Fremde Federn

Auto-Sucht, Dromedar-Gesellschaft, Techno-Pragmatismus

Diese Woche unter anderem in den Fremden Federn: Der Mythos vom Riss durch die Mitte der Gesellschaft, warum das Bürokratie-Problem kleiner sein dürfte als häufig behauptet und wie die „Liebe zum Auto“ geheilt werden könnte.

Foto: Jojo Bombardo via Flickr (CC BY-ND 2.0)

In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.

Bremst Bürokratie die Wirtschaft aus?

piqer:
Jürgen Klute

Wirtschaftslobbyisten klagen gerne über Bürokratie und werfen dem Staat vor, er bremse die wirtschaftliche Entwicklung. Nun hat das Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) eine Studie vorgelegt, die zu einem ganz anderen Ergebnis kommt. Dazu hat sich das DIW gemeinsam mit der Universität Göteborg die Verwaltungsqualität auf regionaler Ebene näher angeschaut. Das Ergebnis ist durchaus überraschend und passt nicht zu den Bürokratieklagen der Wirtschaftslobbyisten.

Diese Empfehlung bezieht sich nur auf einen relativ kurzen Bericht im Spiegel. Das Ergebnis der dargestellten Studie lohnt aber eine Empfehlung und eine Kenntnisnahme verbunden mit der Hoffnung auf zukünftig qualifiziertere Debattenbeiträge zum Thema.

Krieg, Terror und unsere Abhängigkeit von fossilen Energien

piqer:
Ralph Diermann

Es ist kein komplexer Gedanke und auch kein neuer, den Nils Minkmar da ausspricht – aber immer wieder und gerade heute braucht es unbedingt jemanden, der das Offensichtliche so klar und mit solchem Furor benennt, wie es der Autor tut: Islamisten und Antisemiten, Putin und Khamenei und Mohammed bin Salman, all die Feinde der offenen, liberalen, solidarischen Gesellschaft, eint, dass ihr Hass auf Juden, Frauen und Minderheiten privat bliebe, wenn wir ihnen nicht ihre fossilen Brennstoffe abkaufen würden.

Auch der russische Überfall auf die Ukraine habe daran wenig geändert – wir haben bloß den Lieferanten gewechselt. Die Angst der Bundesregierung vor den deutschen Autofahrern ist größer als jene vor Putin, zitiert SZ-Redakteur und Autor Minkmar den Fernsehjournalisten Stephan Lamby.

Deutschland lebt sentimental in der Fernsehwerbung der Siebziger Jahre: Eigenheim, PKW und Frühstücksidylle,

schreibt Minkmar. Erst wenn wir von Öl und Gas weg kommen, helle sich der historische Horizont wieder auf. Die gepiqten Passagen stammen aus dem wöchentlichen, sehr empfehlenswerten Newsletter Minkmars, „Der Siebte Tag“ betitelt. Wer angesichts der Weltenlage etwas Trost sucht, findet auch den in dieser Ausgabe – von Igor Levit und Nigel Slater.

Ein Ex-Topmanager und -Politiker fordert einen radikalen Neuanfang

piqer:
IE9 Magazin

Krischan Lehmann von 1E9 interviewt den ehemaligen Politiker und Topmanager Thomas Sattelberger, der zuletzt für die FDP Staatssekretär im Bundesministerium für Bildung und Forschung war und gerade sein Buch „Radikal neu. Gegen Mittelmaß und Abstieg in Politik und Wirtschaft“ veröffentlicht hat. Sattelberger sieht Deutschland mitten in einer Innovationskrise.

„Wir schwächeln nicht, wir sind krank. Und ich kann das für mich bis ins Platzen der Dotcom-Blase zurückverfolgen, also etwa bis zur Jahrtausendwende.“

Sattelberger kritisiert mit sehr deutlichen Worten die deutsche Politik, Wirtschaft und Bildung für ihr Versagen, die digitale Transformation zu gestalten, neue Geschäftsmodelle zu entwickeln und Talente zu stärken. Er spricht von „spätrömischer Dekadenz“ und prophezeit eine schmerzhafte Krise. Allerdings liefert er auch Ideen, wie es aus seiner Sicht wieder besser laufen könnte.

