„Nicht vermittelbar"?

Warum die Kritik am Volumen des EU-Haushalts zu kurz greift

Der Vorschlag der EU-Kommission für eine Ausweitung des EU-Haushalts wurde aus Deutschland reflexhaft diskreditiert. Dabei ist die Stimmung in der Bevölkerung deutlich differenzierter als die Bundesregierung offenbar annimmt.

Die Europäische Kommission hat kürzlich ihren Vorschlag für das EU-Budget für die Jahre 2028-34 – den sogenannten Mehrjährigen Finanzrahmen (MFR) – präsentiert. Viele Details sind noch unklar und der Vorschlag markiert vorerst nur den Beginn eines intensiven und langwierigen Verhandlungsprozesses.

Dennoch lassen sich drei deutliche Trends in Bezug auf das Volumen, die Priorisierung der Ausgabenbereiche und die Finanzierungsquellen erkennen: Erstens sieht der Vorschlag ein höheres Gesamtbudget von maximal 1,26% des EU-weiten Bruttonationaleinkommens (BNE) vor – für den laufenden Haushaltszyklus lag es bei 1,12% des BNE. Zur Einordnung dieser Anhebung um 0,14 Prozentpunkte gehört, dass ca. 8% des neuen Budgets in die Tilgung der während der Covid-19-Pandemie für die Aufbau- und Resilienzfazilität (ARF) aufgenommenen Kredite fließen sollen. Damit beliefe sich die reale Vergrößerung des Haushalts gemessen am EU-BNE nur auf ca. 0,04 Prozentpunkte.

Zweitens geht aus dem Vorschlag eine Neuausrichtung der Prioritäten hervor. So sind für Investitionen in die Bereiche Forschung, Dekarbonisierung der Industrie und Verteidigung mehr Mittel vorgesehen, während die Töpfe für Landwirt*innen und Kohäsionspolitik sowie die Gelder für Klima- und Umweltmaßnahmen schrumpfen könnten.

Drittens schlägt die Kommission zur Finanzierung neue EU-Eigenmittel vor und berechnet, dass unter anderem durch Abgaben auf Emissionen, Tabak, Elektroschrott und Umsätze von Großkonzernen, aber auch durch Anpassungen bereits existierender Eigenmittel, jährlich etwa 58 Milliarden Euro – also rund 23% des EU-Budgets – in den Haushalt fließen könnten.

Kaum waren die ersten Details öffentlich, folgte prompt die Kritik aus Berlin. Ein „umfassender Aufwuchs des EU-Haushalts” sei „nicht vermittelbar”, hieß es in einer Erklärung der Bundesregierung. Bundesfinanzminister Lars Klingbeil ergänzte, dass er vieles an dem Vorschlag für nicht zustimmungsfähig halte. Diese Reaktion ist mindestens so kurzssichtig wie erwartbar.

Darauf lassen auch die Daten der Langzeitstudie „Selbstverständlich europäisch!?” schließen, die im siebten Jahr in Folge von der Heinrich-Böll-Stiftung und dem Progressiven Zentrum herausgegeben wurde. Anhand einer jährlich durchgeführten, repräsentativen Online-Erhebung untersucht die Studie, wie die Bevölkerung die Rolle Deutschlands in der EU bewertet und welche Erwartungen sie an die deutsche Europapolitik hat.

Unter anderem liegt ein besonderer Fokus auf der Kosten-Nutzen Abwägung der EU-Mitgliedschaft aus politischer und wirtschaftlicher Sicht, den Prioritäten für zusätzliche Investitionen und einer Bewertung des deutschen Beitrags zum EU-Haushalt. Damit ermöglichen die Daten der Studie einen wertvollen Einblick in die Meinungen der Bürger*innen zu finanzpolitischen Fragen in der EU. Auf dieser Basis lassen sich drei Gründe identifizieren, weshalb die kritische Reaktion der Bundesregierung nicht ratsam ist.

1.

