägt, braucht seine Zeit; über die Zeit des formierten „Kalten Krieges“ schreibt Mason:

Das Nachkriegsgefüge erforderte eine jahrzehntelange intellektuelle Anstrengung und rechtlich, politisch und ökonomisch ein in entscheidenden Punkten neues Denken des Westens – lange bevor dieses neue Denken in Form von Gesetzen und Institutionen in die Tat umgesetzt wurde.

Heute gilt es, die Unzufriedenen, die nicht unbedingt Diktatoren wie Putin oder einen tödlichen Antisemitismus der Hamas wünschen, sondern vor allem mit der Ungerechtigkeit der untergehenden Weltordnung brechen wollen, zu gewinnen.

Denen soll man nicht Wege zum vermeintlichen Glück vorschreiben, sondern Vorschläge zur Weiterarbeit machen:

Deshalb muss der neue Multilateralismus ein Gemeinschaftswerk sein, in das die fortschrittlichen und humanistischen Traditionen Chinas ebenso einfließen wie die des indischen Subkontinents, Afrikas und Lateinamerikas sowie des Westens. Er muss sich auf ihr Wissen stützen und ihre Werte verkörpern – aber er muss auch den Universalismus neu formulieren und Zusammenhalt stiften.

Ist eine solche gleichberechtigte Zusammenarbeit inmitten der realen Ungleichheit möglich? Eine Unsicherheit ist bei beiden Autoren zu spüren, aber beide provozieren mit dem Wissen von gestern Fragen fürs Heute, die ins Morgen zielen.

Ein europapolitischer Rückblick auf das Jahr 2023

piqer:
Jürgen Klute

Das Jahr 2023 begann für die Europäische Union mit einem der bisher größten Skandale des Europäischen Parlaments: dem so genannten Katar-Gate-Skandal. Das war allerdings nicht die einzige Herausforderung, mit der die Europäische Union sich im zurückliegenden Jahr konfrontiert sah.

Das europäische Nachrichtenportal Euractiv hat in den ersten Januartagen 2024 eine kleine Artikelserie veröffentlicht, in der es einige der wichtigsten politischen Herausforderungen der EU in 2023 unter die Lupe nimmt. Der hier verlinkte von Benjamin Fox verfasste allgemeine Jahresrückblick wird um die folgenden themenspezifische Rückblicke ergänzt:

Die EU-Außenpolitik im Jahr 2023: Zwischen zwei Kriegen und Erwartungen künftiger Mitglieder. Kann die EU ein echter globaler Akteur sein? Im Jahr 2023 hat sie dies sicherlich versucht, allerdings nur mit mäßigem Erfolg. Grund dafür war die Schwierigkeit, mehrere Krisen zu bewältigen und gleichzeitig ihren Einfluss auf Nachbarn und Partner auszudehnen. Von Alexandra Brzozowski. (05.01.2024)

Atomkraft, Phosphat und Wasserstoff: EU-Energiepolitik im Jahr 2023. Das Jahr 2023 war in der Energiepolitik geprägt von vielen Auseinandersetzungen. Insbesondere das Ringen zwischen Frankreich und Deutschland um die Atomkraft dürfte einigen im Gedächtnis geblieben sein. Allerdings gab es auch erfreuliche Nachrichten. (05.01.2024)

2023: Europas entscheidendes Jahr für die Digitalpolitik. Das vergangene Jahr war in der Digitalpolitik für die EU in vielen Bereichen prägend. Vom KI-Gesetz bis zu den strengeren Regeln für digitale Plattformen wurde eine Reihe von Meilensteine gelegt. Von Julia Tar (05.01.2024)

2023: Ein Jahr der Turbulenzen in der EU. Das Jahr 2023 war wohl eines der turbulentesten der jüngeren Geschichte: Der Ukraine-Krieg ging in das zweite Jahr, die Energiekrise dauerte weiter an und der deutschen Wirtschaft wurde ein deutlicher Dämpfer verpasst. Mit dem Krieg im Gaza wurde die Weltlage zudem noch einmal deutlich komplizierter. Von Oliver Noyan (05.01.2024)

