In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.
So abhängig ist die europäische Atomindustrie von Russland
piqer:
Ralph Diermann
Erdgas, Öl, Kohle – all das fällt unter die Sanktionspakete, mit denen die EU Importe aus Russland unterbindet oder mit einem Preisdeckel versieht. Nicht jedoch: Uran. Obwohl sich Deutschland, Polen und einige weitere Länder dafür eingesetzt haben, auch atomare Brennstoffe mit einem Einfuhrverbot zu belegen. Fast 20 Prozent der europäischen Uran-Importe kommen aus Russland; weitere 23 Prozent aus Kasachstan, wo die Uranminen vom russischen Staatsbetrieb Rosatom kontrolliert werden.
Warum Uran und auch AKW-Technik von den Sanktionen ausgenommen ist, hat Investigate Europe – ein Zusammenschluss von Journalisten aus mehreren Ländern der EU, finanziert von Stiftungen sowie privaten Spendern – jetzt beleuchtet. Die Antwort ist ganz einfach: weil die Atomindustrie mehrerer EU-Staaten massiv von Russland abhängig ist. In Tschechien, Ungarn, der Slowakei, Bulgarien und Finnland stehen 18 AKWs, die von Russland konzipiert wurden und die auf russische Technologien und Dienstleistungen sowie auf von Rosatom gelieferte Brennelemente angewiesen sind.
Und auch zwischen der französischen und russischen Atomindustrie gibt es Verflechtungen – zum Beispiel sei der AKW-Betreiber EDF bei Brennstäben, der Behandlung von Atomabfällen und anderen Aufgaben auf Russland angewiesen, zitieren die Autoren die französische grüne Europaabgeordnete Michèle Rivasi.
Allerdings sei es gar nicht so einfach, die Bindungen zu Russland zu kappen. So müssten neue Bezugsquellen für Uran aufgetan, Ingenieure ausgebildet und Technologien angepasst werden. Die Umsetzung wäre extrem langwierig, schreiben die Autoren.
Ariadna Rodrigo von Greenpeace Europe kommentiert die Ausnahme von Uran bei den Sanktionen für Investigate Europe so:
„Den Atomhandel zu ignorieren, hinterlässt ein Loch in den EU-Sanktionen, das so groß ist, dass man einen Panzer hindurchfahren könnte.“
Das ist zwar knackig formuliert, stimmt so aber nicht. Denn der Wert des aus Russland und Kasachstan importierten Urans lag 2021 bei gerade einmal zusammen 455 Millionen Euro – nicht viel gemessen daran, dass Russland allein in den ersten 100 Kriegstagen insgesamt 57 Milliarden Euro mit Erdgas- und Öl-Einfuhren in die EU erlöst hat.
Wer ist Xi Jinping? Diese Podcast-Serie macht sich auf die Suche
piqer:
Florian Meyer-Hawranek
Einen Podcast über Xi Jinping produzieren und dabei selbst nicht in China recherchieren? Kann klappen. Und ist dabei noch nicht einmal so selten, meint Sue-Lin Wong.
Sue-Lin Wong ist China-Korrespondentin für den Economist ‒ allerdings ohne chinesisches Visum. Deshalb arbeitet sie von zu Hause aus ‒ in ihrem Fall von Australien. China beobachten, erleben, beschreiben und darüber berichten ‒ nur eben aus der Ferne. Ein Schicksal, das sie mit einigen anderen China-Korrespondent:innen teile, sagt Sue-Lin Wong. Denn wer als Journalistin in China zu viel fragt, wird selbst das Ziel unzähliger Fragen. Vor allem im Voraus des Parteitags der Kommunistischen Partei. Und vor allem, wenn man zu viele Fragen zu ihm stellt: zu Xi Jinpin.
