In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.
Der Abschied vom Erdölzeitalter
piqer:
Alexandra Endres
Die Internationale Energieagentur IEA wurde einst gegründet, um die Versorgung der industrialisierten Welt mit Öl und Gas sicherzustellen. Die erste Ölkrise 1973 war gerade vorbei. Lange forderten die IEA-Fachleute nachdrücklich höhere Investitionen in neue Öl- und Gasfelder, weil es sonst zu Versorgungsengpässen komme. Das entsprach ihrem Auftrag.
Die IEA wird wegen ihrer Expertise in Energiefragen sehr geschätzt. Seit einiger Zeit spielt auch der Klimawandel in ihren Prognosen eine Rolle, der zunehmende Bedarf an klimafreundlicher Energie, und ebenso die Frage, welche Folgen die Klimaziele von Paris für die internationalen Energiemärkte haben.
Jetzt legt sie eine vollständige Kehrtwende hin und ruft den Abschied vom Erdölzeitalter aus:
Ab sofort sollen keine Investitionen in die Erschließung neuer Öl- und Gasvorkommen mehr erfolgen, fordern die Energieexperten aus Paris in einem neuen Bericht, der beschreibt, wie die Welt bis zur Mitte des Jahrhunderts ihre Emissionen an klimaschädlichem CO2 netto auf Null senken kann. Darin empfiehlt die IEA auch, ab dem Jahr 2035 den Verkauf von Autos mit Verbrennungsmotor auf der ganzen Welt zu stoppen und den Bau weiterer konventioneller Kohlekraftwerke unmittelbar einzustellen.
Investitionen in laufende Öl- und Gasprojekte sollen allerdings weiter stattfinden. IEA Generaldirektor Fatih Birol sagt: Es gebe einen „tragfähigen Pfad“ hin zu einem klimaneutralen globalen Energiesektor, allerdings sei der „sehr schmal“ und erfordere eine „noch nie dagewesene Transformation“.
Dass die Klimaneutralität 2050 erreicht sein kann, scheint die IEA allerdings nicht zu glauben: Ihre Fachleute rechnen damit, dass die globale Nachfrage nach Erdöl bis 2050 um drei Viertel sinkt. Das ist viel, aber ein Viertel bleibt eben immer noch übrig. Weil mit der Öl- und Gasnachfrage aber auch der Preis der fossilen Rohstoffe sinkt, wird die Förderung vielfach zum Verlustgeschäft.
Der IEA-Bericht dient der Vorbereitung der nächsten Weltklimagipfels, der im November in Glasgow stattfinden soll. Die FAZ (dieser Piq) ordnet seine Wirkung so ein:
Die Forderung der Energieagentur nach einem Investitionsstopp für neue Öl- und Gasvorkommen hat Signalwirkung: sie liefert den Gegnern der Ölindustrie, aber auch kritischen Aktionären, die auf eine entschlossenere Neuausrichtung der Energieunternehmen dringen, Argumente an die Hand.
Und Philip Litz, der für den Thinktank Agora Energiewende in Berlin die Transformation der Energiemärkte beobachtet, twittert:
„The big news today is not that new investment in fossil production and infrastructure is mainly stranded and incompatible with 1.5. The big news today is that the @IEA is spelling this out that clearly…. It is nothing less than a game changer.“
Klare zukünftige Präferenz der Beschäftigten für hybrides Arbeiten
piqer:
Ole Wintermann
Das Unternehmen WeWork hat für eine aktuelle Umfrage zu den gewünschten Arbeitsbedingungen in der Post-Corona-Zeit jeweils 1.000 Beschäftigte und C-Level-Menschen befragt.
96% der befragten Beschäftigten wünschen sich die Möglichkeit einer eigenständigen Entscheidung bezüglich des Wie, Wo und Wann der Arbeitserbringung. Die Beschäftigten bevorzugen mit Blick auf die Post-Corona-Zeit eindeutig ein hybrides Arbeiten, das Büroarbeit, Home Office und Arbeiten von dritten Orten aus einschließt. Hierbei zeigt sich, dass Beschäftigte, die besonders engagiert sind, v.a. das Arbeiten außerhalb der Büros schätzen und bevorzugen und dies auch bereits vor Corona mehrheitlich praktiziert haben. Gerade hoch motivierte Beschäftigte gaben aber an, nach Corona eher von dritten Orten aus als von zuhause aus arbeiten zu wollen.
Insgesamt würden die Beschäftigten die Arbeitszeiten im Büro, zuhause und an dritten Orten dritteln wollen. Die C-Level-Menschen würden hingegen mehrheitlich bevorzugen, dass die Beschäftigten überwiegend im Büro arbeiten würden.
