Fremde Federn

Anarchokapitalismus, Altersarmut, Russland-Sanktionen

Diese Woche unter anderem in den Fremden Federn: Eine Entmythologisierung des EU-Lieferkettengesetzes, die Rätsel der westlichen Ukrainepolitik und wie eine britische Handelsfirma die erste Opium-Epidemie in Asien auslöste.

Foto: Jojo Bombardo via Flickr (CC BY-ND 2.0)

In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.

Wie wirksam sind verhängte Sanktionen gegen Russland?

piqer:
te.ma

Als die EU Anfang März 2022 russische Banken aus dem SWIFT-Zahlungsverkehr ausschloss, galt dies als schärfstes verhangenes Strafmaß. Der Historiker Nicholas Mulder und der Ökonom Janis Kluge sind sich jedoch sicher: Die Auswirkungen der Sanktionen sind zu kurz gedacht.

Die meisten Sanktionen, die nicht schnell wirken, wirken am Ende entweder gar nicht oder brauchen sehr lange, um Wirkung zu entfalten.

Zwar stellen die Sanktionen eine Bürde für den russischen Haushalt dar. Doch die westliche Weltgemeinschaft misst den Maßnahmen mehr Bedeutung bei, als diese tatsächlich für die russische Wirtschaft haben.

Grund dafür ist die enge Verzahnung der Weltwirtschaft: Die Abhängigkeit vom russischen Öl sorgte dafür, dass der Weltmarkt weiterhin auf dessen Verfügbarkeit angewiesen war und damit die Auswirkungen der Sanktionen dämpfte. Mulder und Kluge zufolge kamen die Sanktionen viel zu spät: Bereits 2014, als Reaktion auf die Annexion der Krim, hätte die Weltgemeinschaft stärkere Signale senden müssen.

Dass damals die Krim nicht zu härteren Folgen geführt hat, war ein massiver Fehler. Russland hat daraus nicht nur den Schluss gezogen, dass Annexionen im 21. Jahrhundert in Europa relativ problemlos möglich sind. […] Die gewaltsame Veränderung international anerkannter Grenzen ist für Russland zur Routine geworden.

Die Sanktionspolitik bleibt jedoch nicht völlig wirkungslos. Sie strukturiert die russische Wirtschaft nachhaltig um – und damit auch die Weltwirtschaft. Und auch die politische Symbolkraft von Sanktionen sollte nicht unterschätzt werden:

Sanktionen sind aber auch ein Instrument der Kommunikation gegenüber dem Rest der Welt und der eigenen Bevölkerung.

Im Gespräch mit te.ma-Kurator Sebastian Hoppe sprechen der Historiker Nicholas Mulder und der Ökonom Janis Kluge über Erfolg und Misserfolg des westlichen Sanktionsregimes gegen Russland, über die Rolle von Sanktionen für die Wiederherstellung der ukrainischen territorialen Integrität, verpasste Reaktionen auf die Krim-Annexion, den überraschend engen Zusammenhalt der USA und der EU und die abweichenden Reaktionen der Staaten des Globalen Südens.

Armut und Wohlstand im Alter: Differenziertere Zahlen

piqer:
Antje Schrupp

Häufig ist in sozialpolitischen Diskussionen von Altersarmut die Rede, und dabei wird meist auf niedrige Rentenbezüge, vor allem bei Frauen verwiesen: Mehr als ein Drittel der Rentnerinnen bekommen demnach weniger als 1.000 Euro im Monat.

Solche Zahlen sind aber teilweise irreführend da die wenigsten alten Menschen ausschließlich von der gesetzlichen Rente leben. So haben viele der über 65-Jährigen noch eine klassische Ehe geführt, mit einem Vollzeit arbeitenden Mann und einer Teilzeit oder geringfügig erwerbsarbeitenden Frau. Das Renteneinkommen des Ehemannes bestimmt hier auch den Lebensstandard der Ehefrau, nicht nur ihre eigene Rente.

Hinzu kommt, dass viele der heute Älteren zusätzlich zur gesetzlichen Rente über Betriebsrenten oder private Zusatzrenten verfügen oder sich Wohneigentum erworben haben. In den wirtschaftsboomenden 1960er und 1970er Jahren war das auch für Menschen aus ökonomisch ärmeren Milieus durchaus möglich – anders als heute.

Es ist daher wichtig, das Phänomen Altersarmut differenziert zu diskutieren. Dafür liefert dieser Artikel Zahlen und kommt zu dem Schluss: „Die heutige Rentnergeneration ist zumindest im Durchschnitt deutlich besser gestellt als oft wahrgenommen.“ Nur drei Prozent in dieser Generation sind auf Grundsicherung angewiesen.