„Das Politiksystem braucht Disruption. Das ist meine tiefe Erkenntnis aus meinen sechs Jahren Politik. Das alte System ist in sich nicht reformfähig.“

Sattelberger plädiert für ein radikales neues Denken, das sich nicht in alte Erfolge verliebt, sondern Experimentierräume für Innovationen schafft. Er schlägt unter anderem vor, den Beamtenstatus zu reformieren, Sonderwirtschaftszonen zum Erproben technologischer Neuerungen einzurichten und der Politik wieder mehr Gestaltungsspielraum zu verschaffen. Denn der größte Teil des Staatshaushalts sei inzwischen nur noch zur Deckung von Fixkosten da.

Trotz aller Kritik sieht er die Krise als Chance für eine Erneuerung.

Der Mythos vom Riss durch die Mitte der Gesellschaft?

piqer:
Thomas Wahl

Sind unsere westlichen Gesellschaften wirklich so gespalten wie zunehmend behauptet wird? Und wenn ja, welche betrifft es besonders und warum? Oder ist das nur ein „Mythos“, der anhand von Beispielen und verschiedenen Streitthemen versucht wird zu untermauern? Immer mit hohen Erregungswellen in Politik und Medien. Auch bei Piqd haben wir auf solche Fragen schon verwiesen.

Ein Team von Wissenschaftlern um den Soziologen Steffen Mau hat nun jüngst die Einstellungen zu aktuellen Reizthemen quer durch alle Schichten in Deutschland untersucht. Das Medienecho war groß, hier „Die Welt“ dazu:

Die Soziologen ließen über 2500 Bundesbürger ab 16 Jahren für eine repräsentative Studie befragen und Teilnehmer in mehreren Diskussionsgruppen in Berlin und Essen aufeinandertreffen. Mit „Triggerpunkte. Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft“ stellen die Wissenschaftler nun ihre überraschenden Ergebnisse vor. Gibt es einen gesellschaftlichen „Rechtsruck“? Verkörpern der „alte weiße Mann“ und die Boomer den Rückschritt? Ist die Arbeiterklasse gefangen in einem trüben Sumpf aus Fremden- und Queerfeindlichkeit? Nichts davon stimmt, so Mau, Lux und Westheuser. Die Studie erschüttert zahlreiche Gewissheiten über die „Kulturkämpfe“, sowohl des moralisierenden Jargons des Linksliberalismus als auch der Rechten. Es ist die dringend nötige Korrektur eingeschliffener Debatten durch Empirie.

In ihrem aus den Analysen bei Suhrkamp erschienenen Buch schreiben die Autoren:

Trotz der jüngsten Prominenz dieser Thesen gehört das Bild eines Auseinanderfallens der Gesellschaft in gegensätzliche Blöcke seit Langem zum Repertoire der Zeitkritik. So erklärte Marx die sozialen Kämpfe seiner Zeit durch die Grundspannung des Kapitalismus. Als Kamelhöcker treten hier soziale Klassen auf, die durch ihr Eigentum an Produktionsmitteln und ihre Position in der Produktionssphäre bestimmt sind. Im Spiel der kapitalistischen Kräfte, so prophezeite es das Kommunistische Manifest, würden »Zwischenklassen« nach und nach zerrieben. Übrig blieben zwei antagonistische Hauptklassen, verkörpert durch die Gruppen der Besitzenden und der Lohnabhängigen. Dieses schismatische Zwei-Klassen-Modell war lange Zeit eine der wirkmächtigsten Polarisierungsdiagnosen in den Sozialwissenschaften.

Bekanntlich ist es nicht ganz so gekommen. Das „Neue Deutschland“ bringt nun hierzu ein Interview mit Steffen Mau, das erfreulicherweise nicht hinter der Bezahlschranke steht und auch daher hier empfohlen wird. Mau charakterisiert den Grad der gemessenen gesellschaftlichen Spaltung in Deutschland als „Dromedargesellschaft“ und eben nicht als „Kamelgesellschaft“ .

Beim Kamel haben wir zwei Höcker, dazwischen ist ein großer Graben. Hier stehen sich zwei gesellschaftliche Großgruppen gegenüber, die Differenzen erscheinen unüberbrückbar. Beim Dromedar gibt es einen großen Hügel, die Ränder laufen aus und sind deutlich kleiner.

