Regulierung

Es ist Zeit für eine unabhängige europäische Digitalbehörde

Die EU hat der Kommission starke digitale Durchsetzungsrechte gegeben. Nun braucht es aber einen neuen institutionellen Rahmen – denn die Kommission kann nicht politisches Gremium und glaubwürdige Regulierungsbehörde zugleich sein. Ein Beitrag von Mario Mariniello.

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In den letzten Jahren wurden in der Europäischen Union wichtige Rechtsvorschriften erlassen, die die Rolle der EU-Kommission als digitale Vollstreckungsbehörde gestärkt haben. Dazu zählen der Digital Markets Act (DMA), der Digital Services Act (DSA) und der Artificial Intelligence Act (AIA). Gleichzeitig haben diese Vorschriften die USA verärgert, insbesondere unter Präsident Donald Trump. Im August drohte Trump mit Sanktionen gegen EU-Beamte, die den DSA durchsetzen. Zuvor hatte der Vorsitzende der US-amerikanischen Federal Trade Commission die EU-Regulierung mit der Erhebung von Steuern auf amerikanische Unternehmen verglichen.

Die weitreichenden digitalen Durchsetzungsbefugnisse der Kommission machen sie erpressbar: Es wäre überraschend, wenn handelspolitische Überlegungen keinen Einfluss auf die aktuelle und zukünftige Durchsetzung von EU-Vorschriften hätten. Dieser Druck wirkt sich auf jeden Wirtschaftssektor aus. So hatte die Kommission beispielsweise schon 2012 ihre Entscheidung, das EU-Emissionshandelssystem auf Flüge außerhalb der EU auszuweiten, nach Androhungen von handelspolitischen Maßnahmen zurückgenommen.

Die laufenden Untersuchungen der Kommission, ob Apple und Meta die im April 2025 erlassenen DMA-Entscheidungen einhalten, sind potenziell anfällig. Die Kommission muss derzeit auch bewerten, ob X gegen die DSA verstoßen hat. In Zukunft könnte sie unter Druck geraten, weniger Ressourcen für die Eröffnung und Untersuchung neuer Fälle bereitzustellen.

Die „Burning the Bridge”-Strategie

Wie kann sich die Kommission vor potenzieller Erpressung schützen? Die Übertragung der digitalen Durchsetzung an eine unabhängige Stelle würde die Verhandlungsposition der EU gegenüber den USA stärken. In der Spieltheorie wird diese Strategie als „Burning the Bridge“ bezeichnet. Durch die bewusste Einschränkung ihres Handlungsspielraums würde die Kommission eine glaubwürdige Verpflichtung eingehen, dass die EU-Gesetze unabhängig von externem Druck durchgesetzt werden.

Ein neuer institutioneller Rahmen, der die Kommission daran hindern würde, eine mildere Durchsetzung gegen bessere Handelsabkommen einzutauschen, würde die Drohungen der USA wirkungslos machen. Das bedeutet nicht, dass die USA notwendigerweise von Vergeltungsmaßnahmen absehen würden, wenn eine europäische Digitalbehörde Sanktionen gegen ein US-Unternehmen verhängen würde. Allerdings würden Vergeltungsmaßnahmen die Regulierungsbefugnisse der EU nicht beeinträchtigen. Die USA würden nichts dafür zurückbekommen – Vergeltungsmaßnahmen wären nur ein Selbstzweck.

Derzeit besteht außerdem die Gefahr, dass die Kommission die EU-Vorschriften für den digitalen Bereich zu streng durchsetzt. Sie könnte der Versuchung erliegen, ihre Durchsetzungsbefugnisse zu nutzen, um ausländische Wettbewerber unverhältnismäßig zu bestrafen, getrieben von der falschen Annahme, dass dies dazu beitragen würde, die Abhängigkeit der EU von ausländischer Technologie zu verringern. Außerdem könnte sie Ressourcen (inklusive politischem Kapital) von der Untersuchung nationaler Fusionen oder Subventionspolitiken in der EU auf Aktivitäten umleiten, die sich hauptsächlich auf große Technologieunternehmen konzentrieren. Eine unabhängige digitale Behörde wäre als Vollstreckungsbehörde glaubwürdiger, da sie weder den Anreiz noch die Möglichkeit hätte, interne Ressourcen zugunsten einheimischer Akteure umzuleiten. Die Kommission wäre auch weniger anfällig für regulatorische Vereinnahmung.