Für die Jüngeren hingegen ist es heute deutlich schwieriger, sich eine Altersvorsorge aufzubauen, und zwar insbesondere für Frauen. Altersarmut wird in Zukunft noch zum einem großen Problem werden.

Entmythologisierung des EU-Lieferkettengesetzes

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Jürgen Klute

Nach langen und mühsamen Verhandlungsrunden hatten sich die Ko-Gesetzgeber der Europäischen Union – das Europäische Parlament und der Rat der EU unter Beteiligung der EU-Kommission – auf einen Kompromiss zur so genannten Lieferketten-Richtlinie geeinigt. Buchstäblich in letzter Sekunde hat dann die FDP durch ein Veto die beiden anderen Koalitionspartner der Bundesregierung, SPD und Grüne, dazu gezwungen, bei der angesetzten abschließenden Abstimmung im Rat der EU der Richtlinie nicht zuzustimmen, sondern sich statt dessen der Stimme zu enthalten. Um zu vermeiden, dass weitere Staaten dem Beispiel Deutschlands folgen und damit die Richtlinie zu Fall bringen, wurde die Abstimmung verschoben.

Die FDP, die zuvor ja dem ausgehandelten Kompromiss schon zugestimmt hatte, brachte als Argument für ihr überraschendes Umkippen in letzter Sekunde vor, die Richtlinie sei für viele Betriebe eine unzumutbare bürokratische Belastung.

Die taz-Wirtschaftsredakteurin Leila van Rinsum hat sich daraufhin die Richtlinie noch einmal genau angeschaut und kommt zu dem Schluss, dass die Argumentation der FDP sachlich nicht nachvollziehbar sei, was sie in ihrem Betrag für die taz detailliert darlegt. Unterstützt wird Rinsums Schlussfolgerung z.B. von Lebensmittelkonzernen, die einen Abschluss des EU-Lieferkettengesetzes fordern, wie Jonathan Packroff in einem Euractiv-Artikel berichtet.

Der FDP scheint es aber andererseits gar nicht so sehr um die konkreten Regelungen der Lieferketten-Richtlinie zu gehen, sondern darum, Menschenrechten aus ideologischen Gründen insgesamt eine Absage zu erteilen. Denn wie Christoph Schult in einem Spiegel-Artikel (leider hinter der Paywall) berichtet, stoppte FDP-Justizminister Marco Buschmann kürzlich einen Antrag der Regierungsparteien im Bundestag zu Menschenrechten, weil in diesem Antrag die Lieferketten-Richtlinie erwähnt wurde, die im Kern ja gerade Unternehmen auf die Einhaltung von Menschenrechten (und Umweltstandards) verpflichten will.

Die Rätsel der westlichen Ukrainepolitik

piqer:
Thomas Wahl

Es kam sehr viel zusammen während der Münchner Sicherheitskonferenz. Vom Tod Alexej Nawalnys, über die Einnahme der Stadt Awdijiwka in der Ostukraine durch russische Truppen bis hin zum zunehmenden Munitionsmangel der Ukrainer, der andauernden Weigerung Deutschlands Taurus zu liefern und der Blockade der amerikanischen Hilfsgelder durch die Republikaner. Dann kündigt Trump auch noch an, Beitragszahlern der NATO, die das 2%-Ziel nicht einhalten, den amerikanischen Schutz zu entziehen. Die Sanktionen gegen Rußland wirken immer noch nur sehr moderat. Auch wenn das so nicht von ihm geplant war – „Wladimir Putin muss diesen Moment genossen haben„, so die Schlußfolgerung von Nicholas Vinocur in POLITICO, der in dem empfohlenen Artikel versucht, Geschichte und Wurzeln der westlichen Ukrainestrategie herauszuarbeiten.

Er zeigt eine Strategie des Versagens, der falschen Einschätzungen, des Verpassens von Gelegenheiten und Momenten, eine Strategie der Zurückhaltung und Ängste. Garniert immer wieder von großen Worten und einer Hilfe, die zum Sterben zu viel und zum Siegen zu wenig ist. Die, so die WELT in ihrem Nachdruck (auf Deutsch hinter dem Paywall), zentral von US-Präsident Biden und Bundeskanzler Scholz geformt wurde.