Kamelgesellschaften findet man eher in Staaten mit Mehrheitswahlrecht sowie Zwei-Parteien-Systemen wie in Großbritannien oder in den USA und weniger in Ländern mit Verhältniswahlrecht. Beim Mehrheitswahlrecht gewinnt immer der Kandidat mit den meisten Stimmen das Mandat. Koalitionsregierungen sind daher eher unüblich, es dominieren wenige große Parteien. Mehrheitswahlrecht fördert also Polarisierungen und passt nicht mehr richtig zu den vielfältig ausdifferenzierten modernen Gesellschaften.

Aus dieser Ausdifferenzierung und Vielfalt folgt nach Mau auch, dass  die traditionelle Aufteilung in ein rechtes und ein linkes politisches Lager nur noch bedingt zeitgemäß ist. Die historisch bekannten absoluten Spaltungsdiagnosen, wie sie etwa Marx theoretisch untermauert hat, verlieren demnach an Relevanz.

Die Diagnose, nach der wir in einer gespaltenen Gesellschaft leben, wäre also zu pauschal:

Wir leben in einer emotional aufgewühlten Gesellschaft mit vielen neuen Konflikten. Wir haben radikale Ränder. Aber deshalb ist unsere Gesellschaft noch nicht gespalten. Die meisten Leute gruppieren sich in der breiten Mitte.

Auch wenn heute der Rechts/Links-Konflikt noch den politischen Raum strukturiert, ist der Grundkonflikt weniger dominant.

Es sind neue Konflikte hinzugetreten, Themen wie Migration, Klimawandel oder sexuelle Diversität machen die Lage komplizierter. Wir sehen in den politikwissenschaftlichen Analysen, dass es im Vergleich zu früheren Urnengängen mehr Wählerwanderung beispielsweise zwischen der SPD, den Grünen und der CDU/CSU gibt, sich also die Fronten etwas aufgeweicht haben. Neu ist in Deutschland aber der Aufstieg einer rechtspopulistischen und in Teilen rechtsradikalen Partei, der AfD. Dadurch sind neue Reibeflächen in der politischen Auseinandersetzung entstanden.

Insofern scheint die starke gesellschaftliche Spaltung auch etwas medial und politisch herbeigeredet?

Es gibt eine »Spaltung in den Köpfen« oder eine »gefühlte Polarisierung«, die das tatsächliche Auseinanderdriften der Gesellschaft überbetont. Die Menschen sind bei vielen Themen näher beieinander und weniger kompromisslos als man angesichts der öffentlichen Debatten meinen könnte. Statt einer Spaltung in der Mitte haben wir eine Radikalisierung des Randes.

Das erscheint mir durchaus einleuchtend. So wird die Stärke und Richtung einer beobachteten Polarisierung auch von der Blickrichtung und Fragestellung der Analyse abhängen. In einem etwas früheren Interview in „Soziopolis“ sagte Mau dazu:

Beschäftigt man sich politikwissenschaftlich mit Polarisierungsphänomenen, wird in der Tat eine Veränderung des Parteiensystems in der gesamten westlichen Welt mit einer größeren Bedeutung von Parteien erkennbar, die entweder universalistische Überzeugungen vertreten und ökologische Fragen thematisieren oder ethno-nationalistische Schließungen propagieren wie die AfD oder Lega Nord. Das sind zweifelsohne neue Erscheinungen jenseits des alten Schemas links-rechts oder Kapital-Arbeit. In den Elektoraten ist eine Reorganisation der Wählerschaft und Wählerströme zu beobachten, bis hin zu dem Punkt, an dem manche sagen, die AfD sei die neue Arbeiterpartei und spreche vor allem die unteren Schichten an. Wenn man jedoch soziologisch fragt, wie sich Leute zu Sachthemen positionieren, zu zentralen gesellschaftlichen Fragen – Migration, Anerkennung sexueller Diversität, Gleichstellung von Mann und Frau – dann ist die Lage viel unübersichtlicher. Die Ergebnisse solcher Untersuchungen erlauben es nicht ohne Weiteres, die Leute dem einen oder anderen Camp zu zuordnen. Da finden sich keine scharf konturierten, klar einander gegenüberstehenden Lager. Und es lässt sich auch keine, wie man früher gesagt hätte, klare soziale Standortgebundenheit der Positionen feststellen, etwa in dem Sinne, dass es ein kosmopolitisches Oben und ein kommunitaristisches Unten gebe.

