Fremde Federn

Abschied vom Öl, Umschulung als Privileg, Leerstandsbekämpfung

Diese Woche unter anderem in den Fremden Federn: Was der Abschied vom Öl für die Förderländer bedeutet, wie sich eine Sozialversicherung für Selbständige etablieren ließe und warum die anstehenden Umbrüche am Arbeitsmarkt vor allem die prekär Beschäftigten treffen.

Foto: Jojo Bombardo via Flickr (CC BY-ND 2.0)

In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.

Was der Abschied vom Öl für die Förderländer bedeutet

piqer:
Ralph Diermann

Vor einigen Tagen habe ich einen Text von Kirsten Westphal, Energie- und Klimaexpertin der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), gepiqd, in dem sie sich der Frage widmete, welche Bedeutung die globale Energiewende für die weltweite Friedens- und Sicherheitspolitik hat.

In Ergänzung dazu heute ein Essay der SZ-Redakteurin Silvia Liebrich, die den Blick auf die Öl-Förderländer richtet. Für viele von ihnen hat das Ende der fossilen Energien tiefgreifende Folgen, weil enorme Einnahmen wegfallen. Damit drohen neue Konflikte und Bürgerkriege, so Liebrich. Sie verweist auf Kriegssituationen der Vergangenheit, die durch Krisen am Ölmarkt (mit-)verursacht worden sind: der Iran-Irak-Krieg in den Achtzigern, der Golfkrieg Anfang der Neunziger oder der Aufstieg von al-Qaida.

Fatalerweise wird der Abschied vom Öl diejenigen Förderländer am härtesten treffen, die wirtschaftlich am schwächsten und/oder politisch am wenigsten stabil sind. Ihre Förderkosten sind hoch, weil ihnen die Mittel fehlen, ihre Anlagen zu modernisieren. Daher werden sie bei schwindender Nachfrage am ehesten aus dem Markt gedrängt. Liebrich schreibt:

„Immer tiefer wird der Graben zwischen den reicheren Ölstaaten der Golfregion, die niedrigere Förderkosten haben, und den weniger entwickelten, bevölkerungsreicheren Opec-Mitgliedern in Afrika, Süd- und Mittelamerika und anderswo.“

Liebrich schlägt deshalb Entschädigungen für Staaten vor, die bereit sind, ihre Vorkommen nicht mehr auszubeuten – vor allem für solche, die ohne Rohstoffeinnahmen vor dem Bankrott stünden. Damit kommt es allerdings zu dem Dilemma, Regimes zu stützen, die sich meist nicht gerade durch gute Regierungsführung auszeichnen. Internationale Organisationen wie die UNO müssten Liebrich zufolge daher dringend Konzepte entwickeln, wie Hilfen für die Diversifizierung der Wirtschaft in den Förderländern aussehen könnten.

Aber sind die Exportstaaten nicht selbst schuld, wenn sie es jahrzehntelang versäumt haben, mit den Öleinnahmen ein stabiles, nachhaltiges Wirtschaftssystem aufzubauen? Ja, das ist richtig, meint Liebrich – aber kein Grund, ihnen jetzt die Hilfe zu verweigern. Schließlich tragen die großen ölimportierenden Industriestaaten eine Mitschuld an der Misere.

„Bis heute ist es ihnen ziemlich egal, mit welchen Regimen sie es zu tun haben, wie es um Menschenrechte oder Umweltschutz bestellt ist – und was mit ihrem Geld geschieht. Hauptsache, das Öl fließt.“

Hoffnung auf qualifizierte Weiterbildung nur in etablierten Kreisen

piqer:
Anja C. Wagner

Eine Studie des McKinsey Global Institute zeigt, dass bis 2030 in Deutschland rund 10,5 Millionen Erwerbstätige grundlegenden Veränderungen ausgesetzt sein werden. Davon werden sich 6,5 Mio. Menschen erhebliche neue Fähigkeiten und Qualifikationen erlernen müssen – und 4 Millionen Menschen müssen gänzlich neue Jobs finden. Dies war auch vor Corona absehbar, verstärkt sich aber durch die Epidemie weltweit.