2023 in der EU-Agrarpolitik: Ein Jahr der Hindernisse und Blockaden. Debatten und politische Entscheidungen rund um Landwirtschaft und Lebensmittel sind üblicherweise emotional und oft stark polarisierend. Im Jahr 2023 gab es in der EU-Agrar- und Lebensmittelpolitik jedoch ein neues Ausmaß an Blockaden und Dramen. Von Julia Dahm und Maria Simon Arboleas (03.01.2024)

Verstellt uns die menschliche Evolution den Weg aus der Klimakrise?

piqer:
Ole Wintermann

Ein neues wissenschaftliches Paper der University of Maine stellt die These auf, dass der Mensch evolutionär und kulturell nicht dafür geschaffen sei, die Klimakrise erfolgreich zu bewältigen.

Der erste von den Forschenden genannte Grund liegt darin, dass die Menschheitsgeschichte eine Geschichte der räumlichen und materiellen Expansion gewesen ist. Kleine, über den Planeten verteilten Menschengruppen haben beständig ihre Werkzeuge zur Ausweitung der materiellen Grundlage ihres Lebens genutzt. Kam es infolgedessen zur Zerstörung der regionalen Lebensgrundlagen, so zogen die Menschen entweder weiter oder fortentwickelten Methoden, um die Ausbeutung vor Ort noch weiter treiben. Das Problem liegt nun ganz offensichtlich darin, dass es zukünftig keinen Weg mehr geben wird, um vor zerstörten natürlichen Ressourcen zu fliehen. Nahezu die ganze Welt wird von den Menschen genutzt, um weiter materiellen Konsum anzuhäufen. Es gibt keine Räume des Ausweichens mehr. Da die Genetik der sozialen Entwicklung hinterherhinkt, ist der Mensch nicht darauf spezialisiert, mit begrenzten und zerstörten Räumen umzugehen, ohne mit anderen Menschen in Konflikt zu geraten.

Hier setzt das zweite elementare Argument an. Regelungen zur Bewältigung umweltbedingter Konflikte waren in der Vergangenheit stets regionaler und teils nationaler Art. Grenzüberschreitende Verschmutzungen von Flüssen wurden und werden zwischen den beteiligten Nationen geregelt. Inzwischen hat uns die Klimakrise aber gezeigt, dass ein Problem jenseits der Regelungsebene zu finden ist, dass auch nur global gelöst werden kann. Hierzu gibt es aber keinen Erfahrungshintergund. Es gibt keine gesetzlich oder regulatorisch legitimierte globale Sanktionsebene, die globale Spielregeln auch umsetzen könnte. Die internationalen Klimakonferenzen und die UN können zwar eine Plattform zur Aushandlung und zum Austausch bieten; ihnen fehlt aber der sanktionierende Charakter. Wie soll das globale „Spiel“ der Klimakrise gelöst werden, wenn es keine Ordnungsmacht gibt?

Moral vs Innovation und die AI-Copyright-Krise

piqer:
René Walter

In meinem privaten Newsletter habe ich die Copyright-Krise der AI-Industrie nach der Klage der New York Times gegen OpenAI zusammengefasst, und ich möchte einen der dort verlinkten Artikel hier gesondert vorstellen.

Alberto Romero beschreibt in seinem Newsletter The Algorithmic Bridge, warum der Konflikt zwischen der New York Times und OpenAI nicht nur ein rechtlicher ist, sondern vor allem einen Konflikt zwischen Moral und Fortschritt darstellt. (Ich denke, die Dichotomie von Moral gegenüber Fortschritt ist hier falsch, und der korrekte Ausdruck wäre an dieser Stelle Innovation).