Insofern findet die Forschungsgruppe auch keine Aufspaltung in zwei klar  zu unterscheidende Lager und auch keinen strikt trennenden Graben zwischen Bevölkerungssegmenten.

Es mag einen kosmopolitischen und einen kommunitaristischen Pol als Idealtypen von Gesinnungsklassen geben, die meisten Menschen positionieren sich aber irgendwo in der Mitte.

In dem Interview des ND nennt Mau vier empirisch nachgewiesene zentrale „Konfliktarenen der Ungleichheit“

Erstens den Oben-Unten-Konflikt, in dem es um klassische ökonomische Ungleichheit und um Verteilungsfragen geht. Zweitens um Innen-Außen-Konflikte wie die Migration. Dazu kommt die  Wir-Sie-Arena, die sich um Diversität und Diskriminierung dreht, und die Heute-Morgen-Arena, also etwa die Klimafrage. Die drei letzten Themen seien eher neue Konflikte, die viel Bewegung und Erregung in die Gesellschaft hineinbringen und sehr viele „Triggerpunkte“ aufweisen:

Wir beobachten einerseits viel Konsens, aber auch erhitzte Gemüter, wenn bestimmte Reizthemen angesprochen werden, etwa das Gendern in der Sprache, im Straßenverkehr die Lastenfahrräder oder auf der anderen Seite Geländewagen wie die SUVs. Verletzungen von Gleichheitsvorstellungen, Gefühle von Kontrollverlust und Veränderungszumutungen sind typische Trigger, die Menschen erregen oder wütend machen. Das führt dann zu besonders emotionalisierten Diskussionen, die sich nicht so schnell einfangen lassen.

Und diese neuen „Umordnungen“ politischer Konfliktfelder erzeugen natürlich auch neue Allianzen. Wir sollten zur Kenntnis nehmen, was Mau im Interview mit der „ZEIT“ sagte:

Die soziale Welt ist nicht so schubladisiert, wie es vermittelt wird. Die öffentlichen Diskurse sind zum Teil entkoppelt von der Realität. Ich bin selbst immer wieder überrascht von der Empirie, weil sich meine Erwartungen ja auch aus den Medien und privaten Unterhaltungen speisen. Als Soziologe bin ich ein Mythenjäger.

Jagen wir auf der Suche nach der Wirklichkeit die „schubladisierenden“ Mythen mit Geduld und Gelassenheit. Wir sind uns in Vielem wohl näher als gefühlt …

Techno-Pragmatismus > Techno-Optimismus

piqer:
René Walter

Marc Andreessen, mililardenschwerer Investor in Silicon Valley, schrieb vor wenigen Tagen ein Manifest des Techno-Utopismus. Man könnte dieses Dokument, das vor Pathos, historischen Ungenauigkeiten und veraltetem Marktfundamentalismus nur so strotzt, getrost ignorieren, wenn Andreessen nicht einer der einflussreichsten Männer in Technologie-Kreisen wäre und sein Wort Gewicht hat. Dieses Manifest ist ein brauchbarer Wegweiser für die Stimmungen und Haltungen der Elite im Technologie-Sektor, selbst wenn es wie das inbrünstig vorgetragene Wannabe-Epos eines Teenagers klingt.

Lucas Ropek schreibt auf Gizmodo, warum Andreessen mit praktisch allem falsch liegt, und ich habe in meinem Newsletter aufgeschrieben, warum die pathosgeladene Ästhetisierung von letztlich politisch-regulativen Fragen an die Wurzeln des Faschismus erinnert, die Andreessen in seinem Dokument auch zusammen mit neoreaktionären Denkern explizit zitiert.