Öffentliche Unterstützung für Zukunftsinvestitionen nicht ignorieren: Auf den ersten Blick unterstützen die Ergebnisse der Studie die Stoßrichtung der Bundesregierung. So hält eine Mehrheit (58,6%) den finanziellen Beitrag Deutschlands zur EU für zu hoch, im Vergleich zu etwa einem Drittel (34,9%), das ihn als angemessen einschätzt und 4,5%, für die er zu niedrig ist. Hinzu kommt, dass für eine knappe relative Mehrheit der Befragten – rein wirtschaftlich gesehen – die Kosten (47,9%) den Nutzen (46,9%) der EU-Mitgliedschaft übersteigen.

Auch wenn sich die Werte diesbezüglich in diesem Jahr etwas stabilisiert haben, lässt sich seit Studienbeginn 2019 beobachten, dass der Anteil derer, die den finanziellen Beitrag für angemessen halten und vom wirtschaftlichen Nutzen überzeugt sind, in der Tendenz kontinuierlich abnimmt.

Doch das ist nur eine Seite der Medaille. Abgesehen von der Tatsache, dass der EU-Binnenmarkt Deutschland jährlich über 1.000 Euro pro Kopf an Wohlstandsgewinnen einbringt, zeigen die Studienergebnisse seit Jahren eine hohe Zustimmung für gemeinsame Investitionen der EU-Mitgliedstaaten. In der aktuellen Befragung befürworten die Befragten mehr Ausgaben in Bereiche wie Verteidigung (52,1%), innere Sicherheit (45,5%), Forschung, Bildung und Innovationen (36,8%) und Wirtschaft (35,5%). Nur 6,4% sehen keinen Bedarf für zusätzliche gemeinsame Investitionen.

Die Ergebnisse zeigen also zum einen, dass das Narrativ, Deutschland sei „Zahlmeister Europas” und würde zum eigenen wirtschaftlichen Nachteil für andere Länder der EU zahlen, eine fest im kollektiven Gedächtnis verankerte Erzählung ist. Es wird zum anderen aber auch deutlich, dass dieser Glaubenssatz primär auf abstrakter Ebene besteht und höhere Ausgaben in Verbindung mit konkreten Zielen befürwortet werden.

2.

Übereinstimmung mit Investitionsprioritäten – aber nicht auf Kosten der Zukunft: Der Aufwuchs des Budgets soll laut den Plänen der Kommission vor allem den Bereichen Wettbewerbsfähigkeit, Sicherheit und Verteidigung sowie Forschung und Innovationen zugutekommen. Wie oben erwähnt, zeigt die diesjährige Umfrage, dass das in erster Linie auch die Bereiche sind, in denen die Befragten mehr gemeinsame Ausgaben befürworten.

Auch bei der Frage nach den wichtigsten europapolitischen Prioritäten für die neue Bundesregierung gehören Sicherheit und Verteidigung (55,3%) sowie eine wettbewerbsfähige Wirtschaft/Industrie (46,1%) zu den drei meistgenannten Antworten. Nebenbei sei bemerkt, dass EU-Investitionen in diesen Bereichen besonders oft an deutsche Standorte fließen. Insbesondere der verstärkte Fokus des MFR-Vorschlags auf Forschung, z.B. durch die Aufstockung des Horizon Europe-Programms, dürfte deshalb zu höheren Rückflüssen nach Deutschland führen. Der Vorschlag der Kommission deckt sich somit weitgehend mit den in der Umfrage geäußerten Prioritäten der Befragten und dürfte nicht nur anschlussfähig, sondern auch in vielerlei Hinsicht vorteilhaft für Deutschland sein.

Klar ist aber auch: Ziele wie Wettbewerbsfähigkeit und Sicherheit dürfen nicht auf Kosten anderer relevanter Politikfelder wie Klima- und Sozialpolitik erreicht werden. Denn diese Politikbereiche bedingen sich gegenseitig und sollten daher nicht gegeneinander ausgespielt, sondern vernetzt gedacht werden. So ist die Bewältigung der Klimakrise der Garant für Europas wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit. Wettbewerb und Innovation brauchen grüne Technologien und können auch nur durch diese sichergestellt werden.

