Fremde Federn

Antirassistische Populisten, Protektionismus revisited, D-Day in Venezuela

Diese Woche gibt es in den Fremden Federn unter anderem eine Analyse zu den unterschiedlichen Entwicklungsstrategien Chinas und Russlands, einen Bitcoin-Fortbildungskurs und Einblicke in das trotz aller Skandale weiterhin brummende Geschäft mit den Arbeitslosen.

Foto: Jojo Bombardo via Flickr (CC BY-ND 2.0)

In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.

Protektionismus, revisited

piqer:
Eric Bonse

Seit US-Präsident Trump an der Macht ist, geht im Westen die Angst vor einem neuen Protektionismus um. Dabei könnten alle nur verlieren, heißt es warnend in Berlin. Allerdings hat der Westen seinen Reichtum selbst auf Protektionismus aufgebaut. Auch Deutschland hat seine Industrie in der Gründerzeit mit Zöllen vor ausländischer (damals vor allem englischer) Konkurrenz geschützt.

Japan und China haben es den Deutschen nachgemacht, Russland jedoch nicht. Dies rächt sich nun, wie D. Wermuth in seinem Blogpost erklärt:

Seit 1978, den Reformen Deng Xiaopings, hat das reale Bruttosozialprodukt Chinas im Durchschnitt jährlich um fast 10 Prozent zugenommen. In Russland begannen die Reformen erst nach dem Ende des Kommunismus im Jahr 1991 – in den 24 Jahren seit 1993 hat sich der Output unter starken Schwankungen preisbereinigt um jährlich nur rund 1,5 Prozent erhöht.

Die Moskauer Führung ließ sich (anders als die Chinesen) auf den sogenannten Washington Consensus ein – also auf die westliche Politik nach dem Motto „Wettbewerb um jeden Preis, möglichst wenig Staat!“ Die Folge war, dass die russische Industrie, ähnlich wie die der Ex-DDR, mit wenigen Ausnahmen fast über Nacht ausradiert wurde – sie war den ausländischen Konkurrenten nicht gewachsen, als sich die Grenzen öffneten.

Heute hingegen versucht sich Präsident Putin in einem neuen Protektionismus, der in Gestalt von Gegenmaßnahmen zu den westlichen Sanktionen daherkommt und vor allem den Agrarsektor abschirmt. Auch die USA protegieren ihre Industrie – alles, was den militärisch-industriellen Komplex und die neue Digitalwirtschaft betrifft, wird rigoros abgeschirmt. Nur in Europa scheint man das noch nicht verstanden zu haben.

Ob es daran liegt, dass hier Exportweltmeister Deutschland den Ton angibt? Niemand ist von offenen Märkten mehr abhängig als wir…

Hungersnot in Venezuela

piqer:
Georg Wallwitz

In Deutschland wird ein Thema etwas stiefmütterlich behandelt, das viele Lehren bereithält: In Venezuela, einem bis vor einer Generation reichen Land, bahnt sich eine Hungersnot an.

Was ist passiert? 1999 wurde eine sozialistische Regierung gewählt, unter der sich Korruption und Misswirtschaft immer weiter ausgebreitet haben, bis sie heute ein Maß erreicht haben, das sogar für Lateinamerika erstaunlich ist. Aus dem Sozialismus ist eine Art Leninismus geworden (wie so häufig in der Geschichte des Sozialismus), d.h. die Demokratie wurde weitgehend durch eine Militärdiktatur ersetzt. Der Vizepräsident Venezuelas ist ein Drogenhändler, dem von der amerikanischen Regierung kürzlich Vermögenswerte im Umfang von 500 Millionen Dollar beschlagnahmt wurden.

Die wirtschaftlichen Konsequenzen sind in dieser Statistik am dramatischsten zusammengefasst: „the minimum wage (the wage earned by the median worker) measured in the cheapest available calorie, had declined from 52,854 calories per day in May 2012 to just 7,005 by May 2017 – not enough to feed a family of five. Since then, conditions have deteriorated dramatically. By last month, the minimum wage had fallen to just 2,740 calories a day. And proteins are in even shorter supply.“ Es beweist sich darin die alte Einsicht (am besten beschrieben von Armartya Sen), dass Hunger meistens ein menschengemachtes Problem ist.

Die Inflationsrate liegt bei 50% pro Monat.

Die Ölproduktion des OPEC-Mitgliedslandes fällt um 16% p.a.

Geld hat die Regierung aber noch reichlich, um in China die beste Ausrüstung zu kaufen, die sich gegen Demonstranten finden lässt.

Scheussliche Geschichte.