Die Studie geht davon aus, dass diese Pandemie besonders die Branchen betreffen wird, in denen die physische Präsenz bislang wichtig war. Sie nennen hier v. a. die Freizeit- und Tourismusbranche, aber auch sämtliche Bereiche, in denen Tätigkeiten mit persönlichem Kundenservice von großer Bedeutung waren. Aufgrund des Wachstums von Online-Transaktionen und Lieferservices wird auch der Einzelhandel und die Gastronomie künftig von Entlassungen betroffen sein. Insgesamt könnte ein Berufswechsel für weltweit 100 Millionen MitarbeiterInnen in den 8 untersuchten Ländern bis 2030 erforderlich sein. Vor allem im Niedriglohnsektor wird es erhebliche Einschläge geben.

McKinsey sieht Deutschland jedoch gut aufgestellt bei der Bewältigung dieser Arbeitsmarktkrise.

Als Grund gilt der größere formale Berufsbildungssektor und der erwartete Rückgang der Erwerbsbevölkerung um 5% bis zum Jahr 2030.

Weitere Studien schlagen in dieselbe Kerbe:

Aufbauend auf Erfahrungen aus vergangenen Automatisierungszyklen, gehen sie davon aus, dass das korporatistische deutsche Modell die Entwicklung abfedern wird. Sie erwarten, dass der Arbeitsplatzverlust in der Industrie überwiegend durch weniger Neueinstellungen und durch neue Stellen im selben Betrieb abgefangen wird. (…) Die Autoren betonen jedoch, dass dies nur mit Umschulung und Weiterbildung zu schaffen ist – beides sei eher zu erwarten, wo Gewerkschaften stärker vertreten sind.

Und hier wird der Widerspruch offensichtlich: Während zunächst große Jobverluste in prekären Sektoren zu erwarten sind, in denen Gewerkschaften kaum greifen und die formalen Fortbildungsangebote eher aus der Zeit gefallen scheinen, konzentriert sich der Blick der Studien wieder einzig auf Anstellungen in der Industrie und den etablierten Branchen.

Genau dieses korporatistische deutsche Modell wird denjenigen, die in der Krise jetzt aus ihren unsicheren Jobs fliegen, eben kaum helfen (können). Das bedeutet, dass die oben vorgetragene Hoffnung, die BoomerInnen gingen in den nächsten 10 Jahren alle in Rente und damit entspanne sich der Arbeitsmarkt, genau diese älteren Zielgruppen abschreibt – neben den prekären. Es geht einzig und alleine um die Wettbewerbsfähigkeit der erfolgreichen Unternehmen – und nicht um die verzweifelten Menschen, die kaum mehr eine Hoffnung haben.

Solo-Selbstständige: Tagelöhner und verkrachte Existenzen?

piqer:
Meike Leopold

Welche Lehren zieht die Politik aus der Corona-Krise? Das fragt man sich auch mit Blick auf die 2,2 Millionen Selbstständigen in Deutschland. In einem Interview mit Brand Eins beschreibt Alexander Kritikos, Forschungsdirektor am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung, was hier alles im Argen liegt und verbessert werden könnte. Die wichtigsten Erkenntnisse:

  • Solo-Selbstständige fallen größtenteils aus dem Sozialsystem, weil die Politik sie nach wie vor wie Sonderfälle behandelt.
  • Besonders das Einkommen von Selbstständigen in der Kultur- und Kreativwirtschaft ist zum Teil „erschreckend niedrig“.
  • Mit ihrem Versuch, eine Rentenversicherungspflicht für Selbstständige einzuführen, behandelt die Politik diese wie Arbeitnehmer.

Kritikos prophezeit:

Der Zwang zur gesetzlichen Rentenversicherung und eine Belastung von deutlich mehr als 50% für Steuern und Sozialabgaben wird zu Ausweichbewegungen führen – also zu Schwarzarbeit.

und plädiert für eine freiwillige Sozialversicherung mit attraktiven Konditionen.

  • Das Modell der Künstlersozialkasse (KSK) ließe sich ausweiten, so dass auch andere Selbstständige, etwa im Niedriglohnsektor, sich um eine Alterversorge kümmern könnten.
  • Erspartes muss besser vor dem Zugriff des Staates geschützt werden. In der Pandemie mussten Solo-Selbstständige ihre privaten Grundlagen bis auf einen Betrag von 60.000 Euro aufbrauchen.
  • Es fehlen vernünftige Modelle für gescheiterte Selbstständige

…die den Übergang von einer gescheiterten Selbstständigkeit in eine neue Beschäftigung abfedern, ohne die Betroffenen gleich an Hartz IV mit allen damit verbundenen Restriktionen zu verweisen.

