Es wird häufig gesagt, China wäre ein Land, dass uns „so fern und doch so nah“ sei. In den vergangenen Wochen war ich erstmals in China und hatte somit die Gelegenheit, die Ferne aus der Nähe zu betrachten – und tatsächlich hat dieser Spruch eine erhebliche Berechtigung. Keine Angst, ich werde Sie nicht mit subjektiven Anekdoten über Sehenswürdigkeiten (es gibt unendlich viele), das Wetter (toll!) und das Essen (sehr lecker!) langweilen. Das hier ist ein ökonomischer Reisebericht.
Insgesamt habe ich drei wissenschaftliche Konferenzen besucht (in Hongkong, Xiamen und Guangzhou). Dort habe ich mit vielen chinesischen Nachwuchswissenschaftlern geredet und zahlreiche spannende Vorträge gehört. Leider werden die Forschungsarbeiten dieser Wissenschaftler in Europa und den USA weiterhin nicht so stark zur Kenntnis genommen, wie es die Qualität ihrer Arbeit eigentlich rechtfertigen würde.
Zwar haben viele der chinesischen Autoren „im Westen“ promoviert, teilweise an sehr prominenten Fakultäten. Aber der Kontakt zu den wichtigen internationalen Netzwerken ist nicht mehr so einfach aufrecht zu halten, wenn man erstmal zurück an einer chinesischen Universität ist. Außerdem hapert es manchmal noch ein bisschen an der sprachlichen Qualität und dem Selbst-Marketing. Das sollte in der Wissenschaft eigentlich keine so große Rolle spielen – in der Welt des peer review tut es das aber sehr wohl, wovon ich als Herausgeber einer Zeitschrift ein Lied singen kann.
Während der Konferenzen wurden zahlreiche Forschungspapiere präsentiert, die eine vertiefte Diskussion verdient hätten. Aber zwei ökonomische Perlen sind mir besonders ins Auge gefallen: In der ersten Arbeit ging es um den Fall des so genannten „labour share“, also des Anteils von Löhnen und Gehältern am gesamten Bruttoinlandsprodukt. Das zweite Papier drehte sich um den Niedergang der Industrieregion Dongbei.
Momentmal! Rückgang der Lohnquote? Absterbende Industrieregionen? Was hat das denn mit China zu tun? Da denkt man doch eher ans Ruhrgebiet, Nordengland oder den Rust Belt im Mittleren Westen der USA, und damit unweigerlich an die Wahlerfolge von Donald Trump oder der Brexit-Bewegung. Aber die wichtigste wissenschaftliche Schlussfolgerung meiner Reise ist: diese Themen treiben nicht nur transatlantische Wirtschaftspolitiker und Ökonomen um – sie sind auch im Reich der Mitte präsent und die Diskussion weist überraschend viele Parallelen auf.
Die fallende Lohnquote
Gute Forschungspapiere beginnen oft mit unerwarteten Fakten. Und die hatte Jing Zhang von der Universität Xiamen wahrlich zu bieten. Basierend auf einem repräsentativen Datensatz chinesischer Firmen zeigte sie, dass der Lohnanteil in China zwischen 1996 und 2003 zunächst von 54% auf ungefähr 49% gefallen ist. Zwischen 2003 und 2005 passiert dann Dramatisches: der Lohnanteil bricht auf 42% ein.
Bei der anschließenden Diskussion wurde eingewendet, dass es sich dabei zumindest teilweise um ein durch Datenprobleme getriebenes statistisches Artefakt handeln könnte. Aber auch nach 2005 sank der Lohnanteil weiter, auf nunmehr knapp unter 40%. Die chinesische Lohnquote ist in den letzten 20 Jahren also immer in dieselbe Richtung marschiert: Abwärts! Hand aufs Herz, hätten Sie das gewusst?
Nun kennen wir diese Diagnose sehr wohl aus anderem Kontext. Gerade in der letzten Ausgabe der American Economic Review haben David Autor et al. ein ähnliches Bild für die USA gezeichnet. Ihre Erklärung ist eine immer stärker zunehmende Konzentration von Marktmacht in „Superstar-Firmen“. Diese Konzerne wie Google oder Amazon sind extrem produktiv, technologie- und wissensintensiv. Sie beschäftigen viele Menschen zu guten Konditionen. Aber vor allem können sie riesige Profitmargen durchsetzen und müssen nur geringe Umsatzanteile für Löhne ausgeben. Der kontinuierliche Ausbau ihrer Marktposition treibt dann den Rückgang des aggregierten Lohnanteils.
