Wirtschaftsgeschichte

Hatte die Federal Reserve Schuld an der großen Finanzkrise?

Derzeit ist es in Mode, die Zentralbanken für die globale Finanzkrise verantwortlich zu machen. Die Kritik verkennt zwar die historischen Umstände – aber einige problematische Entscheidungsmuster sollten uns bis heute zu denken geben. Ein Beitrag von Frances Coppola.

Bild: Pixabay

Die große Finanzkrise von 2008 ist in die Geschichte eingegangen. Viele Menschen, die heute im Finanzwesen tätig sind, sind zu jung, um sich noch klar daran zu erinnern. Und viele ältere Menschen sind dem Mythos erlegen, der mit jeder großen politischen Katastrophe einhergeht. Es obliegt nun den Wirtschaftshistorikern, Mythos und Fakten voneinander zu trennen und zu berichten, was wirklich geschehen ist.

Derzeit ist es in Mode, die Zentralbanken für die Krise verantwortlich zu machen. Hätten sie nur früher die Zinsen gesenkt und mit der quantitativen Lockerung begonnen, so das Argument, dann wäre es nicht zur Krise und der anschließenden globalen Rezession gekommen – und die Welt wäre heute eine bessere.

Aber Zentralbanker sind keine Wahrsager. Sie können das Unvorhersehbare nicht vorhersagen. Und es ist viel zu einfach, im Nachhinein zu urteilen. Hätten die Zentralbanken die Krise überhaupt vorhersagen können? Und hätten die ihnen damals zur Verfügung stehenden Instrumente ausgereicht, um eine solche globale Katastrophe zu verhindern?

Viele Menschen haben erkannt und davor gewarnt, dass das Finanzparadigma vor 2007 instabil sei. So warnte beispielsweise der Ökonom John Kay im August 2007, dass die Derivate-Pyramide beunruhigende Ähnlichkeit mit der Rückversicherungsspirale habe, die Ende der 1980er Jahre katastrophal zusammengebrochen war. Die Zentralbanken hätten sich vielleicht auf den Zusammenbruch dieses wackeligen Konstrukts vorbereiten sollen – oder besser noch, sie hätten bereits seine Entstehung verhindern sollen.  Aber niemand hat vorhergesagt, dass der ungeordnete Zusammenbruch einer einzigen mittelgroßen amerikanischen Investmentbank das gesamte globale Finanzsystem zum Einsturz bringen würde.

Der Lehman-Schock

Am 15. September 2008 meldete Lehman Brothers Insolvenz an, was weltweite Schockwellen und eine Kettenreaktion von Insolvenzen bei Banken und anderen Finanzinstituten zur Folge hatte. Am Tag darauf traf sich der Offenmarktausschuss der US-Notenbank (FOMC) in Washington, um die Situation der US-Wirtschaft zu überprüfen und über die angemessene Höhe der Zinssätze zu entscheiden.

Das Protokoll der Sitzung zeigte wenig überraschend, dass die Finanzmärkte extrem angespannt waren und die internationale Dollar-Liquidität rapide versiegte. Der Ausschuss beschloss einstimmig, „seinen Unterausschuss für Fremdwährungen zu ermächtigen, die Federal Reserve Bank of New York anzuweisen, bestehende Swap-Vereinbarungen nach Bedarf auszuweiten und neue Vereinbarungen mit ausländischen Zentralbanken zu schließen, um die Spannungen auf den Geldmärkten zu bewältigen”.

Dies war wahrscheinlich die wichtigste Entscheidung dieser Sitzung. Hätte das FOMC den Vorschlag zur Ausweitung der Dollar-Swap-Linien abgelehnt, wären die internationalen Dollar-Transaktionen zusammengebrochen, was den internationalen Handel zerstört und die Weltwirtschaft in eine Depression wie in den 1930er Jahren gestürzt hätte.

Diese wichtige Maßnahme des FOMC wurde jedoch von einer anderen Entscheidung überschattet. Das FOMC beschloss nämlich ebenfalls, die Zinssätze trotz stark verschlechterter Wirtschaftsindikatoren nicht zu senken.