Aber genau das macht der Economist in seiner achtteiligen Podcast-Serie über den mächtigsten Mann der Welt (ob und warum Xi Jinping wirklich der mächtigste ist, wird im Podcast übrigens auch diskutiert). Stimmungsvoll und vor allem verdammt kenntnisreich beschreibt Autorin Sue-Lin Wong den Aufstieg von Xi Jinping und erklärt damit die chinesische Politik der Gegenwart: Es geht um Wolf Warriors, kommunistische Überzeugung vs. korrupte Politik, um Unterdrückung und Zensur, die so weit geht, dass Lord Voldemort als Vergleich herhalten muss. Denn um jede mögliche unliebsame Stimme auf Social Media zu unterdrücken, können die Anstrengungen der Zensoren sogar so weit gehen, dass man nicht einmal mehr von ihm sprechen darf. Also in dem Fall wirklich nicht mal mehr „er“ oder von „ihm“ schreiben konnte.
Die Serie „The Prince: Searching for Xi Jinping“ ist ein empfehlenswerter Deep Dive ‒ gerade in dieser Woche, aber auch darüber hinaus. Wer zusätzlich noch Interesse an der deutschen Perspektive auf Xi Jinpings China hat, dem kann ich noch den Deutschlandfunk Hintergrund-Podcast empfehlen: Sichert sich Xi Jinping die Macht auf Lebenszeit? Mit 19 Minuten ist der auch deutlich kürzer als die 8 Folgen á 30 Minuten, die der Economist produzierte.
Grünes BIP: Aufstieg, Fall und Neuanfang
piqer:
Lutz Müller
Jürgen Klutes aufschlussreicher PIQ „Mit den Flüssen trocknet auch die Wirtschaft aus“ präsentiert das Einmaleins des Wirtschaftens im Einklang mit der Umwelt. Der empfohlene Artikel von Ulrike Fokken knüpft an Ereignisse dieses Sommers an und zieht konsequente Schlüsse, was zu tun ist. Das Wichtigste in aller Kürze:
- Die Ökologie muss den Primat vor der Ökonomie bekommen.
- Ökosysteme sind hochkomplex, wir wissen darüber viel zu wenig.
- Das vorhandene Wissen muss umgehend in praktisches Handeln umgesetzt werden.
Für die Organisation der Wirtschaft sowie Entscheidungen in der Umwelt- und Wirtschaftspolitik sind aussagekräftige Daten unumgänglich.
Bis heute bleibt das Bruttoinlandsprodukt (BIP, oder englisch GDP) der wichtigste Indikator zur Messung der Wirtschaftsleistung (nicht, wie manchmal fälschlicherweise dargestellt, der Wohlfahrt oder des – materiellen – Wohlstands, obwohl hier eine Korrelation besteht). Es spiegelt den Wert der im Inland produzierten Güter und Dienstleistungen wider.
Die Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen haben sich über Jahrzehnte als ein Kontensystem von Einkommen, ihrer Verwendung und Verteilung herausgebildet. Erfasst werden – vereinfacht ausgedrückt – Transaktionen zwischen den Akteuren Unternehmen, private Haushalte und Staat. Unsere Umwelt, der Planet Erde, bleibt dabei außen vor. Genauer gesagt, die Entnahmen von Naturressourcen gehen mit ihrem monetären Wert in die Produktion ein. Ein separater Ausweis dieser Ströme in den Konten der traditionellen VGR fand hingegen nicht statt.
Dieser Mangel wurde schon Anfang der 1990er Jahre erkannt und das Konzept eines grünen BIP entwickelt. Nunmehr wurden die verbrauchten Ressourcen bewertet. Dem Ansatz folgend, dass für ihren Ersatz und die Behebung von Umweltschäden entsprechende Aufwendungen erforderlich sind, konnten sie vom BIP subtrahiert werden. Das in mehreren Ländern vorgenommene Experiment mit diesen neuen Rechnungen scheiterte an der Politik, der die statistischen Ergebnisse offensichtlich zu niedrig erschienen.
Abgesehen davon ist es nicht möglich, komplexe Zusammenhänge mit einem komplexen Indikator darzustellen. Dies gilt auch für andere Bewertungssysteme wie Rankings oder Indikatoren, die bspw. von der OECD oder der Europäischen Kommission (TPI) entwickelt wurden.