Es mag zu früh sein, um zu sagen, dass der Westen den Krieg in der Ukraine verlieren wird – aber es wird immer deutlicher, dass er verlieren könnte. Während Kiew und seine Verbündeten für das aktuelle Jahr ein grausiges Menü von Möglichkeiten durchspielen – einschließlich eines Vorstoßes von Russlands Verbündeten, dem Iran und China, an allen Fronten, um den Dritten Weltkrieg zu provozieren – lohnt es sich, einen Moment innezuhalten und zu fragen: Wie konnte es so weit kommen? Wie konnte der Westen mit seinen Flugzeugträgern und einer gemeinsamen Wirtschaftspower von fast 60 Billionen Euro (weit mehr als China, Iran und Russland zusammen) die Initiative an ein schrumpfendes postsowjetisches Land mit dem Bruttoinlandsprodukt Spaniens abtreten und in die Defensive geraten, um beim nächsten Angriff Putins zurückzuweichen? Und wenn die Abwehr von Putins Invasion nicht das eigentliche Ziel des Westens ist – was dann?

Einen Grund für die zögerliche und widersprüchliche Haltung des Westens sieht Politico, nach vielen Gesprächen mit Diplomaten, Sicherheitsbeamten und Experten auf beiden Seiten des Atlantiks, in der Angst vor den nuklearen Drohungen Putins. Was dazu führte, die Waffenlieferungen an die Ukraine zu limitieren und zu verzögern. Vor jeder Runde für eine qualitativ erweiterte Ausrüstung mit schwereren Waffen gab es lange Diskussionen. So kann man keinen ernsthaft agierenden Eindringling schlagen. Ein Vorgehen, das in Kriegszeiten zu vermehrten Opfern führen muss.

„In Bidens Regierung und in Scholz‘ Umfeld herrschte Angst vor einer möglichen nuklearen Konfrontation“, so der Diplomat weiter. „Diese Angst war anfangs sehr groß. Sie prägte die Reaktion der Welt.“ Laut Techau und Edward Hunter Christie, Sicherheitsexperte vom Finnish Institute of International Affairs, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass der russische Staatschef zu Beginn des Konflikts eine Art nukleare Drohung direkt an Biden und Scholz gerichtet hat, um sie in Angst und Schrecken zu versetzen. „Wir wissen, dass Putin Boris Johnson gesagt hat, er könne sein Land innerhalb von fünf Minuten angreifen“, sagt Hunter Christie. „Wenn er das bei Johnson getan hat, ist es durchaus möglich, dass er das Gleiche bei Biden getan hat.“ Techau fügt hinzu: „Es gab ziemlich gut informierte Spekulationen über eine direkte [nukleare] Drohung an Scholz, in der er gewarnt wurde, dass ein solcher Schlag passieren könnte.“

Die Angst vor einem russischen Atomschlag ist zwar nach den ersten Monaten des Krieges etwas abgeebbt. Es dominiert nun das Argument, Putin werde von einem Erstschlag wenig profitieren bzw. sogar einen direkten militärischen Gegenschlag des Westens provozieren. Aber die Angst vor der Eskalation lauert wohl im Hintergrund und begrenzt so die militärischen Optionen der Ukrainer.

„Es gibt hier ein offensichtliches Muster“, sagt Hunter Christie. „Wir haben es bei den Panzern gesehen. Wir haben es bei den Flugzeugen gesehen. Wir haben es bei den Vorbehalten gesehen, wie das Raketenartilleriesystem Himars eingesetzt werden kann. Man achtet wie besessen auf Details, auf Vorbehalte, wie diese Waffen eingesetzt werden können, auch wenn einige der Überlegungen militärisch absurd sind. Hinter dieser Besessenheit verbirgt sich die Angst, eine eskalierende Reaktion auszulösen. Das ist verständlich – niemand will einen Atomkrieg –, aber so ist es nun einmal.“

Ein weiterer Grund für das Lavieren des Westen seien die Persönlichkeiten der wichtigen politischen Spitzenakteure. Gerade die Charaktere von Biden und Scholz prägen die „Strategie“ der langsamen Steigerung und die Konzentration auf das Management der Eskalation – was die Fokussierung auf strategische Ergebnisse immer wieder behinderte. Beide Politiker sind, trotz des Altersunterschieds von 16 Jahren,

während des Kalten Krieges und der damals weit verbreiteten Furcht vor einem nuklearen Armageddon politisch erwachsen geworden. Beide sind der von den USA geführten internationalen Ordnung und dem NATO-Schutz für Europa zutiefst verbunden. Beide sind Männer der Linken, die bewaffneten Interventionen instinktiv misstrauisch gegenüberstehen und, vom Temperament her gesehen, risikoscheu sind und sich mit geopolitischen Spielereien nicht anfreunden können, so die Meinung von Experten und Diplomaten.