Zhangs Hypothese für China ist durchaus ähnlich. Sie stellt eine klare Korrelation fest: Dort wo die Firmen viele Innovationen umsetzen konnten, ist die Lohnquote tendenziell stärker gesunken. Eine mögliche Erklärung lautet also, dass auch chinesische Firmen immer produktiver werden und immer mehr Arbeiter durch Maschinen ersetzen. Sie produzieren andere und neue Produkte, für deren Herstellung nicht mehr so viele Arbeitskräfte notwendig sind – die Debatten über die Folgen von Automatisierung und Digitalisierung hat der Westen nicht exklusiv.
Eine eng verwandte Hypothese ist die Globalisierung. Die Zeiten, in denen Millionen fleißiger chinesischer Hände billige T-Shirts für den westlichen Markt nähen, gehen allmählich zu Ende. Die Karawane zieht weiter. Nach Vietnam oder Bangladesch, vielleicht demnächst nach Nordkorea. Die chinesische Wirtschaft spezialisiert sich stattdessen zunehmend auf höherwertige Güter. Das hinterlässt steigende Einkommensanteile für Kapital und Profite, also die sinkende Lohnquote.
Diese Interpretationen sind Wasser auf den Mühlen derer, die das baldige Ende der Arbeitsgesellschaft herannahen sehen. Schaut doch nur, werden jene sagen, selbst in China ist das im vollen Gange! Aber natürlich könnte alles auch ganz anders und viel komplizierter sein. Vielleicht sind höhere Innovationen und fallende Lohnquote bloß zeitlich und räumlich zusammengefallen, aber haben eigentlich gar nichts miteinander zu tun. Um sicher zu gehen, dass hier eine kausale Beziehung vorliegt, ist noch mehr Forschungsarbeit nötig.
In der Diskussion nach Zhangs Vortrag wurden diverse Optionen vorgeschlagen. So könnte man eine „Instrumentalvariablenstrategie“ ausprobieren: also eine Suche nach Faktoren, die für die Innovationstätigkeit von Firmen relevant sind, die aber nichts mit Löhnen zu tun haben. Das könnten zum Beispiel regional differenzierte Gesetzesänderungen oder Subventionen sein. Hierdurch ließe sich dann errechnen, wie viel des gemessenen Rückgangs der Lohnquote tatsächlich durch Innovationen verursacht wurde.
Wir dürfen gespannt sein, was die weitere Forschung von Zhang und anderen noch zu Tage fördern wird. Für mich ist allein die Tatsache bemerkenswert, dass die chinesische Lohnquote fällt – wenn auch bei weiterhin steigenden absoluten Durchschnittslöhnen – und dass ganz ähnliche Erklärungsmuster hierfür herangezogen werden wie in Europa und den USA.
Dongbei – das chinesische Ruhrgebiet ohne Ruhr
Womit wir beim zweiten Highlight sind, das mich fast noch mehr fasziniert hat. Darin untersucht Chunbing Xing aus Peking anhand von Mikrodaten des chinesischen Zensus die Region Dongbei. Wahrscheinlich geht es Ihnen wir mir: Ich musste erstmal googlen, wo das überhaupt liegt. Ich fand heraus, dass wir über den Nordosten Chinas sprechen, über eine auch als Mandschurei bekannte Region, die traditionell zu den reichsten des Landes zählte. In den 1980er Jahren spielte sich hier förmlich eine industrielle Revolution ab. Die blühende (Schwer-)Industrie zog Millionen von Menschen auf der Suche nach Arbeit an, die Städte wuchsen, die Löhne stiegen.
Aber seit der Jahrtausendwende ist irgendwie alles anders. Dongbei befindet sich im wirtschaftlichen Niedergang, mit allem was dazu gehört: Fabrikschließungen, Massenentlassungen, sinkende Löhne und eben auch riesige Abwanderungswellen. Ich wollte das erst gar nicht glauben und löcherte den Experten Xing mit Fragen. Aber was er erzählte, hörte sich fast exakt so an wie die Wirtschaftsgeschichte von Duisburg oder Gelsenkirchen im Zeitraffer – Dongbei ist das chinesische Ruhrgebiet ohne Ruhr. Die Zentralregierung unterstützt die Region auch mit diversen Fördermitteln und Subventionen, die der deutschen Strukturpolitik nicht unähnlich sind.
Aber in Xings Forschung geht es nicht um diese Strategien zur Wiederbelebung. Vielmehr geht es um eine detaillierte Analyse der Wanderungsmuster von gebürtigen „Dongbeianern“. Wer von ihnen verlässt die Heimat? Es sind vor allem die Jüngeren und die besser Ausgebildeten, die das tun. Ein solches Muster kennen wir auch aus vielen anderen Ländern, darunter Deutschland, und China ist da keine Ausnahme.