Beschäftigte sehen als große Vorteile des hybriden Arbeitens die bessere Vereinbarkeit von Arbeit und Leben (62%), die größere Kontrolle über die Arbeitsgestaltung (49%), weniger Stress (48%) und Pendelaufwand (48%). C-Level-Menschen sehen v.a. die gestiegene Flexibilität (52%) und Produktivität (49%!) und das bessere Engagement der Beschäftigten (42%) als Vorteile des hybriden Arbeitens.
64% der Beschäftigten würden auch selbst für den Zugang zu einem dritten Ort des Arbeitens zahlen (48% würden dafür $ 300 und mehr im Monat aufbringen); 75% der Beschäftigten würde eine Vergünstigung in ihrem Angestelltenverhältnis aufgeben, um einen dritten Ort des Arbeitens zu finanzieren. 79% der C-Level-Menschen würden den Beschäftigten auch die Möglichkeit des hybriden Arbeitens einräumen und sie dabei finanziell unterstützen wollen. Die Einstellung zum hybriden Arbeiten korreliert positiv mit höherem Einkommen, höherer Bildung, geringerem Alter, städtischer Wohnumgebung und Größe der Unternehmen.
Obgleich diese Ergebnisse natürlich dem Geschäftsmodell von WeWork entgegenkommen, leistete sich der CEO von WeWork, Sandeep Mathrani, nach der Veröffentlichung der Umfrageergebnisse einen kommunikativen Ausfall, in dem er meinte:
“Those who are least engaged are very comfortable working from home.”
Zeigt dieser Ausfall vielleicht das grundsätzliche kulturelle Problem, das mit der Einführung von hybrider Arbeit v.a. bei C-Level-Menschen verankert ist und mehr Flexibilität in den Unternehmen verhindert?
Corona macht die Armen ärmer
piqer:
Antje Schrupp
Die Armut in Deutschland hat sich laut dem jüngsten Armutsbericht der Bundesregierung weiter verfestigt und Corona hat das noch einmal verstärkt. In diesem Interview erklärt die Soziologin Bettina Kohlrausch, die bei der Hans-Böckler-Stiftung über soziale Ungleichheit in Deutschland forscht, warum das so ist – und vor allem, welche Folgen das für das gesellschaftliche Gefüge hat.
Eine wichtige Ursache ist der große Niedriglohnsektor in Deutschland, in dem rund neun Millionen Menschen arbeiten. Sie verdienen meist nicht nur wenig, sondern ihre Jobs sind auch prekär. Sie waren überproportional von der Corona-Pandemie betroffen – und zwar in zweierlei Hinsicht: Viele haben ihre Jobs verloren und in diesen Berufsgruppen sind Menschen in viel höherem Maß einer Infektionsgefahr ausgesetzt.
Auch für die Demokratie hat diese Ungleichheit Folgen: In den unteren Einkommensschichten ist die Wahlbeteiligung besonders stark zurückgegangen. Und es gibt auch einen Zusammenhang zwischen Einkommensverlusten in der Pandemie und rechtspopulistischen Einstellungen – letztere allerdings vor allem in den unteren Mittelschichten, die damit ihre Angst vor einem Abstieg kompensieren.
Bevölkerungsentwicklung in China: Der Peak steht bevor
piqer:
Antje Schrupp
Alle zehn Jahre wird in China ein Bevölkerungszensus durchgeführt, der Trends und Prognosen der demografischen Entwicklung festhält. Als bevölkerungsreichstes Land (mit 1,4 Milliarden Menschen) spielt China eine zentrale Rolle in der Weltwirtschaft. Deshalb waren die Ergebnisse des Zensus von 2020 mit Spannung erwartet worden.
Zwar gibt es starke Anzeichen dafür, dass das Bevölkerungswachstum in naher Zukunft zurückgeht – die Regierung in Peking erwartet den Peak in 2027, unabhängige Beobachter schon früher – und die Geburtenraten sinken. Die Zeiten des Bevölkerungswachstums sind endgültig vorbei.
Allerdings hat China im Vergleich zu Europa und den USA noch erhebliche demografische Potenziale. So liegt das Renteneintrittsalter bisher bei Frauen bei 55 Jahren, bei Männern bei 60 Jahren – viele negative ökonomische Aspekte einer veralternden Bevölkerung können daher noch für eine ganze Weile aufgefangen werden, indem das Rentenalter sukzessive angehoben wird – genau das plant die Regierung auch für die kommenden Jahre. Erhebliches Potenzial für Fachkräfte-Nachwuchs gibt es auch weiterhin in der ländlichen Bevölkerung und unter Frauen. Doch beides sind nur Übergangs-Ressourcen, die irgendwann ausgeschöpft sind.