Keine Ahnung von Bitcoin und Cryptodingens? Eine Fortbildung in 5 Podcasts und 19 Twitter Accounts.

piqer:
Frederik Fischer

Cryptowährungen waren eines der bestimmenden Wirtschaftsthemen im vergangenen Jahr. Die Vergleiche mit dem Platzen der Dotcom-Blase sind naheliegend. Damals wie heute investiert eine Vielzahl von Menschen in einen Trend, ohne zu verstehen, in was genau sie da investieren und welche wirtschaftlichen und sozialen Dynamiken sie da mit ihrem Geld befeuern.

Auch ich habe maximal gefährliches Halbwissen und ließ daher bislang meine Finger von dem Zeug. Nachdem gerade im zweiten Halbjahr aber auch in meinem Freundeskreis das Bitcoin-Fieber ausgebrochen ist, hab‘ ich beschlossen: Es ist höchste Zeit für eine Crypto-Fortbildung.

Der Medium-Artikel „95 Crypto Theses for 2018“ kam mir daher sehr gelegen. Der Text ist überwiegend zu nerdig und nischig für eine piqd-Empfehlung, aber ich habe fünf Podcast-Empfehlung und eine Twitter-Liste herausdestilliert, die wunderbar zum Fernstudium taugen (leider alle auf Englisch):

Und für die Twitter-Nutzer unter euch: Hier ist die Liste mit 19 Crypto-Experten, denen es sich zu folgen lohnt.

Vielleicht beschäftigt ihr euch ja selbst mit dem Thema und habt zusätzliche Empfehlungen? Hinweise in den Kommentaren sind höchst willkommen. Idealerweise fällt euch sogar jemand ein den/die wir als Bitcoin-piqer anfragen könnten? 

Mr. BRIC macht Hoffnung

piqer:
Eric Bonse

Der Titel dieses Artikels ist ein wenig irreführend. Der „Erfinder“ des Akronyms BRIC – mit dem einst die „aufsteigenden“ Staaten des Südens und Ostens bezeichnet wurden – kritisiert nämlich nicht nur die britische Regierung.

Er liefert auch eine Einschätzung der Weltwirtschaft („in der stärksten Verfassung seit zehn Jahren“), bewertet die Angst um die chinesischen Schulden („das Gerede ist lächerlich“), kritisiert das britische Commonwealth („einfach beschämend“) und blickt auf Deutschland.

Und da kommt – ganz zum Schluss – die vielleicht wichtigste volkswirtschaftliche Erkenntnis des letzten Jahres …

Die (im Schnitt eher) ärmliche Zukunft der heute Dreißigjährigen

piqer:
Antje Schrupp

Dass der neoliberale Umbau der ehemaligen westlichen Sozialstaaten viele Menschen ärmer und wenige reicher gemacht hat, ist das eine. Noch viel zu wenig beachtet ist die damit verbundene generationenbezogene Ungerechtigkeit. Denn die Verschlechterungen betreffen ja nicht alle Altersgruppen gleichermaßen. Um niemandem etwas wegnehmen zu müssen, sind Verschlechterungen fast immer schleichend und für die Zukunft eingeführt worden, also nur für die Jungen, aber eben nicht für die Älteren.

Niedrigere Löhne, wegbrechende Zusatzleistungen, unerschwingliche Mieten und Immobilienpreise, sinkende Rentenerwartungen, wegbrechende gewerkschaftliche Errungenschaften – all das betrifft junge „Millenials“ (womit hier die zwischen 1982 und 2004 Geborenen gemeint sind) deutlich stärker als Ältere.

In diesem Text hat einer von ihnen die ökonomische Misere seiner Generation recherchiert und aufgeschrieben. Er bezieht sich auf die Situation in den USA, die noch um einiges desolater ist als hierzulande, weil der Staat noch weniger in die Dynamik der Märkte eingreift und weil vor allem auch Bildung selbst eine Ware ist.

Aber das Grundproblem ist dennoch vergleichbar. Zumal wenn man nicht nur das noch relativ wohlhabende Deutschland heranzieht, sondern andere europäische Länder, in denen die Jugendarbeitslosigkeit deutlich höher ist und es nicht einmal so etwas wie Hartz IV gibt. Interessant ist daher tatsächlich der Ausblick auf die kommenden Jahrzehnte: Was wird diese Generation tun, wenn sie an den politischen Schaltstellen der Macht sitzt?

Hübsch ist auch die Aufbereitung des Themas mit animierten Grafiken und Typografie.