Die Zinsen waren bereits sehr niedrig

Menschen, die in dem extrem niedrigen Zinsumfeld der Post-Lehman-Welt aufgewachsen sind, ist vielleicht nicht bewusst, dass sich die Definition von „niedrigen” und „hohen” Zinsen geändert hat. Heute liegen „niedrige” Zinsen nahe Null und „hohe” Zinsen vielleicht bei 5%. Im September 2007 galten Zinsen von rund 5% jedoch als normal, und „niedrig” bedeutete 2 bis 3%.

Zum Zeitpunkt des Zusammenbruchs von Lehman Brothers befanden sich die USA bereits in einer Rezession. Wie diese Grafik zeigt, führte die „Kreditkrise“ von 2006/07 zu einem starken Rückgang der Wirtschaftstätigkeit. Im Dezember 2007 waren die USA offiziell in eine Rezession eingetreten:

Das ist natürlich im Nachhinein betrachtet. Damals sah niemand die Rezession kommen, obwohl bereits eine Konjunkturabschwächung zu beobachten war. Die Federal Reserve begann im September 2007 mit Zinssenkungen und setzte diese bis Juni 2008 fort.

Die Daten, mit denen die Fed damals arbeitete, waren jedoch nicht ganz korrekt: Wie diese Grafik des BEA zeigt, wurden die Zahlen für das US-Bruttoinlandsprodukt in diesem Zeitraum wiederholt revidiert. Spätere Revisionen zeigen, dass die Konjunkturabschwächung früher einsetzte als die ursprünglichen Daten vermuten ließen.

Quelle: BEA

Hätte das FOMC davon gewusst, hätte es möglicherweise früher mit Zinssenkungen begonnen. Aber trotz des späten Starts fiel der effektive Leitzins der Fed von einem Höchststand von 5,26% im Juli 2007 auf 4,24% Ende Dezember. Und damit nicht genug: Im Mai 2008 sank er auf 2% und erreichte damit den niedrigsten Stand seit 2004. In weniger als einem Jahr waren die Zinsen von „normal” auf „sehr niedrig” gefallen.

Der Sturm von 2007

In Europa waren die Anzeichen einer bevorstehenden Katastrophe schon lange vor den Zinssenkungen der Fed erkennbar. Im Februar 2007 gab die britische Großbank HSBC eine unerwartete Gewinnwarnung heraus und bildete eine Rückstellung in Höhe von 1,8 Milliarden Dollar, um potenzielle Verluste aus ihren Beständen an amerikanischen hypothekenbesicherten Wertpapieren (MBS) abzudecken. Und im Juli brach die deutsche Bank IKB aufgrund von Verlusten aus MBS-Investitionen zusammen. Im August schloss der französische Gigant BNP Paribas drei seiner Investmentfonds und erklärte, er könne die MBS, in die diese Fonds stark investiert hatten, nicht bewerten.

Dies löste einen Einbruch auf dem wichtigen Markt für forderungsbesicherte Commercial Papers (ABCP) aus, auf den viele Finanzinstitute für ihre Finanzierung angewiesen waren. Das bekannteste Opfer dieses Crashs war die britische Bank Northern Rock, die einen klassischen Bank Run erlebte, nachdem sie sich zwecks Notfallfinanzierungen an die Bank of England gewandt hatte. Um eine Ansteckung anderer Banken zu verhindern, schloss die britische Regierung die Bank und kaufte ihre Vermögenswerte auf. Später stellte sich heraus, dass die Northern Rock hochgradig insolvent war.

Die Turbulenzen auf den europäischen Finanzmärkten waren jedoch nicht das Problem der Fed. Gemäß ihrem Auftrag beobachtete die US-Notenbank die Inflations- und Arbeitslosendaten in den USA. Und 2007 lag die Kerninflation deutlich über dem 2%-Zielwert der Fed – und stieg gnadenlos weiter an:

Auch die Arbeitslosigkeit erhöhte sich allmählich, allerdings ausgehend vom niedrigsten Stand seit mehreren Jahren:

Warum hat die Fed dann begonnen, die Zinsen zu senken?