Angesichts des Klimanotstands ist es eher ein gutes Zeichen, wenn das weltweite Bevölkerungswachstum zum Stillstand kommt. Die Frage ist nur, welche strukturellen Veränderungen notwendig sind, um diese Trendumkehr sozialverträglich zu gestalten. Europa und USA haben sich dabei nur so mittelgut geschlagen: Der Umbau ging dort stark zu Lasten der Jüngeren und hat zu einer teilweisen Erosion des Sozialstaates geführt. China hat diese Aufgabe jetzt vor sich. Man kann gespannt sein, was die kommenden zwei, drei Jahrzehnte diesbezüglich bringen.
Sozialwohnungen weltweit – Norm statt Stigma
piqer:
Philipp Haaser
Mir ist immer noch unverständlich, warum das Thema Wohnen in der deutschen Politik einer derart untergeordnete Rolle spielt. In den Großstädten kennt jede:r Paare, die getrennt sind, aber nicht auseinanderziehen, Eltern, die im Wohnzimmer schlafen, damit die Kinder eigene Zimmer haben, WG-Mitbewohner:innen, die längst reif für einen Auszug wären, die aber alle nichts an ihrer Lage ändern können, weil bezahlbare Wohnungen kaum zu finden sind.
In Köln hätte knapp die Hälfte der Haushalte Anspruch auf einen Wohnberechtigungsschein. Der ist Voraussetzung für eine Sozialwohnung, deren Mieten für 15 oder 20 Jahre gedeckelt sind. Diese Wohnungen machen aber gerade mal noch 7 (in Worten: sieben) Prozent der Wohnungen aus. Was neu entsteht, reicht seit Jahren nicht im Ansatz aus, um für Entspannung zu sorgen.
Warum ändert sich das nicht? Warum gibt es keinen stärkeren politischen Willen im Bund, in den Ländern, in den Kommunen? In anderen Ländern sind öffentliche Eingriffe in den Immobilienmarkt gang und gäbe. Das zeigt auch dieser Podcast des ARD Weltspiegels und ein Film über Singapur, wo die Mittelschicht gut mit sozialem und damit bezahlbarem Wohnraum versorgt ist. Auch ein Forscher kommt zu Wort, der sich die kommunale Wohnungspolitik in Deutschland angeschaut hat.
Warum das neue Klimaschutzgesetz ein „epochaler Fortschritt“ ist
piqer:
Ralph Diermann
Greenpeace, BUND, Fridays for Future, die Grünen – sie alle üben massiv Kritik am neuen Klimaschutzgesetz, das die Bundesregierung heute verabschiedet. taz-Redakteur Malte Kreuzfeldt sieht das völlig anders: Er hält das Gesetz für einen „epochalen Fortschritt“. Denn keine Regierung kann künftig mehr hinter die im Gesetz festgelegte Emissionsminderung zurückfallen, argumentiert er in einem kurzen Kommentar. Kreuzfeldt warnt davor, diesen Erfolg kleinzureden.
Da sei es zu verschmerzen, dass das Gesetz nur Ziele festlegt, nicht aber den Weg dahin. Die ergeben sich quasi automatisch aus den Vorgaben für die einzelnen Sektoren. Sprich: früherer Kohleausstieg, mehr Erneuerbare-Energien-Ausbau, höhere CO2-Preise für Verkehr und Gebäude, schnelles Aus für Verbrenner und so weiter.
In einem ergänzenden Tweet weist Kreuzfeldt zudem darauf hin, dass Deutschland mit den neuen Zielen laut Climate Action Tracker bis 2040 klar auf dem 1,5-Grad-Zielpfad liegen wird.
