Fremde Federn

Arbeiterparadies, AI Act, Klimaanpassung

Diese Woche unter anderem in den Fremden Federn: Weshalb Arbeiter gerade ein „Goldenes Zeitalter“ erleben, warum der Green New Deal Opium fürs Volk ist und wie KI zu einem entscheidenden Stellhebel für mehr Klimaschutz werden kann.

Foto: Jojo Bombardo via Flickr (CC BY-ND 2.0)

In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.

Die Welt, ein einziges Arbeiterparadies

piqer:
Jannis Brühl

Ein guter Beitrag aus dem Economist, der etwas schafft, was mir immer wichtiger wird: Zu einem hochrelevanten Thema den großen Bogen über die Tagesaktualität hinaus zu spannen. Es geht um die Situation der Arbeiter beziehungsweise Angestellten. Die Diagnose: Arbeiter gelten weiterhin als die geprügelte Schicht, in der niemand sein möchte. Aber mehrere Faktoren machen unsere Zeit zum „goldenen Zeitalter für Arbeiter“.

Alles läuft demnach auf höhere Löhne zu:

  • Die Alterung der Gesellschaften macht Arbeit rarer und damit besser bezahlt. Deutschland wird als Beispiel mit besonders wenig Arbeitslosen genannt.
  • Damit einhergehend: Die Offshoring-Drohung wird weniger wirksam, denn auch China altert rapide. Das senkt den Spielraum für Unternehmen, Arbeiter im Westen schlecht zu behandeln.
  • Regierungen von den USA bis Deutschland pumpen viel Geld in ihre Wirtschaften, zum Beispiel in die Energiewende (Schuldenbremsen hin oder her).
  • Künstliche Intelligenz macht auch niedrigqualifizerte Menschen produktiver. Produkte werden billiger, Wohlstand steigt.
  • Immigration in die reichen Länder findet nicht in dem Ausmaß statt, in dem sie nötig wäre, um die Lücken zu füllen.

Ich bin skeptisch, wie das alles in Zeiten hoher Inflation gelingen soll. Oft vergessen wird zudem: Die Konsumansprüche sind in allen Schichten gestiegen. Das macht vergleichsweise gute Bezahlung im unteren Teil der Gesellschaft weniger befriedigend.

Manche mögen den Economist verdächtigen, neoliberale Propaganda zu verdächtigen, nach dem Motto: „Die Arbeiter sollen sich nicht beschweren, denen geht’s doch gut!“

Das alles liest sich auch stellenweise etwas blauäugig, zum Beispiel bei der Annahme, die Arbeitsmärkte würden sich schon toll an die KI-Revolution anpassen. Als könne es nun keine Verwerfungen mehr geben. Doch in seiner Zusammenfassung der Makrotrends überzeugt mich der Artikel. Ein gutes Gegengift gegen Panik bei den Themen Wirtschaft, Arbeit und Migration.

Der Green New Deal ist Opium für das Volk

piqer:
Ole Wintermann

Diese These vertritt der Degrowth-Vordenker Kohei Saito nicht zuletzt in seinem Buch und in seinem aktuellen Debattenbeitrag für die progressive „The Nation“-Plattform.

Das Konzept des Green New Deal, das sowohl in der Politik der EU als auch der der USA umgesetzt wird, dient aus seiner Sicht nur der Beruhigung des Gewissens und der Gesellschaft im globalen Norden. Einen tatsächlichen Klimaschutz kann es aber mit der ökonomischen Flucht nach vorn nicht geben. Er nennt hierfür zwei simple Gründe. Wirtschaftswachstum, was ja auch durch den Green New Deals ausgelöst wird, zieht auch neues, vorher nicht existierendes Wachstum nach sich. Und zudem werden die Produktivitätsgewinne nicht dazu genutzt, um mehr Freizeit oder Einkommen für Beschäftigte zu generieren, sondern um neue Geschäftsfelder für die – relativ gesehen – freigewordenen Ressourcen zu generieren. Der moderne Kapitalismus befindet sich seiner Meinung nach daher in der Wachstumsfalle. Der Kapitalismus ist nicht fähig, eine Antwort auf die Notwendigkeit einer Umverteilung des weltweiten Konsums in den Süden zu geben, geschweige denn, mit einem reduziertem Konsum umzugehen.

Reduzierter und umverteilter Konsum ist seiner Meinung nach aber unabdingbar, um die mit dem Konsumwachstum einhergehenden Treibhausemissionen absolut – und nicht nur relativ – vom Wachstum zu entkoppeln. Es steht faktisch einfach keine Technologie bereit (und wird dies auch absehbar nicht), die eine relevante Menge an CO2 aus der Atmosphäre zu realistischen Preisen entfernen kann. Daher bleibt, so Saito, ganz einfach nur der Verzicht auf weitere materiellen Anhäufung im globalen Norden.