Wie das Sprichwort sagt: „Wenn die USA niesen, bekommt die Welt eine Erkältung.“ Die schwere Erkältung Europas wurde durch ein Niesen auf dem ABCP-Markt verursacht, der auf hypothekenbesicherte US-Vermögenswerte angewiesen war. Die Fed hatte bereits eingegriffen, um die Liquidität in diesem wichtigen Finanzmarkt zu stützen. Aber auf ihrer Sitzung im September 2007 äußerte das FOMC die Befürchtung, dass steigende Marktzinsen und eine Verschärfung der Kreditbedingungen sich auf die US-Wirtschaft auswirken könnten. Sie senkte die Zinsen, um dieser marktbedingten finanziellen Straffung entgegenzuwirken.

Die Inflations- und Arbeitslosendaten waren für diese Entscheidung des FOMC nicht so aussagekräftig wie die Informationen über die Bedingungen an den Finanzmärkten. Weniger als ein Jahr später stützte das FOMC seine Zinsentscheidung jedoch wieder auf Inflations- und Arbeitslosendaten – und eben nicht auf die Bedingungen an den Finanzmärkten.

Die Sommerpause von 2008

Die Zinssenkung im Mai 2008 war die letzte vor dem Lehman-Crash. Während des gesamten Sommers 2008 hielt die Fed die Zinssätze bei 2%. Kürzlich behauptete ein Influencer namens Chamath auf Twitter (X), dass der Crash viel weniger schwerwiegend gewesen wäre, wenn die Fed die Zinsen weiter gesenkt hätte, anstatt sie zu Beginn der Krise unverändert zu lassen. Er argumentierte, dass die Fed falsche Entscheidungen getroffen habe, weil sie sich auf die ungenauen Arbeitsmarktdaten des BLS verlassen habe.

Diesbezüglich gibt es zwei Probleme. Erstens wird davon ausgegangen, dass die Fed die Krise hätte vorhersehen können. Und zweitens wird davon ausgegangen, dass eine Zinssenkung die durch die Krise ausgelöste tiefe Rezession hätte verhindern können. Beide Annahmen sind falsch.

Aufzeichnungen von Diskussionen über das Schicksal von Lehman im Vorfeld der Krise und auch danach zeigen, dass die Fed und das US-Finanzministerium nicht damit rechneten, dass der Zusammenbruch traumatische Auswirkungen auf die Wirtschaft haben würde. Sie glaubten, über genug Instrumente zu verfügen, um alle finanziellen Turbulenzen, die sich aus dem Zusammenbruch ergeben würden, zu überstehen.

Es waren nicht ungenaue Arbeitsmarktdaten, die die verspätete makroökonomische Reaktion der Fed verursachten, sondern das mangelnde Verständnis für die Komplexität und Vernetzung des globalen Finanzsystems – und die Hybris der Ökonomen, die sich selbst davon überzeugt hatten, dass das Finanzsystem lediglich ein passiver Vermittler von Geldern sei und daher kein ernsthaftes Risiko für die Realwirtschaft darstellen könne. Sie hatten keine Möglichkeit, die wirtschaftlichen Auswirkungen des Zusammenbruchs einer Bank wie Lehman vorherzusagen. Und in ihrer Arroganz kam ihnen nie in den Sinn, dass sie dies vielleicht tun müssten.

Die Behauptung, dass eine Senkung der Leitzinsen auf ein Minimum vor dem Lehman-Crash dessen Auswirkungen gemildert hätte, ist eine seltsame Art von „post hoc ergo propter hoc”-Argumentation: Da die Fed die Zinsen nach der Krise auf nahezu null gesenkt hat, wäre die Krise nicht eingetreten, wenn sie dies früher getan hätte. Dies verkennt sowohl die Natur der Krise als auch den Zweck der danach erfolgten Zinssenkungen.