Der aktuelle Stand der Umweltökonomischen Gesamtrechnungen fand nach meinen Recherchen in der deutschen Wirtschaftspresse kaum eine Reflexion. Ich empfehle daher einen kompakten und allgemeinverständlichen Abriss führender UN-Statistiker über die Entwicklungen des „System of Environmental-Economic Accounting“ (SEEA) als VGR-Satellitensystem. Der Beitrag wurde von Stefan Schweinfest, Alessandra Alfieri, Jessica Ying Chan und Bram Edens verfasst und erschien vor einem Jahr auf der Schweizer Plattform Die Volkswirtschaft. Unter den Quellenangaben ist auch ein Verweis auf die berühmten Ökonomen Joseph Stiglitz, Amartya Sen und Jean-Paul Fitoussi; zwei von ihnen, Stiglitz und Sen, sind Wirtschaftsnobelpreisträger. Der Beitrag gibt folgenden Ausblick:
„Der Klimawandel schreitet fort, und die Biodiversität nimmt ab. Die politischen Entscheidungsträger brauchen deshalb dringend eine Methode für eine evidenzbasierte Politik in Sachen Klima und Biodiversität, die das Wirtschaftswachstum nicht gefährdet.“
Also doch ein „Weiter so“?
Einen ersten Überblick über die Komplexität der für Deutschland vorhandenen Daten gibt eine Webseite des Statistischen Bundesamtes. Sie können die Basis für tiefgehende umweltökonomische Forschung und die Entwicklung neuer strategischer Konzepte bilden. Die nächste Frage ist: Wird die Politik die Wissenschaft erhören? Hat sie den Mut und die Kraft, die richtigen regulatorischen Rahmenbedingungen in ihrer Komplexität und in allen Details zu setzen?
Aus Erfahrungen der Vergangenheit habe ich da so meine Zweifel.
DIW-Energieexpertin Prof. Claudia Kemfert erklärte bereits vor Jahren, die Pipeline NordStream2 sei energiewirtschaftlich unnötig und unrentabel, die bestehenden Kapazitäten ausreichend. CDU und SPD ignorierten diese Erkenntnis. Am 9. Februar 2022 brachte es Frau Kemfert auf den Punkt: Deutschland hat sich durch diesen „Elefanten im Raum“ erpressbar gemacht und geopolitisch ins Abseits manövriert…
Ron DeSantis – Trumps Erbe, Trumps Konkurrent
piqer:
Jannis Brühl
Wird Trump antreten? Und wenn er es versucht, wird ihn ein Republikaner herausfordern? Wenn jemand Trump den Rang ablaufen kann, so die herrschende Meinung in den USA, dann kann das eigentlich nur Floridas Gouverneur Ron DeSantis. Dieses lange Porträt aus Vanity Fair beschreibt das komplexe Verhältnis der beiden Männer, und DeSantis als einen von politischem Erfolg besessenen Mann, der Trump einiges voraus hat – und trotzdem ein Kandidat wäre, bei dem einiges schiefgehen könnte (DeSantis könnte auch als Vize-Kandidat mit Trump gemeinsam antreten, er scheint den Ex-Präsidenten aber nicht zu mögen). Zudem ist der Text ein interessanter Einblick in die Politik Floridas, einem ehemaligen Swing State, der mittlerweile – auch dank DeSantis – dem Maga-Wahnsinn erlegen ist. Der Gouverneur lässt auch elitärere Konservative hoffen, die von Trump bisweilen abgeschreckt waren.
DeSantis’s political power flows from the fact that he is equally popular with the donor class and a GOP base that has otherwise shown utmost fealty to Trump. Billionaires like Citadel founder Ken Griffin and real estate mogul and Miami Dolphins owner Stephen Ross love DeSantis’s elite credentials—Yale, Harvard, the Navy—and his deregulatory zeal. He’s Trump “without the insanity and the tweets at three in the morning,” one top GOP donor told me.