  • Finanzämter sollten analog zum Kurzarbeitergeld auf Basis ihrer Daten Ausgleichszahlungen für unverschuldete Verdienstausfälle zahlen.
  • Ein wichtiger Hinweis von Kritikos an dieser Stelle: „Selbstständige finanzieren mit ihren Steuern die Rentenversicherung mit, ohne von deren Rentenzahlungen zu profitieren“.
  • Der Gründungszuschuss sollte angesichts der wirtschaftlichen Folgen der Pandemie unbedingt wieder hochgefahren werden.

Weiterführend zum Thema ein Rant von Sascha Lobo.

China will klimaneutral werden. Aber nur sehr langsam.

piqer:
Alexandra Endres

Ohne China ist die Klimakrise nicht in den Griff zu bekommen: Das Land verursacht mehr als ein Viertel der globalen Treibhausgasemissionen, und im vergangenen Jahr ist sein Ausstoß trotz der Corona-Pandemie noch gestiegen.

Zugleich hat Präsident Xi Jinping, ebenfalls im vergangenen Jahr, angekündigt, dass China vor 2060 klimaneutral wirtschaften will. Vor 2030 sollen die Emissionen anfangen, zu fallen. Xis Ansage galt als großer Fortschritt für die Bemühungen um globalen Klimaschutz.

Die offene Frage ist aber: Wie will China das schaffen? Im Moment werden dort nämlich stetig weiter neue Kohlekraftwerke gebaut, obwohl schon die bestehenden gar nicht ausgelastet sind. (Warum es für die Verantwortlichen so schwierig ist, das zu ändern, habe ich mir in diesem Interview von Nis Grünberg vom Mercator Institute for China Studies erklären lassen.)

Am Freitag hat Chinas Regierung nun einen Entwurf für ihren nächsten Fünfjahresplan vorgelegt. Der sollte etwas detaillierter Aufschluss darüber geben, wie Xi sich die Klimapolitik bis 2025 vorstellt, und ob seine übergeordneten, langfristigen Ziele für das Jahr 2030 bzw. 2060 realistisch zu erreichen sind.

Leider erfüllt der Plan die Hoffnungen der Klimaschützer nicht. Bloomberg schreibt (in einem leider nur eingeschränkt zugänglichen Stück):

But when it came to greenhouse-gas emissions — the key metric that will determine whether the world reins in a global temperature increase — Friday’s announcements were disappointing. Beijing didn’t set a hard target for the emissions, nor did it bring forward from 2030 the date it expects them to peak. The only carbon goal announced — reducing emissions per unit of gross domestic product by 18% over five years — was the same as in 2016.

“To tackle the climate crisis, China needs to bring its emission growth to a much slower level,” said Li Shuo, senior global policy adviser at Greenpeace in Beijing. “Peaking emissions earlier than 2025 is not only possible but necessary.”

Byford Tsang, der die chinesische Klimapolitik für den Thinktank E3G analysiert, kommentiert auf Twitter:

The takeaway – Beijing is not ready to take a major step to lay out its game plan on CO2 neutrality – yet. It may be ready later in the year (…)

Lili Pike hat sich den Plan mit all seinen Unterzielen in ihrem Text für Vox.com (hier gepiqd) genauer angeschaut. Sie fasst ihr Urteil so zusammen:

On the one hand, the growing emphasis on green development in China’s plans, rather than the historical single-minded focus on GDP, shows that the Communist Party sees a strong national interest in reducing emissions over time. However, these latest climate targets do not rise to the level the global scientific consensus calls for.

Allerdings hat China seine Ziele in der Vergangenheit eher zu vorsichtig formuliert und dann übererfüllt. Und im laufenden Jahr sollen weitere Pläne vorgelegt werden. Vielleicht fallen die dann ja ein wenig ehrgeiziger aus.