Die Lehman-Krise war keine Rezession, die durch eine unzureichende Nachfrage aufgrund übermäßig hoher Zinsen verursacht wurde. Die Zinsen waren nach damaligen Maßstäben bereits sehr niedrig. Vielmehr handelte es sich um einen plötzlichen Marktstillstand, vergleichbar mit einem Herzinfarkt, der die Liquidität, auf die Banken und andere Finanzinstitute für ihre Finanzierung angewiesen waren, rapide versiegen ließ und einen Dominoeffekt auslöste. Die sofortige Reaktion der Fed bestand in umfangreichen Liquiditätsspritzen, um die Funktionsfähigkeit der Finanzmärkte und Zahlungssysteme aufrechtzuerhalten und die Insolvenz solventer Banken zu verhindern.

Die längerfristige Maßnahme bestand darin, die Wirtschaft mit extrem niedrigen Zinsen und quantitativer Lockerung (QE) zu stützen, während Banken, Unternehmen, Haushalte und in Europa auch Regierungen ihre übermäßig verschuldeten und risikoreichen Bilanzen sanierten. Eine Senkung der Zinsen auf ein Minimum vor der Krise hätte also weder die Krise noch die anschließende Rezession verhindert.

Hätte die Fed die Zinsen bis zum Sommer 2008 weiter senken sollen? Dafür gab es vielleicht gute Gründe. Das BIP sank im Sommer 2008 rapide, angetrieben durch den katastrophalen Zusammenbruch der Subprime-Hypotheken. Und im August 2008, als der US-Immobilienmarkt kollabierte, wurden die riesigen staatlich geförderten Hypothekenverbriefungsgesellschaften Fannie Mae und Freddie Mac zahlungsunfähig und unter staatliche Aufsicht gestellt.

Historisch gesehen war ein Leitzins von 2% jedoch sehr niedrig. Und im Sommer 2008 gab es eine beunruhigende Entwicklung. Die CPI-Inflation, die bereits über dem Zielwert des FOMC von 2% lag, begann rapide anzusteigen.

Die Rolle der Rohstoffpreise

Auf der FOMC-Sitzung im Juni 2008 äußerten die Mitglieder ihre Besorgnis über den Inflationsdruck:

„Die Teilnehmer waren besorgt über die inflationären Folgen der jüngsten Preissteigerungen bei Energie, Lebensmitteln und Importen und rechneten mit einem Anstieg der Gesamtinflation in naher Zukunft. Die Kerninflation war jedoch in letzter Zeit stabil geblieben, und die Teilnehmer gingen davon aus, dass eine Stabilisierung der Energiepreise und die Flaute auf den Arbeits- und Produktmärkten im Laufe der Zeit zu einer Abschwächung des Inflationsdrucks beitragen würden.“

Diese Grafik zeigt, worüber sie sich Sorgen machten:

Quelle: IWF

Die Rohstoffpreise waren seit Jahresbeginn stark gestiegen. Im Juni lagen sie weit über ihrem Niveau von 2007. Dies schlug sich in den Verbraucherpreisen nieder, insbesondere für Strom und Lebensmittel.

Und es sollte noch schlimmer kommen. Entgegen den Erwartungen des FOMC gingen die Strompreise nicht zurück, sondern stiegen im Juni und Juli aufgrund massiver Anstiege bei den Spotpreisen für Öl und Erdgas sprunghaft an:

Quelle: State of the Markets 2008, FERC

So erreichte etwa der Spotpreis für Erdgas im Juli 45 Dollar/MWh und lag damit weit über dem durchschnittlichen Handelspreis der letzten vier Jahre:

Quelle: State of the Markets 2008, FERC

Im August befürchteten die Mitglieder des Offenmarktausschusses trotz Anzeichen für eine Stabilisierung der Rohstoffpreise, dass die Inflation anhalten könnte:

Die Teilnehmer äußerten erhebliche Bedenken hinsichtlich der Aufwärtsrisiken für die Inflation, insbesondere hinsichtlich des Risikos, dass eine anhaltend hohe Gesamtinflation zu einer Entkopplung der langfristigen Inflationserwartungen führen könnte. Einige waren der Ansicht, dass die Aufwärtsrisiken für die Inflation zwischen den Sitzungen leicht zurückgegangen seien, was hauptsächlich auf den Rückgang der Preise für Öl und einige andere Rohstoffe sowie auf die größere Wahrscheinlichkeit einer anhaltenden Konjunkturschwäche zurückzuführen sei…