Jenseits seiner libertären Töne und im Gegensatz zu Trump bemüht er sich nicht einmal mehr um den Anschein, er habe Ahnung von Wirtschaft. DeSantis setzt voll auf Kulturkrieg, schürt Ängste vor Homosexuellen und „Critical Race Theory“. Seine Strategie ist in der Hinsicht kompromisslos. Aber reicht das? Unklar bleibt, ob sie in moderateren Teilen des Landes funktioniert.
Der Autor Gabriel Sherman arbeitet gekonnt DeSantis‘ Schwächen heraus: Er mag einigen Republikaner wie ein weniger vulgärer, weniger quasi-mafiöser Trump erscheinen. Doch er wirkt paranoid und unfähig, Kritik zu ertragen – und vor allem äußerst unsympathisch. Das Trump-Charisma geht ihm ab, er und seine Frau Casey schaffen es kaum, Mitstreiter um den Finger zu wickeln. Sie verprellen oder feuern sie, bevor sie Allianzen schmieden. Diese mangelnden sozialen Fähigkeiten könnten am Ende für Trump sprechen.
Die Regierung Biden fördert klimaintelligente Landwirtschaft
piqer:
Ole Wintermann
22 Mrd. US-Dollar werden von der Regierung Biden eingesetzt, um Techniken einer klimaintelligenten oder auch regenerativen Landwirtschaft zu erproben und den Systemwandel durch eine Abkehr von der klimaschädlichen und konventionellen Landwirtschaft zu schaffen. Die Frage ist, ob dies ausreichen wird, die immensen Treibhausgas-Emissionen der Landwirtschaft substanziell zu reduzieren. Forschende sind skeptisch.
Alternative Methoden der Bodenbewirtschaftung, der Fruchtfolgen, der Viehhaltung, der Düngung und der Bewässerung haben in den letzten Jahren in den USA bereits zu messbaren Rückgängen der Wasser- und Winderosion sowie zur Einsparung von 1,2 Millionen Tonnen CO2 führen können. Allein: Es reicht natürlich noch lange nicht, um eine sichtbare Delle in den landwirtschaftlich bedingten Schäden an der Atmosphäre und den natürlichen Ressourcen zu erzeugen.
Eine Frage bleibt damit am Ende: Wie kommen wir zu einem Systemwechsel?
“We tend to believe that farmers are good stewards of that land. That belief will be shattered if and when agriculture is 30 percent of U.S. emissions.”
Energiecharta-Vertrag (ECT) als Bremse der Energiewende
piqer:
Jürgen Klute
Vermutlich kennen nur wenige Experten den sogenannten Energiecharta-Vertrag (ECT), seine Entstehungsgeschichte und seine bremsende Wirkung im Blick auf die Energiewende. Mir jedenfalls war er nicht bekannt.
Ganz kurz: Der Energiecharta-Vertrag trat 1998 in Kraft, wurde von 53 Ländern unterzeichnet und sollte nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion Investitionen in den Energiesektor im Bereich der ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten schützen. Damit sollte ein Beitrag zur Entwicklung und Stabilisierung einer Marktwirtschaft nach westlichem Modell in jenen Ländern geleistet werden. Was damals sinnvoll erschien, hat sich im Kontext der Energiewende als Hemmnis erwiesen:
„Investoren im Energiesektor genießen im Rahmen des Abkommens einen besonderen Schutz. Im Laufe der Jahre haben einige Unternehmen den ECT genutzt, um Entscheidungen der EU-Länder zum Ausstieg aus fossilen Brennstoffen anzufechten.“
Dementsprechend steht der Vertrag heute heftig in der Kritik. Javier Albisu zeichnete für Euractiv die Debatte um den ECT nach. Die Frage ist, ob es zu einer Reform des Vertrages kommt oder zu seiner Auflösung, um dieses Hindernis, das ja nicht das einzige auf dem Weg zu einer wirksamen Klimaschutzpolitik ist, endlich aus dem Weg zu räumen.