Darüber hinaus fördert Protektionismus nicht die Wettbewerbsfähigkeit und strategische Autonomie, sondern hat vielmehr den gegenteiligen Effekt. Die unparteiische Anwendung der Vorschriften erhöht die Zuverlässigkeit des Rechtsrahmens und fördert den leistungsorientierten Wettbewerb. Dies trägt dazu bei, Unsicherheiten zu verringern, die ein großes Investitionshindernis darstellen, und fördert Innovationen als besten Weg, um sich gegen ausländische Wettbewerber durchzusetzen.

In den EU-Verträgen wurde die Kommission ursprünglich als technokratisches Gremium eingerichtet, dessen Hauptaugenmerk auf der wirtschaftlichen Integration innerhalb des Binnenmarktes lag. Die Unabhängigkeit von politischer Kontrolle galt als Quelle ihrer Legitimität. Die Kommission ist jedoch nicht mehr nur technokratisch, sondern hat sich zu einer politischen Instanz entwickelt. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen verfolgt strategisch ehrgeizige, politisch brisante Ziele, darunter auch solche im Zusammenhang mit Klima und Technologie, und nutzt Handels- und Verteidigungspolitik, um die geopolitischen Ambitionen der EU voranzutreiben. Als politischer Entscheidungsträger ist die Kommission jedoch wohl kaum als ein wirksamer Marktwächter geeignet. Der institutionelle Rahmen der EU sollte diese Veränderung anerkennen und sich an die neue Rolle der Kommission anpassen.

Die Vorteile überwiegen die Nachteile

Unabhängige europäische Agenturen können ohne Änderung der EU-Verträge eingerichtet werden, sofern ihre Befugnisse klar definiert sind und sie sich auf technische Aufgaben beschränken (ein Grundsatz, der als Meroni-Doktrin bekannt ist). So könnte die Kommission beispielsweise die Befugnis behalten, DMA-Gatekeeper oder sehr große Online-Plattformen zu benennen, die der DSA unterliegen (ein Verfahren, das von den Unternehmen angefochten werden kann und ein gewisses Maß an Ermessensspielraum beinhaltet), während sich die neue Europäische Digitalbehörde auf die Feststellung und Ahndung von Verstößen, die Durchsetzung von Abhilfemaßnahmen, die Überwachung der Umsetzung und die Prüfung von Algorithmen konzentrieren könnte.

Darüber hinaus wirft die Einrichtung unabhängiger Behörden mit erheblicher operativer Autonomie und Aufsichtsbefugnissen, darunter die Europäische Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde und die Behörde für die Bekämpfung von Geldwäsche, die Frage auf, ob die Beschränkungen der Meroni-Doktrin weiterhin relevant sind.

Die Gestaltung von Regulierungsbehörden ist komplex. Es gibt keine institutionelle Struktur, die für alle Fälle geeignet ist. Eine größere Autonomie kann zu einer geringeren Rechenschaftspflicht führen. Darüber hinaus haben eigenständige Behörden, die außerhalb der Kommission angesiedelt sind, nicht denselben Einfluss auf den Gesetzgebungsprozess, was zu einer geringeren Qualität der vorgeschlagenen Vorschriften führen kann. Derzeit sind jedoch der externe Druck und das Risiko, dass die Politisierung der Kommission die Objektivität der EU-Regulierung untergräbt, so groß, dass sie die Nachteile einer Entziehung der digitalen Durchsetzungsbefugnisse der Kommission überwiegen.

 

Zum Autor:

Mario Mariniello ist Non-Resident Fellow beim Thinktank Bruegel, wo dieser Beitrag zuerst in englischer Sprache erschienen ist. Mariniello ist zudem Gastprofessor am Europakolleg in Natolin, Polen, und lehrte zuvor an der Universität Namur, der Université Libre de Bruxelles und der Universität Florenz. Er ist Autor des Buches Digital Economic Policy.