Angesichts der sich rapide verschlechternden Konjunkturaussichten wäre es vernünftig gewesen, mit einer Abschwächung der Inflation zu rechnen. Das Problem bei Preissteigerungen für lebenswichtige Rohstoffe ist jedoch, dass sie selbst in einer Rezession inflationär wirken können, da die Menschen ihre frei verfügbaren Ausgaben kürzen, um die Ausgaben für diese lebenswichtigen Güter trotz steigender Preise aufrechtzuerhalten. Einige FOMC-Mitglieder zeigten sich daher ausgesprochen hawkisch:

Andere hingegen sahen diese Risiken als gestiegen an, insbesondere angesichts der anhaltend hohen Gesamtinflationsraten, des niedrigen Niveaus des realen Leitzinses, vereinzelter Hinweise darauf, dass es Unternehmen besser gelang, höhere Kosten an ihre Kunden weiterzugeben, sowie einiger Anzeichen für einen Aufwärtstrend in den letzten Monaten bei den Erwartungen der Anleger und der Unsicherheit hinsichtlich der Inflation auf längere Sicht; darüber hinaus könnte sich der jüngste Rückgang der Energiepreise in den kommenden Monaten durchaus umkehren. Eine Reihe von Teilnehmern äußerte sich besorgt darüber, dass sich die Kerninflation im nächsten Jahr möglicherweise nicht abschwächen würde, wenn die Geldpolitik nicht früher als derzeit von den Finanzmärkten erwartet gestrafft würde.

Daher beschloss das FOMC sowohl im Juni als auch im August, die Zinssätze bei 2% zu belassen – allerdings sprach sich jedes Mal ein Mitglied für eine Zinserhöhung aus. Niemand stimmte für eine Zinssenkung.

Die Tatsache, dass das FOMC als Reaktion auf den Rohstoffpreisanstieg in der ersten Hälfte des Jahres 2008 eine Zinserhöhung in Betracht zog, obwohl wir heute wissen, dass sich die US-Wirtschaft bereits in einer Rezession befand, sollte uns zu denken geben. Der gleiche Ansatz kam 2011 zum Tragen, als die Europäische Zentralbank in Reaktion auf den Inflationsdruck, der durch den durch die quantitative Lockerung verursachten Rohstoffpreisanstieg entstand, zweimal die Zinsen erhöhte. Die EZB räumte später ein, dass diese Entscheidungen, obwohl sie schnell rückgängig gemacht wurden, zur Auslösung der Staatsschuldenkrise 2012 im Euroraum beigetragen haben.

Als jedoch 2022 der Krieg in der Ukraine nach der Covid-Pandemie zu einem Anstieg der Rohstoffpreise führte, hielten die Zentralbanken zunächst die Zinsen in der Hoffnung auf eine Abschwächung des Anstiegs unverändert, erhöhten sie dann aber rasch, als der Anstieg bereits nachließ:

Quelle: EIA
Quelle: Reuters

Die verspätete Reaktion der Zentralbanken scheint nun dazu geführt zu haben, dass die Inflation nach Ende der Covid-Pandemie anhaltend hoch bleibt. Etwa ein Jahrzehnt mit Nullzinsen und weitgehend ausbleibender Inflation hat offenbar dafür gesorgt, dass die Zentralbanken bei der Anhebung der Zinssätze übermäßig langsam und gegenüber der Inflation viel zu gleichgültig geworden sind. Vielleicht haben sie eine Form der Hybris durch eine andere ersetzt?

Die Weisheit des FOMC

Die FOMC-Sitzung im September 2008 fand wie erwähnt nur einen Tag nach der Lehman-Katastrophe statt. Das FOMC war nicht der Ansicht, dass die Turbulenzen an den Märkten eine politische Reaktion rechtfertigten, und die Indikatoren, anhand derer es die Konjunkturaussichten bewertete, stammten aus der Zeit vor dem Lehman-Kollaps. Diese Sitzung gibt uns also einen letzten Einblick in den Entscheidungsprozess des FOMC, wie er verlaufen wäre, wenn die Lehman-Katastrophe nie stattgefunden hätte.