Gut für die Statistik, gut für die Karriere, schlecht für Arbeitslose: Das Geschäft mit MATs

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Christian Huberts

Vor mehr als acht Jahren lief die unter anderem für den Grimme-Preis nominierte Dokumentation Die Armutsindustrie in der ARD. Sie zeigte eindrücklich, wie Arbeitslose von den Jobcentern in teilweise bizarre Maßnahmen vermittelt werden (etwa gebrauchte Puzzle auf Vollständigkeit prüfen) und wie private Dienstleister von diesen staatlich subventionierten Arbeitern umfangreich profitieren. Nebenbei ein gutes Mittel, um die Arbeitslosenstatistik zu frisieren, weil die betroffenen ALG-2-Empfänger darin einfach nicht mehr auftauchen. Heute ist die Dokumentation längst depubliziert und man findet sie bestenfalls noch auf YouTube-Kanälen mit einem Hauch von Wutbürger wieder. Verändert hat sich in den letzten Jahren jedoch wenig, wie eine aktuelle Analyse von Hannes Hoffmann und Christian Honey im Tagesspiegel zeigt.

Zu der oft sinnfreien 1-Euro-Job-Armutsindustrie hat sich unlängst eine profitable Fortbildungsindustrie gesellt. Mussten 2013 über 500.000 Arbeitslose an so genannten MATs (Maßnahmen bei einem Träger) teilnehmen, sind es 2016 schon rund 750.000. Die Zahl der erwerbsfähigen Hartz-IV-Empfänger blieb in diesem Zeitraum jedoch relativ konstant bei etwa 4,4 Millionen. Also wieder prima für die Statistik und – wie Hoffmann und Honey aufzeigen – ebenso für die Jobcenter-Mitarbeiter. Es hat sich ein Anreizsystem etabliert, bei dem es sich lohnt, möglichst viele Arbeitslose in MATs zu vermitteln – trotz ihrer sehr zweifelhaften Wirkung und wachsender Kosten. Rebellischen Hartz-IV-Empfängern drohen Sanktionen und gewissenhaften Jobcenter-Angestellten entgehen Boni, Beförderungen oder Vertragsverlängerungen.

Über die Jahre ist so ein Milliardengeschäft entstanden. Private Kursanbieter verkaufen Jobcenter-Mitarbeitern mit den Kursen die „Zielerreichung“. Beide Seiten profitieren. Zum Leidwesen von Arbeitslosen und Steuerzahlern.

Gegen Staat, Kapital und Marx: der Anarchist Michail Bakunin

piqer:
Dirk Liesemer

Ich wusste bisher gar nicht, wie stark der Anarchismus einst auch in Deutschland vertreten war. Geschweige denn, dass es in den Zwanzigerjahren eine nicht ganz unbedeutende anarchosyndikalistische Gewerkschaft namens FAUD (Freie Arbeiter-Union Deutschland) gab – mit zeitweise 150.000 Mitgliedern. Sie waren nicht nur antikapitalistisch, sondern auch antistaatlich gesinnt. Dass die Erinnerung an die Anarchisten hierzulande so verblasst ist, dürfte kein Zufall sein: Aus Sicht der Konservativen handelte es sich um Terroristen und für die Linken waren sie realitätsferne Utopisten. Da dieses Jahr im Zeichen von Karl Marx steht (der 5. Mai ist sein 200. Geburtstag), sollte man sich auch mit seinen Widersachern befassen.

Der Podcast über den Anarchisten Michail Bakunin ist dafür ein guter Einstieg: Bakunin entstammte einer russischen Adelsfamilie, besuchte Westeuropa und traf in Paris unter anderem Karl Marx, den er einerseits für seine Gelehrsamkeit bewunderte, dessen politische Konzepte er jedoch ablehnte, weil sie viel zu wenig die individuelle Freiheit des Menschen beachteten. „Marx fehlt der Instinkt der Freiheit“, hielt er etwa fest, „er ist von Kopf bis Fuß ein Autoritärer.“ Als Anarchist formulierte Bakunin natürlich keine große stringente Welterklärung, aber er legte seine Ideen in zahlreichen Schriften nieder und erwies sich als hervorragender Organisator. Um den Widersacher loszuwerden, wurde er schließlich von Karl Marx als Spitzel des Zaren verleumdet und aus der Internationalen Arbeiterassoziation gedrängt.

Einiges an anarchistischen Konzepten hat sich übrigens bis heute erhalten, etwa selbstverwaltete Genossenschaften. Interessant wäre mal zu erfahren, inwiefern der Anarchismus nicht auch liberale Denker beeinflusst hat.