Einen anderen, etwas unaufgeregteren, aber möglicherweise besseren Kritikansatz bietet David Karpf in seinem Takedown Why can’t our tech billionaires learn anything new? Er beschreibt, warum Andreessen vor allem abgehangene und verbrauchte Tech-Visionen aus den Neunzigern aufwärmt, die vor allem deshalb abgeschmackt klingen, weil die sogenannten Techno-Utopisten der Neunziger seit dem Siegeszug des Internets praktisch politische und gesellschaftliche Blankoschecks erhielten in Form von Steuersenkungen, Subventionen und Deregulierung. Damit haben sie dann vor allem Marktmonopolisierung und Ungleichheit erschaffen.

Gleichzeitig zeigt Andreessen mit dem Finger auf Feinde – nicht Menschen, wie er betont, sondern „gefährliche Ideen“, die die Freiheit des unregulierten Marktes und ungebundener Innovationskraft bedrohen. Diese Ideen sind Industriestandards wie „Risk Management“, aber auch Nachhaltigkeit, soziale Verantwortung, Trust and Safety, Stakeholder Capitalism und so weiter und so fort.

Karpf hält entgegen, dass dies Merkmale nicht einer pessimistischen, regressiven Sicht auf technologische Innovation sind, die angeblich Fortschritt verhindern, sondern Ansätze für das, was er Techno-Pragmatismus nennt, und bezieht sich dabei auf einen seiner älteren Aufsätze.

Techno-Pragmatismus sieht die Chancen des technologischen Fortschritts und ist dabei nicht weniger enthusiastisch, als Techno-Optimisten, verschließt aber seine Augen nicht vor Risiken und den deshalb nötigen Regulationen, die technologischen Fortschritt in zivilisatorisch-legislative Mechanismen zum Nutzen der breiten Bevölkerung einbetten.

Die Geschichte gibt ihm Recht. MIT Ökonom Daron Acemoğlu beschreibt in seinem neuen, auf jahrelanger historischer Forschung basierenden Buch Power and Progress, warum es nie ungebremste technologische Innovation alleine war, die gesellschaftlichen Fortschritt auslösten, sondern immer der damit verbundene Kampf darum, die mit technologischem Fortschritt einhergehenden Besserungen der breiten Bevölkerung zugänglich zu machen und den Menschen Anteil an den fortschrittlicheren Lebensbedingungen zu bieten.

Marc Andreessens möchte genau diesen Kampf um Regulation zugunsten eines libertären, ungebremsten Fortschritts beseitigen, weshalb ich sein Manifest nicht für techno-optimistisch, sondern techno-extremistisch halte und den wahren Techno-Optimismus bei Karpf und Acemoğlu sehe: Die Zuversicht auf sozial und politisch integrierten technologischen Fortschritt, der allen zugute kommt – nicht nur einer handvoll von Tech-Millardären und ihren akzelerationistischen Anhängern.

Die „Liebe zum Auto“ ist heilbar

piqer:
Ole Wintermann

Der Verkehrssektor ist einer der größten GHG-Emittenten. Egal ob es um den Transport von Waren oder Menschen geht; Maßnahmen zur GHG-Reduzierung im Verkehrssektor beziehen sich in den allermeisten Fällen auf die Antriebswende, ohne eine Verkehrswende ernsthaft ins Auge zu fassen. Dieser Text bei „Yale Climate“ beschäftigt sich – mit einem Fokus auf die USA – mit der Frage, warum wir in der Breite verlernt haben, im Bereich der Mobilität in Alternativen zum Auto zu denken.

Die historische Analyse des Aufkommens des Autos in US-Städten zeigt, dass es spielende Kinder und Fußgänger waren, die zuvor die Straßen der Städten geprägt haben. Die Straßen gehörten zum Leben dazu und boten Platz und Freiheit (Anm. meinerseits: Es sei hier ein Blick in alte YT-Videos zu empfehlen, die deutsche Straßen in den 1920ern und 1930ern zeigen und diese Analyse aus den USA stützen).

Durch das Aufkommen der Autos auf den Straßen erhöhte sich die Zahl der Todesopfer unter denjenigen, die sich zuvor frei auf der Straße bewegen konnten. Die Polizei konzentrierte sich immer mehr auf die Entwicklung und Einhaltung von Verkehrsregeln, in den Schulen lernten Kinder, Angst vor den Autos haben zu sollen (euphemistisch: Verkehrskunde-Unterricht) und Autoingenieure und Zement-Lobbyisten begannen dafür zu werben, den Autos die Straße zu überlassen:

„Car culture was largely forced on an unwilling public by car dealers, manufacturers, automotive clubs, and others who banded together to promote automobile use.“

Der Mythos der Unverzichtbarkeit des Autors war geboren worden.