Ich bin mir ziemlich sicher, dass Gesellschaft, Wirtschaft und Politik im globalen Norden für diese Option des Klimaschutzes nicht bereit sind. Lässt dieser Fakt die These von Saito aber deshalb ungültig werden? Wohl kaum. Die Natur lässt nicht mit sich verhandeln.

Stephen Fry: Griechische Mythologie, Singularität und der EU AI Act

piqer:
René Walter

Gestern hat die EU sich nach einer Marathon-Sitzung auf Grundzüge des „AI Act“ geeinigt und das Regelwerk für Künstliche Intelligenz beschlossen. Der AI Act schreibt, zusammengefasst, Transparenz der Trainingsdaten und Schutz von Urheberrechten vor, sowie strenge Auflagen für den risikoreiche Anwendingen von AI in kritischer Infrastruktur, Sicherheitsbehörden und beim Einsatz von Biometrie-Daten. Es ist nicht das weltweit erste AI-Gesetz, wie Ursula von der Leyen auf TwiX behauptet (China hat seine AI-Regeln im August erlassen) – aber sicherlich das umfassendste. Details zum AI Act findet man auf der Website des European Council.

In dem von mir gepiqten Video geht es nicht um den AI Act. In seinem nur halbstündigen Vortrag beim CogX-Festival in London ging Stephen Fry vor wenigen Wochen ein paar Schritte zurück und nimmt das große Bild ins Visier: Wie kann die kommende Flut an technologischem Fortschritt, denn dieser wird nicht bei aktuellen Entwicklungen wie den Big Data-basierten und algorithmisch erzeugten statistischen Modellen mit ihren erstaunlichen Fähigkeiten und Fehlleistungen – also aktuellen AI-Systeme –stehenbleiben, sondern mit zunehmender technologischer Leistungsfähigkeit in Computing zu einer weiteren Innovationsbeschleunigung führen: Heute denken wir über eine epistemische Krise der Welterkenntnis in Zeiten von Deepfakes, Überwachung und Biowaffen durch AI nach, während am Horizont heute bereits Brain-Computer-Interfaces und Quantencomputer auftauchen. Gleichzeitig steht mit dem Klimawandel die wohl herausragendste aller Krisen bevor, die bereits seit einigen Jahren erste Auswirkungen zeigt und die stetig steigenden Emissionen neue Rekorde aufstellt. Wie können wir, kurz gesagt, sicherstellen, dass die kommende Real Life Version von dem, was allgemein als „Singularity“ bezeichnet wird, zum Wohl der Menschheit ausfällt?

Eine abschließende Antwort bietet Fry nicht, sondern er erzählt die bekannte Sage von Prometheus aus der griechischen Mythologie, in der der griechische Gott das segensreiche Feuer von Zeus stahl und den Menschen schenkte, nur um dafür an einen Felsen gekettet zu werden, wo Geier für alle Ewigkeit von seiner Leber fraßen. Und Zeus schickte zur Strafe die Büchse der Pandora auf die Erde, die alles Schlechte unter die Menschen brachte, bis nur noch die Hoffnung zurückblieb.

Fry stellt uns vor die Wahl, ob wir der feuerschenkende Gott Prometheus sein wollen, der den Menschen den Funken künstlicher Intelligenz schenkt, oder der Göttervater Zeus, mit strengen Regulationen angesichts der kommenden, vor allem AI-basierten Technologiesprünge, die sich abzeichnen: Deep Learning Algorithmen haben jüngst 2,2 Millionen neuer Kristallstrukturen ausgerechnet, „800 years’ worth of knowledge“, die für neuartige Technologien und Innovationen etwa in der Herstellung von Solaranlagen eingesetzt werden können. Eine weitere Studie bestätigt die Fähigkeit von Large Language Models in der Entdeckung neuer Moleküle für die Pharmaforschung, mit dem Versprechen neuer und (möglicherweise) billigerer Medikamente, und eine Studie vom Juli über die Beschleunigung wissenschaftlicher Forschung mit AI fand heraus, dass Systeme Künstlicher Intelligenz, die explizit auf menschliche Interferenzen im Forschungsprozess trainiert werden – also all die Einsteins, die völlig neuartige Theorien aufstellen – und so den Konsens des akademischen Betriebs vermeiden, die Vorhersage dieser KI-Systeme zukünftiger Entdeckungen um 400 % steigert. Diese Dinge sind heute möglich.

