Wird Deutschland immer ungleicher?
Die Bewertung der Entwicklung der Ungleichheit durch verschiedene Akteure in Deutschland ist durchaus kontrovers. In diesem Debattenstrang wird diskutiert, inwiefern die üblicherweise betrachteten Faktoren für eine Zunahme der Ungleichheit in Deutschland sprechen. Dabei ist es allerdings enorm wichtig, zwischen verschiedenen Formen und Dimensionen von Ungleichheit zu unterscheiden.
Einkommen oder Vermögen?
Eine Unterscheidung ist besonders wichtig: die zwischen „Strömen“ und „Beständen“.
- Einkommen sind eine Stromgröße, also ein Strom von Geld über einen bestimmten Zeitraum. Wichtig ist zudem, ob man über Bruttoeinkommen bzw. Markteinkommen, also Einkommen vor Steuern spricht, oder über Nettoeinkommen bzw. verfügbare Einkommen, also Einkommen nach Steuern.
- Vermögen dagegen sind eine Bestandsgröße, also ein „Haufen Reichtum“ zu einem bestimmten Zeitpunkt.
Darüber erklärt sich auch der Zusammenhang zwischen beiden Größen: Über die Zeit kann sich aus einem Strom von Einkommen ein Vermögen aufbauen lassen – sofern die Einkommen nicht vollständig für Konsum ausgegeben werden, oder gar mehr konsumiert wird, als an Einkommen bezogen wird (so entsteht Verschuldung).
Eine Größe, die gewissermaßen zwischen beiden Konzepten – Einkommen und Vermögen – steht, sind die sogenannten Lebenseinkommen, also die Summe aller Einkommen, die im Lebensverlauf erzielt werden. Dabei ist zu berücksichtigen, dass natürlich nicht alle Vermögen aus einem langfristigen Strom zustande kommen, sondern – etwa bei Erbschaften oder Schenkungen – auf einen Schlag den Eigentümer wechseln können. In der Auflistung der Indikatoren wurden die Lebenseinkommen den Vermögensindikatoren zugeordnet, sie hätten aber auch bei den Einkommen mitlaufen können.
Zudem muss man sich der wichtigen Unterscheidung zwischen Geldvermögen (z. B. Bargeld, Wertpapiere oder Forderungen) und Sachvermögen (z. B. Immobilien) bewusst sein. Auch sind bei der Betrachtung von Vermögen die Nettovermögen die interessantere Größe – schließlich zählt aus Sicht einer einzelnen Person oder eines Haushalts, ob unterm Strich die Summe aller Vermögenstitel positiv oder negativ ist.
Ungleichheitsbezüge: Personen vs. Haushalte
Als nächstes ist es wichtig zu klären, zwischen wem die verteilte Größe eigentlich verteilt sein soll: die Bezugsgröße. Die Verteilung von Einkommen und Vermögen kann insbesondere auf einer Haushaltsebene oder auf einer personellen Ebene betrachtet werden.
- Interessiert uns beispielsweise die Veränderung der Lohnungleichheit, ist eine Personenbetrachtung sinnvoll, am besten nur unter vergleichbaren Gruppen (z.B. nur Vollzeitbeschäftigte und nur deren Arbeitseinkommen).
- Interessiert uns dagegen die sozioökonomische Lage verschiedener Haushalte, sollten eher die gesamten Einkünfte von Haushalten verglichen werden.
Wichtig dabei: geht etwa die Schere bei den Löhnen auseinander, muss das nicht heißen, dass die Haushaltseinkommen auseinanderdriften: So kann beispielsweise eine Ausweitung des Arbeitsangebots des gesamten Haushalts einen Rückgang der Löhne kompensieren.
Um Haushaltseinkommen miteinander vergleichbar zu machen werden diese zudem häufig zu sogenannten Äquivalenzeinkommen umgerechnet. Anhand von „Bedarfsgewichten“ werden die Einkommen verschiedener Haushaltsstrukturen vergleichbar gemacht. Bei der Umrechung auf die abstrakte Vergleichseinheit wird ein Singlehaushalt durch ein geringeres Bedarfsgewicht geteilt als ein Haushalt mit mehreren Erwachsenen und/oder Kindern.
Funktionale Einkommensverteilung
Häufig wird von der personellen oder der Haushaltsverteilung der Einkommen noch die funktionale Einkommensverteilung unterschieden. Diese bezeichnet die Verteilung nicht zwischen Personen oder Haushalten, sondern zwischen zwei Typen ökonomischer „Produktionsfaktoren“: Kapital und Arbeit. Die Lohnquote bezeichnet den Anteil an den Gesamteinkommen, der in einer Volkswirtschaft an abhängig Beschäftigte geht, während ihr Gegenstück, die Gewinnquote, den Anteil bezeichnet, der an Kapitalbesitzer geht.
Die funktionale Verteilung hängt mit der personellen Verteilung zusammen: Weil Kapitalbesitz typischerweise auf die Bezieher hoher Einkommen konzentriert ist, führt ein Anstieg der Gewinnquote (und eine entsprechend gesunkene Lohnquote) normalerweise dazu, dass auch die Verteilung zwischen Personen und Haushalten ungleicher wird. Der französische Ökonom Thomas Piketty hat den Zusammenhang beider Verteilungskonzepte systematisch betrachtet.
Weitere Dimensionen von Ungleichheit
Bei den genannten Indikatoren zur ökonomischen Ungleichheit standen nur die Ungleichheit von Einkommen und Vermögen im Fokus – andere Dimensionen sozialer Ungleichheit wie Bildung, Status oder Macht oder auch Geschlechterungleichheiten werden also weitestgehend außen vorgelassen. Eine vertiefte Diskussion erfordert es allerdings, auch diese Dimensionen in Zusammenhang zu „ökonomischer“ Ungleichheit im engeren Sinne zu setzen.
Auf den (konjunkturellen) Zeitraum kommt es an
Wie bei jeder anderen Zeitreihe auch kommt dem Basisjahr bei der Interpretation von Ungleichheitsentwicklungen eine gewichtige Rolle zu. So könnte man beispielsweise argumentieren, dass die Ungleichheit der Nettoeinkommen sich am aktuellen Rand nicht weiter erhöht hat, diese aber im Vergleich zu den Wendejahren erheblich gestiegen ist. Berücksichtigen sollte man zudem, wie sich die Konjunktur im Beobachtungszeitraum entwickelt hat.
Quellen
- Manuel Gath & Joschua Helmer: Die internationale und nationale Debatte über Ungleichheit