Im Jahre 1922 marschierten auf einer Kinderparade gegen die sich anbahnende Herrschaft des Autos auf den Straßen 10.000 Kinder, von denen jedes 10. Kinder als symbolisches Mitglied der „Memorial Division“ – sinnbildlich für die Zahl der im Autoverkehr getöteten Kinder – gekennzeichnet war. Im Zuge der Parade wurden die verwaisten Mütter als „Weiße Sternenmütter“ geehrt.

Die Autorin des Textes plädiert für eine zweite Revolution auf den Straßen der Städte – dieses Mal für das Leben und die Lebensqualität der Einwohner. Den Hebel dafür sieht sie in der Dekonstruktion des Mythos von der Unverzichtbarkeit des Autos. Die „Liebe“ ist vielmehr eine in den meisten Fällen so nicht gewollte Abhängigkeit, die sich nach 100 Lobbyismus der Autoindustrie in der Infrastruktur und im Mindest manifestiert hat. Die sozialen, ökonomischen und ökologischen Folgekosten dieser Abhängigkeit sollten wir in der Debatte stärker hervorheben, werden sie doch gern von den AutofahrerInnen verdrängt. So zeigte eine Studie mit 2.000 Probanden, dass der Anteil derer, die nicht bereit sind, den Zigarettenqualm anderer Menschen zu akzeptieren, 12 mal höher liegt als der Anteil der Menschen, die bereit sind, die Autoabgase anderer Autofahrender einzuatmen. Die Forschenden nennen diese Verzerrung der Wahrnehmung „Auto-Normativität“.

Durch die Antriebswende werden die grundsätzlichen Probleme der autozentrierten Lebensinfrastruktur nicht gelöst: Herz-Kreislauf-Krankheiten durch weniger körperliche Bewegung, 10.000de von Verkehrstoten (allein in den USA), hohe Betriebskosten, teure Auto-Infrastruktur, Ressourcenverschwendung.

Wir sollten Autofahrenden ein Stück weit so begegnen, wie man es aus der Sucht-Therapie kennt, so die ExpertenInnen, um auf diese Weise die Selbsterkenntnis zu fördern, dass man ein Problem haben könnte:

„What’s the first step in handling addiction? It’s admitting you’ve got a problem.“

Im nächsten Schritt sollten Betroffene ihren Unmut über die Abhängigkeit an die örtliche Politik richten, damit die Infrastruktur die Befreiung von Sucht unterstützt. Die Bundesstaaten Kalifornien und Oregon werden als positive Beispiele dafür genannt, wie die Verkehrswende infolge der Forderungen von immer mehr BürgerInnen politisch vorangebracht werden kann. Am Ende sollte die Botschaft stehen: Wir wollen mehr zwischen alternativen Mobilitätsformen wählen können.

Das Europäische Parlament will sich neu organisieren

piqer:
Jürgen Klute

Diese Empfehlung ist eher für EU-Nerds und -Nerdinnen gedacht. Aber für die dürfte der Artikel interessant sein. Konkret geht es um den Zuschnitt der parlamentarischen Ausschüsse. Ihr gegenwärtige Struktur wurde vor knapp 20 Jahren festgelegt. Da sich die politischen Rahmenbedingungen in dieser Zeit spürbar verändert haben, will das Europäische Parlament die Zuständigkeiten der Ausschüsse verändern, um Kompetenzstreitigkeiten, zu denen der aktuelle Zuschnitt immer wieder führt, zukünftig zu vermeiden. Gleichzeit soll die Zahl der Ausschüsse verringert werden.

Das Sekretariat des Europäischen Parlaments hat dazu nun einen Vorschlag gemacht, wie die Ausschüsse zukünftig zugeschnitten sein könnten. Eleonora Vasques hat sich diese Vorschläge für Euractiv angeschaut und stellt sie den Leserinnen und Lesern vor.