Ich selbst bin Anhänger einer Entschleunigung der Entwicklung (vor allem aus psychologischen Gründen) und einer starken KI-Regulierung, wie sie sich im EU-Act abzeichnet. In meinem Newsletter Against open sourcing Automatized Knowledge Interpolators habe ich vor einigen Wochen gegen Open Source AI argumentiert: KI-Systeme sind in der Lage, die oben aufgezählten wissenschaftlichen Sprünge zu verursachen, weil sie ihre Trainingsdaten umfassend und in nie gekannter Geschwindigkeit interpolieren können. Man trainiert eine AI auf bekannte Kristallstrukturen und erhält in wenigen Stunden ein paar Millionen neue Kristalle. Man ändert den Algorithmus und erhält 40.000 neue Chemiewaffen. Diese grundlegend neue, nicht-menschliche Macht der Interpolation bekannten Wissens ist gleichzusetzen mit epistemologischer Kernfusion. Eine strenge Regulation dieser epistemologischen Macht erscheint mir zwingend notwendig und die althergebrachten, techno-traditionellen Ansätze freier Open Source-Entwicklung erscheint mir hier durchaus gefährlich.

Ich denke auch nicht, dass wir nur die Wahl haben zwischen Prometheus und Zeus. Prometheus AI-Funke, über den Stephen Fry in seinem Vortrag spricht, ist tatsächlich und zuvorderst Big Data, denn alle AI-Modelle basieren auf exzessiven Datenbanken voller Trainingsdaten. Und genau die wurden nun von einer EU reguliert, die auf Daten-Transparenz und Qualität besteht. In Stephen Frys Worten insistiert die EU also darauf, dass Prometheus Feuer-Geschenk ein tatsächlich ordentliches Feuer darstellt, und nicht einen umherflackernden, unkontrollierbaren Brandherd.

Der AI Act der EU ist ein Update der griechischen Sage von Prometheus: In der aktualisierten Version gibt Zeus seine Flamme selbst an Prometheus und besteht auf kontrolliertem Funkenschlag, sodass es nicht die Dörfer der Menschen abfackelt, und auf transparenter Beschaffung des Brennmaterials, die nicht hemmungslos das Feuerholz der Menschen ausbeutet. Ich kann mit dieser neuen, frei adaptierten Fry’schen AI-Mythologie der EU vorerst gut leben.

Künstliche Intelligenz im Dienste der Nachhaltigkeit

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Ole Wintermann

Nach wie vor wird Künstliche Intelligenz (KI) eher thematisiert, wenn es wie in den letzten Tagen auch um die Regulierung von KI geht, um Gefahren für die Menschheit oder massenhafte Überwachung im öffentlichen Raum in Demokratien auszuschließen. Dass aber KI einer der entscheidenden Stellhebel für mehr Klimaschutz ist, wird fataler Weise zu oft übersehen. Dieser Beitrag bei CNN bietet einen umfassenden Einblick in die gegenwärtige Nutzung von KI für mehr Nachhaltigkeit und Klimaschutz.

So kann KI eingesetzt werden, um in Regionen, die von Dürre und Überschwemmungen geplagt sind, 20 Jahre im voraus zu berechnen, wie sich die Ernten bei bestimmten Pflanzen verändern werden und ob es sich noch lohnt, die analysierte Pflanze in der Region zu kultivieren.

Das Anpflanzen von CO2-speicherndem Seegras kann mit Hilfe von KI optimiert werden, die die zahlreichen Wechselwirkungen der Meeresströmungen, der Auswirkungen von Tourismus an der Küsten, der Verteilung von Toxinen mit den Standortbedingungen des Seegrases berücksichtigen kann.

KI ermöglichst erstmals die saisonale Betrachtung der Veränderung des Permafrostes infolge der Klimaveränderung. Sie kann zudem seit neuestem präzisere Wetterprognosen erstellen als die etablierten Wettermodelle und damit die Wechselwirkung des Wetters mit dem Smart Grid und der Bereitstellung von erneuerbaren Energien vorausberechnen; dies ist eine der wichtigsten Voraussetzungen der effizienten Nutzung von PV- und Windenergien. In naher Zukunft werden erste KI-Anwendungen Marktreife erlangen, die als Nachhaltigkeits-Coach den Konsumentinnen Hinweise geben, wie der eigene Alltag nachhaltiger gestaltet werden kann.

Wenngleich es gegenteilige Effekte dadurch geben kann, dass die KI den Strombedarf wird steigen lassen, überwiegen doch per Saldo eindeutig die positiven Wirkungen der Technik, da in den unterschiedlichsten Kontexten die Relation von Ressourceninput und Outcome verbessert werden wird. Der entscheidende Vorteil gegenüber menschlichen Entscheidungen besteht in der Prognosefähigkeit der KI, die kein Mensch durch subjektive Einzelfallbetrachtungen und zeitintensive Versuch-und-Irrtum-Testreihen übertreffen kann.