Demnach war Biden ideologisch schon immer gegen Interventionen und Kriege, wie auch sein chaotischer Rückzug aus Afghanistan zeige. Bei Scholz, als ehemaligem Aktivisten der extremen Linken, der in seiner Jugend nach Moskau reiste, vermutet man eine tiefere Sympathie für die Sowjetunion und unbewußt auch für deren „Nachfolger“ Rußland. Sein Aufstieg in der deutschen Sozialdemokratie, die für ihre historische Sympathie für Russland bekannt ist, hat Scholz sicher nicht direkt zu einem Russland-Falken werden lassen. Das entwickelt sich offensichtlich sehr langsam. Rätselhaft langsam. Insgesamt diagnostizieren Experten bei beiden Politkern eine fehlende Ambiguitätstoleranz.

Meines Erachtens gilt diese gewachsene Unsicherheitstoleranz auch für die westlichen Gesellschaften als Ganzes. Und so scheint auch keine stringente gemeinsame europäische Strategie in Sicht. Der französische Präsident Emmanuel Macron hat zwar vor kurzem ein Verteidigungsabkommen mit der Ukraine unterzeichnet, Langstreckenraketen vom Typ SCALP in die Ukraine geschickt und sein Beharren auf einen Dialog mit Putin aufgegeben. Besorgnis hingegen erregt sein derzeitiges Beharren auf „Buy European“ bei dringend benötigten Waffen und Munition. Das verschwendet wertvolle Zeit und

hat ihm den Vorwurf eingebracht, eine „zynische“ Politik zu betreiben, die sich mehr auf den Wiederaufbau der europäischen Rüstungsindustrie als auf die Unterstützung der Ukraine auf dem Schlachtfeld konzentriert.

Und gerade hört man aus Deutschland endlich eine konkrete (aber fadenscheinige) Information  zur Taurus-Frage:

Der deutsche Regierungschef Olaf Scholz hat der Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern an die Ukraine zum jetzigen Zeitpunkt eine klare Absage erteilt. Er begründete dies mit dem Risiko einer Verwicklung Deutschlands in den Krieg. Der Taurus sei eine weitreichende Waffe, es drohe ein Eskalation.

Das macht einen fassungslos. Mehr Hoffnung geben vielleicht andere westliche Staatsoberhäupter:

Ukrainische Quellen bezeichnen das Vereinigte Königreich, sowohl unter dem ehemaligen Premierminister Boris Johnson als auch unter dem derzeitigen Premierminister Rishi Sunak, als verlässlichen Verbündeten, der dazu beigetragen hat, die westliche Zurückhaltung bei der Lieferung bestimmter Waffen zu überwinden. Sie schreiben dem amtierenden niederländischen Premierminister Mark Rutte zu, ein Tabu bei der Lieferung westlicher Kampfjets gebrochen zu haben, da die Niederlande nach Angaben des niederländischen Verteidigungsministeriums derzeit die Lieferung von 24 F-16 an die Ukraine zu einem späteren Zeitpunkt in diesem Jahr vorbereiten. Die nordischen, baltischen, mittel- und osteuropäischen Staaten, insbesondere Polen, werden von ukrainischen Beamten für ihr großes Engagement für den Sieg der Ukraine gelobt – ein Beispiel dafür ist die jüngste Entscheidung Dänemarks, seine gesamte Artillerie nach Kiew zu schicken.

Könnte es trotzdem sein, dass der Westen seine Kriegsziele in der Ukraine leise umdefiniert? Wenn der Bundeskanzler jetzt sagt, man dürfe Putin nicht erlauben, die Bedingungen für einen Frieden in der Ukraine zu diktieren, ist das etwas anderes, weicheres, als früher „Die Ukraine darf nicht verlieren“.

Der Westen hat die Ukraine nicht aufgegeben. Aber seine vorrangige Konzentration auf das Risikomanagement verrät den Wunsch, den Konflikt zu beenden und sich mit Putin zu einigen, möglichst früher als später. Die große Frage, die sich aufdrängt, ist allerdings, ob der Ansatz die Katastrophe abwenden wird – oder Schlimmeres heraufbeschwören.

Putin ist nicht dumm, kein durchgeknallter Verrückter. Man kann sich nicht darauf verlassen, dass er die Lage öfter so dramatisch falsch einschätzt wie in den ersten Tagen des Krieges. Auch wenn er als jahrzehntelanger Alleinherrscher vielleicht zunehmend den Kontakt zur Realität verlieren könnte. Der Westen muss handeln – schnell und entschlossen. Mit oder ohne Amerika.