»Armut macht krank«, besonders während einer Pandemie

piqer:
Christian Huberts

Demnächst wird die Bundesregierung ihren 6. Armuts- und Reichtumsbericht veröffentlichen. Die Süddeutsche Zeitung konnte schon einen Blick auf das 500 Seiten umfassende Dokument werfen und stellt wenig Überraschendes fest: die soziale Mobilität nimmt ab, die Ungleichheit steigt und insbesondere von Armut betroffene oder bedrohte Menschen wenden sich weiterhin überdurchschnittlich von demokratischen Prozessen der Willensbildung ab. Nur eine Sache ist – wie in vielen anderen Kontexten natürlich auch – diesmal anders. Zu den ohnehin existierenden Problemen kommt nun auch noch ein pandemisches Virus hinzu:

Die mit der Pandemie verbundenen Einkommensrisiken seien ›in den unteren Einkommensbereichen größer‹, heißt es in der Analyse, auch weil diese Menschen ›wenig Rücklagen oder andere finanzielle Spielräume‹ haben. Auch auf dem Jobmarkt trifft die Pandemie die Schwächeren in der Gesellschaft härter: Wer eine geringere Qualifikation habe, habe ein größeres Risiko, seinen Job zu verlieren.

Und zu den finanziellen und beruflichen Risiken, die mit der Corona-Pandemie einhergehen, gesellen sich auch massive gesundheitliche Probleme, wie der medizinische Soziologie Nico Dragano im Interview mit der taz verdeutlicht:

[A]nhand vieler Studien sehen wir mittlerweile ziemlich klar, dass unterschiedliche Bevölkerungsgruppen unterschiedlich oft und unterschiedlich schwer getroffen werden. Und die Risiken verlaufen hier, wie bei vielen Krankheiten, entlang ökonomischer Faktoren. Das ist in Deutschland der Fall wie in zahlreichen anderen Ländern.

Bei Langzeitarbeitslosen ist das Risiko für einen schweren Verlauf von Covid-19 sogar nahezu doppelt so hoch. Eine Erkenntnis, die sich auch gegen die Betroffenen wenden ließe, etwa indem man auf ihren oft gesundheitsschädlichen Lebensstil hinweist. Aber auch dieser zu einfachen Erklärung erteilt Dragano eine klare Absage:

Dahinter steckt ein ganzes Bündel von Faktoren, die die Einzelnen oft gar nicht in der Hand haben. Beispielsweise die Wohnlage. Es gibt mittlerweile viele Studien, die auf den Einfluss von Umweltfaktoren auf die Gesundheit hinweisen. Beispielsweise wohnen an viel befahrenen Straße mit hoher Schadstoffbelastung eher Menschen mit niedrigerem Einkommen.

Dazu kommen Faktoren wie Erziehung. Aber auch psychische Belastungen, die durch die Arbeitslosigkeit verursacht werden. Was hinter all dem steht ist die Erkenntnis: Armut macht krank.

[…] Es ist seit den 60er-Jahren in Studien für Europa erforscht, dass Armut ein ganz entscheidender Faktor für Gesundheit ist. Das reicht von psychischen und Verhaltensauffälligkeiten im Kindesalter bis hin zu schwerwiegenden Erkrankungen bei Erwachsenem und einem deutlich früheren Tod.

Politisch tut sich in dieser Sache wenig. Während Sozialverbände eine deutliche Erhöhung der Regelsätze fordern, kommen konkrete Hilfen nur langsam und in bescheidenem Umfang an. Gutscheine für kostspielige FFP2-Masken wurden verschickt und voraussichtlich im Mai dieses Jahres soll es dann eine Einmalzahlung von 150 Euro geben. Ein Betrag, der wohl kaum die Mehrbelastungen durch die Corona-Pandemie ausgleichen kann und zum Beispiel für die gleichberechtigte Teilhabe von Kindern am Schulunterricht über das Internet schon viel zu spät kommt. Dabei wäre eine Verbesserung des Sozialstaats und eine gerechtere Verteilung auch ohne eine schwerwiegende Pandemie eine gute Investition in die Gesundheit der Gesamtgesellschaft, wie Erfahrungen aus anderen Ländern nahelegen:

Untersuchungen zeigen, dass wenn man die Einkommensunterschiede klein hält, in diesen Ländern die Gesundheit der Bevölkerung insgesamt profitiert. Das ist ganz faszinierend. Und darauf hat die Steuerpolitik natürlich einen Einfluss. Wird der Reichtum gerechter verteilt, kann das die Gesundheit verbessern.

Wohnungen als Ware – der Kampf gegen spekulativen Leerstand

piqer:
Susanne Franzmeyer

Insbesondere in den Großstädten gehen seit Jahren die Mieten durch die Decke. Spekulanten treiben ihr Spiel mit einem Grundbedürfnis der Menschen – dem Wohnraum. Leere Mehrfamilienhäuser und Wohnungen lassen sich teurer und besser vermarkten als vermietete, und über unsägliche „Entmietungsmethoden“ ist bereits viel bekannt.