Jüngere Menschen in Ausbildung scheinen dafür aufgeschlossener: 48,7% von ihnen fordern mehr Investitionen in den Klima- und Umweltschutz – in etwa doppelt so viel wie der Durchschnitt aller Befragten. Über die Verteilung der Mittel entscheiden aber vor allem diejenigen, die selbst nicht mehr von den langfristigen Wirkungen ausbleibender Investitionen in Klima- und Sozialpolitik betroffen sind. Entsprechend ist eine adäquate Finanzierung dieser Bereiche – auch im Sinne zukünftiger Generationen – unumgänglich.

Quelle: Heinrich-Böll-Stiftung
3.

Europäisches Handeln erfordert europäische Finanzierung: Die EU steht vor immensen Herausforderungen, deren Bewältigung europäisch gedacht werden muss. Entsprechend sind auch europäische Finanzierungsinstrumente notwendig – und dafür braucht es einen angemessen ausgestatteten EU-Haushalt.

Die Ergebnisse der Umfrage belegen eine unverändert positive Grundhaltung der Bürger*innen gegenüber der deutschen EU-Mitgliedschaft. So überwiegen für eine Mehrheit der Befragten (58,5%) allgemein die Vorteile der EU-Mitgliedschaft. Zudem bestätigen 60%, dass Deutschland seine politischen Ziele eher mit der EU erreichen kann. Wie bereits erwähnt, besteht unter den Befragten eine breite Unterstützung für mehr gemeinsame Investitionen.

Auch beim Thema Verteidigung werden europäische Lösungen gefordert: Als Antwort auf die Frage, wie sich die EU im Bereich Verteidigung entwickeln soll, wünscht sich mehr als die Hälfte der Befragten (56,5%), dass europäische Verteidigung in erster Linie zur gemeinsamen Aufgabe wird. Hier zeigen sich vergleichsweise geringe Unterschiede zwischen West- (58,5%) und Ostdeutschland (48,7%).

Die Bundesregierung hat im Koalitionsvertrag den Anspruch formuliert, in der EU eine starke Führungsrolle übernehmen zu wollen. Etwa zwei Drittel der Befragten (65,3%) bewerten das als eher positiv (26,9%) oder als sehr positiv (38,4%). Eine große Mehrheit der Befragten (68%) wünscht sich in Zukunft auch ein kooperatives Auftreten der Bundesregierung in Brüssel. Entsprechend ist es im Interesse der Bürger*innen, dass Deutschland die Anliegen der anderen EU-Mitgliedstaaten nicht außer Acht lässt und in den Verhandlungen über den MFR eine konstruktiv-kooperative Rolle einnimmt.

Nationalen Reflexen widerstehen

Die Bundesregierung täte daher gut daran, nicht aus nationalem Reflex die Vermittelbarkeit des Vorschlags in Frage zu stellen, sondern die pro-europäische Haltung in der Bevölkerung zu nutzen und daraus für sich einen Vermittlungsauftrag gegenüber der deutschen Öffentlichkeit zu formulieren. Eine ehrliche und evidenzbasierte Debatte über konkrete europäische Lösungsansätze kann mehr Verständnis dafür schaffen, dass hohe Erwartungen an die EU, vor allem in solchen Politikbereichen wie Verteidigung, Wirtschaft und Sicherheit, unweigerlich mit höheren finanziellen Ausgaben verbunden sind. Im Gegenzug sind solche Investitionen wiederum mit positiven wirtschaftlichen Effekten verbunden.

Die von den Befragten auch in vorangegangenen Ausgaben dieser Studie bestätigte Fähigkeit der EU, Krisen zu lösen, erhöht den Finanzbedarf der Union erheblich. Um diese Notwendigkeit in Deutschland zu vermitteln, sollte sich die neue Regierung darauf konzentrieren, die Bürger*innen davon zu überzeugen, dass Deutschland von der EU-Mitgliedschaft wesentlich stärker profitiert, als es finanziell beiträgt.

 

Zu den AutorInnen:

Georg McCutcheon ist Politökonom und als Referent Europäische Union in der Heinrich-Böll-Stiftung tätig.

Maria Skóra arbeitet als Politikberaterin in Berlin und Brüssel und ist Policy Fellow bei Das Progressive Zentrum.