Denn historisch betrachtet geht es in diesem Konflikt um technologische Innovation, die auf bestehende gesellschaftliche moralische Vorstellungen trifft, wie die MIT-Ökonomen Daron Acemoğlu und Simon Johnson in ihrem Buch „Progress and Power“ aufzeigen. Nur durch den ausgefochtenen Konflikt, in dem innovative Durchbrüche durch Moral (in Form von Gesetzen) gelenkt werden muss, schaffen wir schließlich Fortschritt für die gesamte Gesellschaft.

Sozialpsychologisch betrachtet ist Moral ein Maximierer für gesellschaftliche Kooperation, die Konsens darüber herstellt, was man tun kann und was nicht, welche Dinge tabu sind, die Position und Größe des Overton-Fensters usw. Diese moralischen Werte werden so heftig umkämpft, weil sie bestimmen, wie gut und in welcher Form alle Teile einer Gesellschaft zusammenarbeiten können und werden. Meistens ergibt Moral Sinn, manchmal veraltet sie, wird umkämpft und ersetzt, sie ist nie kanonisiert und befindet sich ständig im Wandel.

Jede bahnbrechende Innovation mit gesellschaftlicher Wirkung stört diesen Prozess der moralischen Werteausrichtung, und nicht nur der Konflikt um KI-Regulierung, sondern auch die Auswirkungen neuer Formen digitaler Massenkommunikation und Veröffentlichungssysteme (Soziale Medien z.B.) ist ein Zeugnis dieser Prozess-Störung, wenn Karten durch Innovation neu gemischt und neu verteilt werden.

Fortschritt (angewandte Innovation zum Wohle der gesamten Gesellschaft) gelingt dann, wenn dieser Konflikt gelöst wird, neue Moralvorstellungen entwickelt und im neuen konsensualen Gesellschaftsverträgen akzeptiert oder Innovationen in die moralisch akzeptierten Handlungsweisen integriert werden.

Fortschritt ist etwas, dem wir alle zustimmen können, von technolibertären „Effective Accelerators“ bis zu linken Technikkritikern. Der Konflikt, der nun mit der Klage der NYT gegen OpenAI seinen bisherigen Höhepunkt erreicht, handelt davon, wie gesellschaftlicher Fortschritt in Zeiten von AI-Innovationen gelingt.

Und ich persönlich bin nicht bereit, „alte“ moralische Werte wie Freiheit und Eigentum aufzugeben, um zu entscheiden, ob ich möchte, dass meine Arbeit Teil der KI-Maschine ist, um Trainingsdaten für Microsoft bereitzustellen, und wenn ja, dass ich den Preis für meine Arbeit festlege. Diese Art von Freiheit in Geschäftsbeziehungen mögen für libertäre Technologie-Fanatiker wie Marc Andreessen oder Sam Altman veraltete moralische Werte sein, aber nicht für mich, und nicht für die New York Times.

Der russische Atom-Konzern Rosatom breitet sich im Emsland aus

piqer:
Jürgen Klute

„Rosatom ist ein russischer Staatskonzern, der direkt dem Kreml unterstellt und aktiv am Krieg gegen die Ukraine beteiligt ist“, […]. „Der Atomriese bündelt den gesamten militärischen und zivilen Atomsektor Russlands, vom Uranbergbau bis zu den Atomwaffen. Mit dem Bau von AKWs in zahlreichen Ländern schafft er jahrzehntelange Abhängigkeiten und setzt so geopolitische Ziele des Kreml um.“ Zitiert Bernhard Clasen in einem Artikel für die taz Armin Simon von der Umweltorganisation „.ausgestrahlt“.

Trotz Ukraine-Krieg und Sanktionen gegen Russland ist Rosatom dabei, im Emsland Fuß zu fassen. Dieser Schritt erfolgt offenbar in enger Zusammenarbeit mit dem französischen Atom-Unternehmen „Framatome“. Die näheren Umstände und Hintergründe dieses Deals erläutert Bernhard Clasen in dem hier verlinkten Artikel.