Was aber, wenn auch nur schleppend, zunehmend etwas bewegt, sind die inzwischen vielerorts ernster genommenen oder neu eingeführten „Zweckentfremdungsgesetze“, die hier genauer unter die Lupe genommen werden. Dabei bekommt die Hörerschaft einen Einblick in die Situation verschiedenster Regionen und Städte in Deutschland.

Ein Eigentümer, dem gleich mehrere Häuser in Berlin gehören, verfährt mit allen Objekten gleich. Er lässt sie leerstehen. Der Besitzer ist den Behörden bekannt und sie tun ihr Bestes, dagegen vorzugehen. Doch es sind langsame Prozesse, die mit Gerichtsverhandlungen und hohen Kosten einhergehen.

In Frankfurt am Main wurde 2004 ein Zweckentfremdungsgesetz unter Roland Koch gekippt. Allerdings hat sich die Lage am Wohnungsmarkt dort seitdem zugespitzt und inzwischen streiten die politischen Lager wieder über eine Einführung des Gesetzes. In Stuttgart hat das zwar geklappt, in abgeschwächter Form, da nur Leerstand berücksichtigt wird, der nachweislich nach 2016 begann. Doch ein Großteil der bekannten Wohnungen weist einen deutlich längeren Leerstand auf und kann nicht berücksichtigt werden.

Zudem haben die Mieter eine schlechtere Ausgangsposition. Wenn im Zuge öffentlicher Anhörungen in der Politik 35 Eigentümer-Lobbyisten einem einzigen mieternahen Sprecher gegenüberstehen, kann man sich ausmalen, wie die Chancen für die Mieter stehen, dass sich an den Verhältnissen etwas ändert.

„’CDU und FDP verhindern Verabschiedung im Stadtrat‘, vermerkte zufrieden der ‚Eigentümerverband Haus und Grund Düsseldorf und Umgebung‘ im April 2018. Man habe immer wieder betont, staatliche Eingriffe seien überflüssig, denn es handele sich allenfalls um sporadisch vorhandene Probleme. Eine Wohnraumschutzsatzung sei ein gesetzlicher Moloch, der nichts bewirken würde, außer die Eigentümer mit zusätzlichen Gebühren zu belasten.“

Erschreckend ist, dass auch viele Rentenfonds und Versicherungen Wohnungen aufkaufen und leerstehen lassen oder dass eine ganze Horde an Lobbyisten in der Politik verhindert, dass schärfere Maßnahmen gegen den spekulativen Leerstand ergriffen werden können. Zudem kommt erschwerend hinzu, dass der bürokratische Verwaltungsvorgang bei geplanten Baumaßnahmen enorm hoch ist, so dass es Jahre dauern kann, bis z. B. Umbauten und energetische Sanierungsvorhaben genehmigt und umgesetzt werden können.

Die UN-Sonderberichterstatterin und Anwältin Leilani Farha untersuchte die Wohnungsmarktsituation in etlichen Staaten und legte den Vereinten Nationen 2017 einen Bericht vor, in dem es heißt:

„Der Wohnungsmarkt (…) werde in großen Teilen der Welt von Banken, Versicherungen, Pensionsfonds und Hedgefonds mit enormen Mengen an Kapital umgewandelt. Wohnungen würden als Ware behandelt, als Werkzeug, um Vermögen zu akkumulieren. Dies sorge dafür, dass Wohnraum seine soziale Funktion, einen Platz zum Leben in Sicherheit und Würde bereitzustellen, zunehmend verliert. Leerstand trotz Wohnungsnot sei die sichtbarste Form dieser Fehlentwicklung. (…) Wohnen müsse als soziales Gut anerkannt werden. Was bei ungebremstem Fortgang der heutigen Entwicklungen auch in Kontinentaleuropa droht, hat anderswo schon zu handfesten politischen Konflikten geführt. Mit wütenden Wohnungslosen auf der einen und Ghost Complexes – Geisterwohnungen oder Zombie-Appartments auf der anderen Seite, hatten sich Bürgermeister zwischen Jerusalem und Toronto auseinanderzusetzen – meist mit mäßigem Erfolg.“

Ein informatives Feature über ein wichtiges aktuelles Thema.