Die Schönheit der Rechenzentren
piqer:
Jannis Brühl
Auch die Tech-Berichterstattung hat schon ihre kanonischen Texte. Dazu gehört diese Reportage, die Corey Doctorow 2008 für Nature über wissenschaftliche Rechenzentren in Großbritannien, Amsterdam und am Schweizer CERN schrieb. Das ist zwar schon ein Computerzeitalter her, aber die Sprache, die der Schriftsteller Doctorow für die auf Laien schnöde wirkende Rechnerlandschaft und die dahinter liegenden Fragen findet, ist von zeitloser Schönheit und ist in der Berichterstattung selten: „The PetaBoxes have the elegant, explosive compactness of plutonium.” (Tech-Reporter wissen um das Problem, dass jede IT-Firma im Grunde ähnlich aussieht – Rechenzentren und Bildschirme – und sich nur schwer abwechslungsreich beschreiben lässt.)
the story I’m here for: the relentless march from kilo to mega to giga to tera to peta to exa to zetta to yotta. The mad, inconceivable growth of computer performance and data storage is changing science, knowledge, surveillance, freedom, literacy, the arts — everything that can be represented as data, or built on those representations. And in doing so it is putting endless strain on the people and machines that store the exponentially growing wealth of data involved
Auch die Probleme der Rechenzentren sind dieselben wie heute: Wo sollen die ganzen Daten gespeichert werden, sie werden ja immer mehr? Wie upgradet man ein laufendes System mit neuer Hardware, ohne den Datenfluss der Kunden zu gefährden? Welchen Stress haben Sysadmins, wenn es um so viele so wichtige Daten geht? Was ist mit dem Stromverbrauch? (Eine Frage, die Elon Musk erst diese Woche in Zusammenhang mit Bitcoin lautstark wieder aufgeworfen hat.) Damit verbunden: Wie kühlt man die Zentren runter? („Once you’re conducting petacalculations on petabytes, you’re into petaheat territory“, schreibt Doctorow.)
Viel Spaß beim Lesen und beim Lernen darüber, wie die „Rückseite“ der digitalen Welt aussieht.
Ist Selbstoptimierung Selbstbetrug im Interesse der Wirtschaft?
piqer:
Ole Wintermann
Laurie Penny beschreibt in ihrem Rant über ihre Arbeitssituation (Homeoffice) in den letzten Monaten ihre Zweifel an der Produktivitätsfokussierung des Wirtschaftssystems. Sie hat immer mehr den Eindruck, dass das Zusammenleben und das Zusammenarbeiten von Menschen gerade auch in der Corona-Sondersituation viel zu sehr auf den Aspekt der Produktivität reduziert wird, während die Begleitumstände des (mobilen) Arbeitens wie die Organisation des Lebensalltags bin hin zum Umgang mit Mitbewohnern und Familienmitgliedern zu kurz kommen.
„How shall we stay productive when the world is going to hell?“
Produktiv sein zu müssen, wird uns bei jedem einzelnen Videocall bewusst, wenn wir über die Arbeitsleistungen der Call-Teilnehmenden seit dem letzten Termin sprechen. Produktivität wird zu einer moralischen Kategorie, die uns außerdem hilft, die globale Pandemie und die durch sie ausgelöste Krise durch Konzentration auf die kleinen Schritte im (Arbeits-)alltag mental zu bewältigen. Die dadurch in Gang gesetzte Selbstoptimierung ist, so die Autorin, die US-amerikanische Lebenslüge, dass „gute Leistung“ des Einzelnen zu einem guten Gesamtergebnis für alle führen könnte.
Die Autorin geht so weit festzustellen, dass das Wirtschafts- und Beschäftigungssystem es vermocht hat, uns in der Pandemie glauben zu lassen, dass der Zwang zur Hyperproduktivät durch Selbstoptimierung der Normalfall zu sein scheint:
„The treadmill feels normal. (…) The way most of us have been conditioned to think about work in the modern economy has all the hallmarks of hypervigilance. It’s what happens to people when they are trapped in abusive circumstances they cannot escape.“
So wie der Schwarze Tod vor Jahrhunderten die Macht der Kirche ein erstes Mal hat erodieren lassen, da der Zusammenhang von Gläubigkeit und einem „guten Leben“ durch die Krankheit infrage gestellt worden ist, erleben wir derzeit, dass der Glaube an das ökonomische Gesetz des Erreichens eines guten Lebens durch Selbstoptimierung durch die Pandemie in seinen Grundfesten erschüttert wird. Selbstoptimierung scheint keine Lösung zu sein, obgleich das Wirtschaftssystem uns dies hat glauben lassen.
Über den Umgang mit unsicheren Berufen
piqer:
Anja C. Wagner
Wenn wir über die Zukunft der Arbeit sprechen, tauschen sich viele über die Wohlfühlkultur in relativ gut bezahlten Jobs in etablierten Institutionen aus. Da geht es um Homeoffice, Vertrauensarbeitszeit, Abbau von Hierarchien usw. usf.
Was gerne ausgeblendet wird, sind die real existierenden Arbeitsbedingungen der „Working Class“, wie Julia Friedrichs sie in ihrem bemerkenswerten Buch nennt.