Aus dem Protokoll geht hervor, dass sich die US-Wirtschaft im Monat vor der Lehman-Pleite deutlich abgeschwächt hatte und die Arbeitslosigkeit gestiegen war. Der Anstieg der Rohstoffpreise, der im Sommer zu einer höheren Inflation geführt hatte, war abgeklungen, und die Energiepreise waren wieder auf das (damals) normale Niveau zurückgekehrt. Das FOMC war jedoch weiterhin besorgt, dass die Inflation anhalten könnte:

Die Teilnehmer stellten fest, dass die jüngsten Werte für die Kern- und Gesamtinflation erhöht waren, und äußerten die Befürchtung, dass sich eine hohe Inflation in den Erwartungen verankern und eine beträchtliche Dynamik beibehalten könnte.

Angesichts der sich verschlechternden Wachstumsaussichten, der Einschätzung, dass die Inflation weiterhin ein Risiko darstelle, und des bereits niedrigen Leitzinses von 2% kam das FOMC zu dem Schluss, dass es richtig sei, nichts zu unternehmen:

Angesichts erheblicher Abwärtsrisiken für das Wachstum und anhaltender Aufwärtsrisiken für die Inflation kamen die Mitglieder zu dem Schluss, dass eine Beibehaltung des Leitzinses zum jetzigen Zeitpunkt die Risiken für die Aussichten angemessen ausgleiche.

Es wurde auch darauf hingewiesen, dass die Zinssätze in naher Zukunft möglicherweise angehoben werden müssten:

Tatsächlich wurde festgestellt, dass angesichts der weiterhin hohen Inflation und der für das nächste Jahr erwarteten Wachstumsbeschleunigung bei nachlassenden finanziellen Belastungen der Ausschuss auch weiterhin bereit sein sollte, die im vergangenen Jahr eingeleitete geldpolitische Lockerung rechtzeitig umzukehren.

Innerhalb eines Monats sah sich das FOMC natürlich gezwungen, seine Entscheidung zu revidieren. In einer Dringlichkeitssitzung am 8. Oktober senkte es den Leitzins auf 1,5% und bei der planmäßigen FOMC-Sitzung vom 28. bis 29. Oktober erneut auf 1%. Die letzte Senkung auf null bis 25 Basispunkte erfolgte im Dezember 2008. Der Rest ist, wie man so schön sagt, Geschichte.

Vielleicht hätte das FOMC die Zinsen früher auf null senken sollen: Bei der planmäßigen Sitzung im Oktober wurde diskutiert, ob eine Senkung um 50 Basispunkte ausreichen würde. Aber ein FOMC, das klug – oder sachkundig– genug gewesen wäre, die Zinsen vor dem Lehman-Kollaps oder bevor dessen Auswirkungen offensichtlich wurden, auf dieses beispiellose Niveau zu senken, wäre auch ein FOMC gewesen, das klug genug gewesen wäre, Lehman Brothers nicht Pleite gehen zu lassen.

Allerdings war Lehman Brothers bei weitem nicht die einzige Bank in Schwierigkeiten. Selbst ohne die Lehman-Insolvenz wären weitreichende Rettungsmaßnahmen unvermeidlich und der schmerzhafte Prozess der Bilanzsanierung wäre dennoch notwendig gewesen. Auch wenn eine klügere Zentralbank Lehman Brothers vielleicht hätte retten können, hätte sie dennoch die Zinsen auf ein Minimum senken und die Wirtschaft mit quantitativer Lockerung stützen müssen.

Natürlich hätten wirklich kluge Zentralbanken die Blasenbildung von vornherein verhindert. Aber im Nachhinein ist man immer schlauer.

 

Zur Autorin:

Frances Coppola arbeitete 17 Jahre lang als Analystin und Projektmanagerin für verschiedene Banken. Mittlerweile ist sie eine renommierte Kolumnistin in zahlreichen internationalen Zeitungen, darunter die Financial Times und der Economist. Außerdem bloggt sie auf Coppola Comment, wo dieser Beitrag zuerst in englischer Sprache erschienen ist.