Lasst uns das positive Potenzial dieser Technik intensiv nutzen.

Wie sich Deutschland an den Klimawandel anpassen kann

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IE9 Magazin

Deutschland ist schon jetzt stärker vom Klimawandel und seinen Folgen betroffen als andere Länder und Regionen. Die Temperatur liegt im Jahresdurchschnitt 1,7 Grad über der vorindustriellen Zeit. Außerdem häufen sich Hitzewellen und Dürren, Starkregen und Überflutungen. Nicht ausgelöst, aber begünstigt durch das veränderte Klima ist auch das Risiko schwerer Waldbrände gestiegen.

Doch während auf internationaler Ebene Klimaschutz (mitigation) und Klimaanpassung (adaptation) schon lange gemeinsam gedacht werden, hat Deutschland hier Nachholbedarf. Erst diesen November verabschiedete der Bundestag das „Klimaanpassungsgesetz“. Doch immerhin: An Ideen, wie sich das Land für die Folgen des Klimawandels rüsten kann, mangelt es nicht. Sie reichen von mehr Natur bis Zukunftstechnologien.

Der Artikel stellt verschiedenste Ansätze vor, fokussiert sich dabei auf die Bereiche Starkregen und Hochwasser, Dürren und Waldbrände sowie städtische Hitzeinseln. Diskutiert werden also Maßnahmen wie die Renaturierung von Auen, die Installation KI-gestützter Frühwarnsysteme für Extremwetter oder sogar Pläne aus Japan, Starkregen technisch ganz zu unterbinden. High-Tech-Landwirtschaft und gentechnisch geschaffene Pflanzen werden genauso vorgestellt wie regenerative Farmen oder Schwammstädte.

Rankings und „Studien“: Viele Klicks, wenig Substanz

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Simon Hurtz

Die lebenswertesten Städte, elitärsten Universitäten, glücklichsten Länder und besten Bahnhöfe – Menschen lieben Rankings und Superlative, Medien lieben es, in Superlativen über Rankings zu berichten. So weit, so unproblematisch. Ärgerlich wird es, wenn Medien vor lauter Ranglistenliebe vergessen zu hinterfragen, worüber sie da eigentlich schreiben.

Einen besonders offensichtlichen Fall von blinder Begeisterung für absurde Rankings beschreibt Sebastian Wilken für Übermedien. Der „European Railway Station Index 2023“ bewertet große Bahnhöfe in Europa und sortiert sie nach ihrer Passagierfreundlichkeit. Die Schlagzeilen lauteten:

  • „Der schlechteste Bahnhof Europas ist …“ (Bild)
  • „Das ist der schlechteste Bahnhof Europas“ (Spiegel)
  • „Deutschland belegt (mal wieder) den ersten Platz: Das sind die schlechtesten Bahnhöfe Europas“ (Stern)
  • „Die letzten sechs Plätze gehen alle an deutsche Bahnhöfe“ (Welt)

Das garantiert Klicks, hat aber einen Haken:

Medien, die über die Rangliste und die schlimmen deutschen Bahnhöfe berichten, sind einer fragwürdigen Studie auf den Leim gegangen, die von einer umstrittenen US-amerikanischen Lobby-Organisation stammt.

Warum die Studie Murks ist, beschreibt Wilke in den folgenden Absätzen. Allein ein Blick auf den Absender hätte gereicht. Lobbycontrol schreibt über das „Consumer Choice Center“:

Die Organisation selbst gibt an, ‚Verbraucher in über 100 Ländern auf der ganzen Welt‘ zu vertreten, lobbyiert aber in erster Linie gegen jegliche Art von staatlicher Regulierung. Insbesondere staatliche Maßnahmen im Bereich des Klima-, Umwelt- und Gesundheitsschutzes versucht das CCC durch Lobbyarbeit auf EU-Ebene und öffentliche Kampagnen zu untergraben.

Ich piqe diesen Text nicht nur wegen des plastischen Beispiels, sondern auch, weil es eben kein Einzelfall ist. Ich stoße ständig auf angebliche „Studien“ oder Datenerhebungen, die bei genauerem Hinsehen vieles sind, aber ganz sicher nicht aussagekräftig oder repräsentativ.

Leider hält das manche Medien nicht davon ab, darüber zu berichten. Am Ende bleibt mir als Leser nichts übrig, als das (oft nicht verlinkte) Original zu suchen, Datengrundlage und Methodik anzusehen – und mich dann zu ärgern, mit so einem Quatsch meine Zeit vergeudet zu haben.