Aber damit nicht genug: Xing vergleicht nun „mover“, die dem Dongbei den Rücken kehren, mit vergleichbaren „stayern“, die von Alter und Bildungsabschluss her ähnlich aufgestellt sind, aber ihrer Heimatregion treu blieben. Er findet heraus, dass die späteren „mover“ bereits vor ihrem Umzug besser verdient haben als die immobilen „stayer“. Dies ist ein Indiz für eine sogenannte „positive Selbstselektion“ bei der Migrationsentscheidung: Wer sich zu einem Umzug durchringt, ist zumeist motiviert, offen und risikofreudig, und diese Eigenschaften zahlen sich schon vorher auf dem Arbeitsmarkt aus. Auch dieses Muster ist aus anderen Ländern durchaus nicht unbekannt. Aber dass man es in chinesischen Mikrodaten wiederfindet, finde ich schon bemerkenswert.
Und Xing ist noch einen Schritt weitergegangen. Er verglich Emigranten aus dem Dongbei am Zielort mit Emigranten aus anderen chinesischen Herkunftsregionen – und hat herausgefunden, dass sich die Dongbeianer – bei Konstanz anderer Einflussfaktoren – besser schlagen als die Vergleichsgruppe.
Eine solche Analyse habe ich noch für kein anderes Land gesehen. Ist das in Deutschland genauso? Verdienen gebürtige Ruhrpottler, die nach Berlin gezogen sind, dort besser als vergleichbare Schwaben? Ich weiß es nicht, aber ich würde es gerne wissen. Sollte dem so sein, dann stellt sich natürlich die Frage nach den Gründen. Eine umfassende Erklärung ist auch Xing für den Fall Dongbei letztlich schuldig geblieben. Hat der Geburtsort per se einen kausalen Effekt auf den späteren Arbeitsmarkterfolg? Oder sind die Migranten aus dem Dongbei aufgrund stärkerer Selektionseffekte de facto eine produktivere Gruppe als die Migranten aus anderen Herkunftsregionen?
Ich hoffe, dass Chunbing Xing uns die Antwort auf diese spannende Frage noch nachliefern wird. Und sollte ihm dies auch noch wissenschaftlich sauber gelingen, könnte er sogar eine Methodik schaffen, die für Wissenschaftler auf der ganzen Welt enorm spannend wäre. Zuzutrauen ist es Xing allemal.
Reisetipps für Wolfgang Schäuble
Das Leitmotiv – so fern und doch so nah – gilt auch abseits der Universitätshörsäle. Natürlich unterscheidet sich das „echte Leben“ in China auf den ersten Blick deutlich von unserem: Diverse Verhaltensweisen im öffentlichen Raum sind, naja, halt anders als bei uns. Und China ist viel homogener. Von kultureller Diversität im europäischen Sinne war jedenfalls keine Spur. Eine Alltagskonversation mit normalen Leuten auf der Straße? Schwierig. „Mit Englisch kommt man überall durch“ ist eine Lebensweisheit aus den alten Loriot-Filmen. Für China gilt sie nur sehr begrenzt.
Doch auf den zweiten Blick entdeckt man Gemeinsamkeiten, die bisweilen zu Superlativen typisch deutscher Klischees geraten. Betritt man einen der großen Bahnhöfe in Shenzhen oder Guangzhou, bestaunt man einen Grad an Effizienz und Organisation, der jedem preußischen Beamten feuchte Augen machen würde. Überhaupt haben es die Chinesen mit Infrastruktur. Züge sind mit über 300 km/h unterwegs, fahren auf die Sekunde pünktlich und sehen pikobello aus. Ich kann mich an keinen Moment erinnern, wo mein Handyempfang schlechter als „LTE“ war.
Kaum in Düsseldorf zurück habe ich stattdessen, in der abgeschmockten S-Bahn sitzend, bloß ein „E“ auf meinem Display und komme mit 20 Minuten Verspätung zu Hause an. Wolfgang Schäuble sollte seinen nächsten Urlaub einfach in China verbringen. Vielleicht bekommen wir dann endlich die vielfach geforderte Investitionsoffensive, die wir nicht zuletzt für den Abbau des deutschen Leistungsbilanzüberschusses so dringend brauchen. Aber bis dahin fließt sicher noch viel Wasser den Jangtse runter.
Zum Autor:
Jens Südekum ist Universitätsprofessor für internationale Volkswirtschaftslehre des Düsseldorfer Instituts für Wettbewerbsökonomie (DICE) an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Außerdem ist er Research Fellow beim Centre for Economic Policy Research (CEPR), dem CESifo Institut, dem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) und beim Forschungsinstitut zur Zukunft der Arbeit (IZA). Des Weiteren ist Südekum Vorsitzender des Ausschusses für Regionaltheorie und -politik beim Verein für Socialpolitik (VfS) und Herausgeber des Journal of Regional Science. Auf Twitter: @jsuedekum