In dem hier verlinkten Artikel blickt man jedoch genau auf die Arbeitsbedingungen in sehr unsicheren Jobs in Großbritannien. Diese Gruppe umfasst ca. 3,7 Millionen Arbeitskräfte, also jede*r 10. Arbeitnehmer*in. Die Unsicherheit drückt sich aus,
weil ihr Vertrag keine regelmäßigen Arbeitszeiten oder kein regelmäßiges Einkommen garantiert oder weil sie eine schlecht bezahlte selbständige Tätigkeit ausüben (und weniger als den „nationalen existenzsichernden Lohn“ der Regierung verdienen).
Vor allem eh schon benachteiligte Gruppen finden sich in diesen unsicheren Jobs wieder. Das potenzierte sich in der Pandemie.
Während der Pandemie haben wir höhere Infektions- und Todesraten in unsicheren Berufen festgestellt. Unsere jüngste Analyse beim Trades Union Congress ergab, dass unsichere Berufe eine doppelt so hohe Covid-19-Mortalitätsrate aufwiesen wie andere Berufe.
Politisch wurde darauf kaum ein Augenmerk geworfen. Auch in hiesigen Breitengraden nicht. Erst jetzt wird in stark belasteten Stadtteilen mit einem hohen Anteil an Erwerbstätigen in solch unsicheren Jobs die Impfpriorisierung komplett aufgehoben und zu Schwerpunkt-Impfungen ohne Anmeldungen aufgerufen (z. B. hier jetzt in Neukölln).
Das ist auch dringend erforderlich. Es hat sich in bislang unveröffentlichten, britischen Studien herausgestellt, dass gerade mobile Arbeiter*innen (wie Paketzusteller*innen, Bringdienste, Putzkolonnen, Pflegedienste o. ä.), die dadurch mit vielen flüchtigen Kontakten in Berührung kamen, hier besonders eine Gefahr für sich und ihre Familien darstellen. Aber nicht sie als Person sind die Gefahr, sondern die Arbeitsbedingungen.
Arbeitnehmer*innen in unsicheren Arbeitsverhältnissen müssen während dieser Pandemie ein höheres Infektionsrisiko schultern, während sie gleichzeitig mit dem dreifachen Nachteil einer fehlenden Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, weniger Rechten und einem endemischen Niedriglohn konfrontiert sind.
Die Gründe liegen klar auf der Hand: Sie haben kaum Rücklagen, um Ausfälle zu kompensieren. Sie haben Angst, ihren Job zu verlieren, wenn sie sich krankmelden. Zudem haben sie meist kein gesichertes Stundenbudget oder einen Vertrag, der ihnen auch zukünftig eine Arbeit zusichert.
Wie makaber die Situation ist, zeigen typische Beispiele einer Übergangsarbeit in den britischen Testzentren. (Ich vermute, es verhält sich vergleichbar hier in Deutschland.)
Es ist daher zutiefst besorgniserregend, wenn auch leider vorhersehbar, dass neue Schlüsselkräfte, die für die Reaktion auf die Pandemie unerlässlich sind – wie z. B. Covid-19-Testpersonal und Impfbeauftragte – mit unsicheren Arbeitsverträgen eingestellt wurden. Das Personal in den Coronavirus-Testzentren wurde nicht direkt vom National Health Service angestellt.
Um solch unbarmherzige Arbeitsverhältnisse zu stoppen, bräuchte es dreier Maßnahmen, so der Autor:
- Es braucht ein finanzielles Sicherungsnetz für alle Erwerbstätigen, das auch Krankheitstage kompensiert.
- Zweitens benötigen sie eine adäquate Rechtsaufklärung und eine geeignete Vertretung – hier wird auf die Vorteile einer Gewerkschaftsmitgliedschaft hingewiesen. (Ich weiß allerdings nicht, ob dies die Lösung für die prekären Arbeitnehmer*innen ist.)
- Es braucht ein verbindliches Arbeitszeitbudget für die Arbeiter*innen, auf das sie sich verlassen können.
Soviel zur Zukunft der Arbeit der prekären Erwerbstätigen in der Übergangszeit, solange sie überhaupt noch ausreichend manuelle Arbeit für sich finden …
Ob eine berufliche Weiterbildung diesen Menschen helfen würde? Vielleicht im Einzelfall, aber dies löst nicht das systemische Problem. Wir haben einfach nicht genügend gescheite Arbeit für alle. Die Schere wird weiter aufgehen. Da hilft auch kein Ordner voller nichtssagender Zertifikate. (Hier dazu mein aktuelles Buch – soviel Werbung muss sein 😉