Wie „kurzfristig“ die Politik von SPD und Union ist

piqer:
Nick Reimer

Im Wahlkampf formulierte es Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) noch so:

„Wir werden Wege finden, wie wir bis 2020 unser 40-Prozent-Ziel einhalten. Das verspreche ich Ihnen.“

Für die SPD trug Fraktionschef Thomas Oppermann den Schwur so vor:

„Wir halten am Klimaziel – 40 Prozent Absenkung des CO2-Ausstoßes gegenüber 1990 – uneingeschränkt fest. Das steht im Koalitionsvertrag, das will die Bundesregierung und die SPD-Bundestagsfraktion will das auch.“

Jetzt aber ist das Geschwätz von gestern, und was bittschön hat dieses Geschwätz von gestern in den ernsten Sondierungen zu suchen, die sich Union und Sozialdemokraten gerade liefern? Zum Klimaziel der neuen Groko heißt es jetzt aus der zuständigen Arbeitsgruppe:

„Das kurzfristige Ziel für 2020 wird aus heutiger Sicht nicht erreicht werden.“

Wie „kurzfristig“ dieses Ziel ist, hat sich der Klima-Lügendetektor einmal angeschaut. Demnach beschlossen die Regierungsfraktionen von Union und FDP im Bundestag vor fast 27 Jahren – am 27. September 1991 – das erste deutsche Klimaziel: „ca. minus 30 Prozent bis zum Jahr 2005„.

Die SPD stimmte damals ebenso wie die Bündnisgrünen und die noch PDS heißende Linkspartei gegen dieses Ziel. Sie wollten „mindestens“ 30 Prozent – und zwar in den alten Bundesländern. Der SPD-Verhandlungsführer Michael Müller sagte damals in der Bundestagsdebatte:

„Unser Angebot als SPD: Wir sind, ohne Unterschiede zu verkleistern, bereit, auch unbequeme Schritte im Interesse des Klimaschutzes mitzumachen. Aber wir werden nicht bei dem mitmachen, was wir seit jetzt einem Jahr erleben, nämlich daß in der Bundesregierung über den notwendigen Klimaschutz nur gequatscht wird, wobei dies aber tatsächlich ein folgenloses Geschwätz ist.“

Um das „kurzfristig“ einordnen zu können: Aktuell liegt der bundesdeutsche Treibhausgas-Ausstoß bei 906 Millionen Tonnen. Das ist verglichen mit dem Basisjahr 1990 eine Reduktion von 27,5 Prozent. Union und SPD haben also noch nicht einmal ihr politisches Ziel von 1991 erreicht.

Brünn: Wo Populisten ein Zeichen gegen Rassismus setzen

piqer:
Simone Brunner

Populisten, die den Teufelskreis aus Rassismus und Perspektivenlosigkeit für Roma durchbrechen wollen? Das gibt es, und zwar in der tschechischen Stadt Brünn. Dort hat der Bürgermeister der ANO-Partei zuletzt das Sozialprojekt „Wohnen zuerst“ umgesetzt. Davon profitieren vor allem Roma, die bei der Wohnungssuche massivem Alltagsrassismus ausgesetzt sind:

Es ist ein Pilotprojekt für arme Familien in der Stadt, die von Wohnungsnot oder Obdachlosigkeit betroffen sind. Gedacht für alle Bedürftigen, nehmen vor allem Brünner Roma teil. Denn sie sind in einer speziellen Situation: Die meisten der rund 20.000 Roma der Stadt leben in heruntergekommenen Wohnungen oder Wohnheimen. Deren Besitzer kassieren für minderwertigen Wohnraum überhöhte Preise und nutzen dabei die Notlage vieler Roma aus: Auf dem normalen Wohnungsmarkt werden sie wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit als Mieter meist nicht akzeptiert.

Die ANO-Partei wurde vom Milliardär Andrej Babiš gegründet, der zuletzt bei den Parlamentswahlen 2017 mit 30 Prozent klar gewonnen hat. In westlichen Medien wurde Babiš oft in die Reihe der Rechtspopulisten gestellt, obwohl sich Experten über die richtige Definition seiner Politik bis heute streiten. Babiš hat die Partei selbst einmal als „rechte Partei mit sozialer Empathie“ bezeichnet. Die Partei gilt zudem als EU-skeptisch und tritt gegen eine vertiefte EU-Integration ein.

Ich empfehle den Text auch deswegen, weil er möglicherweise mit einer (westlichen) Erwartungshaltung bricht und stattdessen zeigt, wie komplex die politischen Prozesse heute in Osteuropa – und nicht nur dort – sind. Daran geknüpft mein Wunsch an uns alle: Wir sollten genauer hinschauen. Mehr detaillierte Berichte vor Ort, als oberflächliche Ferndiagnosen.

Der hochgeschätzte Kollege Keno Verseck hat Projektteilnehmer in Brünn interviewt und diese wunderbare Geschichte für Spiegel Online aufgeschrieben.