Quinn Slobodian über die Vordenker des Anarchokapitalismus

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Dirk Liesemer

Seit einigen Wochen regiert in Argentinien ein Präsident, der im Wahlkampf provokativ und progammatisch mit einer Kettensäge auftrat: Javier Milei, ein Rechtspopulist, Sozialstaatsgegner und Anarchokapitalist – ein was, bitte schön?

Ja, genau darum geht es in diesem Text des kanadischen Historikers Quinn Slobodian: um Anarchokapitalismus, einer besonders entfesselten Form der Finanzwirtschaft, einen Kapitalismus, der sich der staatlichen und gesellschaftlichen Kontrolle entledigen will – also das Gegenteil von linken Anarchismustheorien, die in der Schule eines Michail Alexandrowitsch Bakunin gründen. Bei dem Text handelt sich um einen Auszug aus seinem neuen Buch Kapitalismus ohne Demokratie.

Slobodian stellt uns einige Namen vor, die man sich wohl wird merken müssen, allen voran Murray Rothbard, einem (verstorbenen) konservativen US-Philosophen, der dem Paläolibertarismus zugerechnet wird. Rothbard prägte die in den 1920er entstandene Theorie des Anarchokapitalismus maßgeblich.

Zwar werden im Text keine deutschen Namen genannt (auch der Argentinier Milei kommt nicht vor), aber beim Lesen musste ich doch mehrmals an die hiesigen Crash-Propheten denken, die sich offenbar direkt aus der anarchokapitalistischen Ideenkiste bedienen.

Über den skrupellosen Opiumhandel in Asien

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Natalie Mayroth

Dabei waren sich die Händler der katastrophalen Folgen ihres Tuns sehr wohl bewusst. «Alle sagen, dass England mit Opium handelt, weil es Chinas Ruin will», schrieb der chinesische Prinz Gong, der 1869 den internationalen Protest gegen das Geschäft mit dem Rauschgift anführte. Für den amerikanischen Historiker und Sinologen John Fairbank war der Opiumhandel «das am längsten währende und systematischste internationale Verbrechen der Neuzeit». Über die Jahrzehnte führte der Opiumhandel zu einer verheerenden Drogen-Epidemie, die das wirtschaftliche Gleichgewicht und den sozialen Zusammenhalt in China bedrohte.

Ein Grund für den Boom von Opium in Ostasien war indirekt das wachsende Handelsbilanzdefizit der Briten mit China: Die East India Company schmuggelte den verbotenen Schlafmohnextrakt aus Britisch-Indien ins Reich der Mitte, um ihre Kassen zu füllen. Ganze Landstriche, in denen angebaut wurde, verarmten. Dass die Bevölkerung Indien und China an den Folgen von Anbau, Verarbeitung und Konsum litt und gar in eine Epidemie führte, wurde in Kauf genommen, denn sie profitierten gut davon. Mit Opium wurden koloniale Kriege finanziert. Ein moralisches Problem war das für Europäer lange nicht, wie die Geschichte zeigt.

Können wir uns Journalismus noch leisten?

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Michaela Haas

Fast jeden Tag kommt wieder eine neue Nachricht, dass ein amerikanisches Medienimperium Journalisten entlässt: Vice, die Los Angeles Times, Time, das Wall Street Journal, Vox, NBC News, Business Insider, Spotify, Condé Nast, Sports Illustrated – sie alle haben Hunderte von Journalisten entlassen. BuzzFeed News hat ganz dicht gemacht. Selbst die Washington Post, im Besitz von Gazillionär Jeff Bezos, will 240 Journalisten loswerden, weil sie im letzten Jahr mehr als hundert Millionen Dollar verloren hat.

Das betrifft letztlich auch uns Leser in Deutschland, denn gerade in diesem Wahljahr wären fundiert recherchierte Berichte aus Amerika umso dringender nötig. Diese New Yorker Reportage fragt gar, ob die Medien vom Aussterben bedroht sind. Sie zeigt aber auch einige potentielle Lösungen auf:

The Washington Post’s new publisher and C.E.O., Will Lewis, was more clearly bearish on subscriptions. “That subscription-based model is now waning and then will enter a more significant period of decline,” he said. “There’s very positive evidence of how news can be accessed and paid for in more innovative ways. There are day passes that are successful, there’s week passes, there are models like the Guardian where you can make donations. So there’s a whole new generation of paying user concepts. I’m pretty excited about it. I think it’s newsroom 3.0.”