Demografie & Fachkräftemangel

Eine kohärente Migrations- und Flüchtlingsstrategie ist überfällig

Migration wird in Deutschland oft verzerrt und polarisiert diskutiert – dabei ist sie dringend notwendig. Und das Leugnen dieser Realität behindert weiterhin die Entwicklung einer kohärenten nationalen Strategie.

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Migration gehört zu den gesellschaftlich und politisch kontroversesten Themen unserer Zeit. In vielen westlichen Ländern – auch in Deutschland – dominieren dabei negative Narrative die öffentliche Debatte: Migrant:innen und Geflüchtete werden pauschal als Belastung für das Sozialsystem („kommen nur, um staatliche Leistungen auszunutzen“), als Bedrohung für kulturelle Identität („wir fühlen uns im eigenen Land fremd“) oder als Sicherheitsrisiko („kriminelle Migrant:innen“) dargestellt.

Die Folge hiervon ist, dass Migration hochgradig polarisiert diskutiert wird und faktenbasierter Austausch kaum noch stattfindet. Wo Evidenz fehlt, herrschen Ideologie, Angst und Fehlinformation. Das führt zu widersprüchlicher, ineffektiver Politik – und schadet letztlich Deutschlands wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit, innerer Sicherheit, gesellschaftlichem Zusammenhalt und Frieden.

Fachkräftemangel und die Notwendigkeit von Migration

Es ist höchste Zeit, dass wir ehrlich über Migration zu sprechen. Deutschland steht vor einem tiefgreifenden Arbeitskräftemangel – branchenübergreifend und über Qualifikationsniveaus hinweg.
Betroffen sind sowohl Berufe, für die es jahrelange Ausbildung braucht (etwa im Gesundheitswesen, Bau, Maschinenbau oder der IT), als auch Jobs, in die man innerhalb weniger Wochen oder Monate eingearbeitet werden kann (z. B. Reinigung oder Landwirtschaft). Der Grund liegt vor allem im demografischen Wandel, der Deutschland wie auch viele andere Länder betrifft.

Um diesen Herausforderungen zu begegnen, verhandelt die Bundesregierung zunehmend bilaterale Migrations- und Mobilitätspartnerschaften mit Drittstaaten. Ziel dieser Abkommen ist es, legale Zugangswege zu schaffen, um gezielt Arbeitskräfte für Engpassbranchen zu gewinnen, während irreguläre Migration reduziert und Rückführungen vereinfacht und geregelt werden. So sinnvoll dieser Ansatz ist – auch um eine schnellere und erfolgreichere wirtschaftliche und soziale Integration zu unterstützen – in der jetzigen Ausgestaltung ist er unzureichend. Angesichts eines fragmentierten und polarisierten politischen Umfelds mangelt es diesen Abkommen an Weitsicht, Vollständigkeit und Nachhaltigkeit.

Koordination statt Ressortdenken

Die beteiligten Bundes- und Landesministerien sowie nachgeordneten Behörden handeln nicht koordiniert. Es mangelt an einer strategischen Zusammenarbeit, die sicherstellt, dass die unterschiedlichen ministeriellen Perspektiven von wirtschafts- und sicherheitspolitischen Interessen bis hin zu außen- und entwicklungspolitischen Zielen in den Abkommen berücksichtigt werden.
Koordination umfasst zudem den Austausch wichtiger Daten auf Bundes-, Länder-, und kommunaler Ebene. Diese Daten sind unerlässlich, um den aktuellen und zukünftigen Arbeitskräftebedarf sowie Qualifikations- und Sprachanforderungen fundiert zu ermitteln. Darauf aufbauend können umfassende rechtliche Rahmenbedingungen geschaffen werden – etwa flexiblere Visaregelungen im Falle von zirkulärer Migration, die passgenau auf den konkreten Bedarf zugeschnitten sind. Entscheidend ist dabei eine enge Zusammenarbeit mit der deutschen Wirtschaft, um bestehende und künftige Lücken präzise zu identifizieren und reibungslose Übergänge zu ermöglichen.

Ehrliche Verhandlungen mit Partnerländern

Die Interessen der Herkunftsländer müssen ernst genommen werden – etwa im Hinblick auf die Reduzierung von Arbeitslosigkeit, die Ausbildung von Fachkräften für den heimischen Arbeitsmarkt sowie die Förderung von Rücküberweisungen und Investitionen durch Diaspora-Gemeinschaften. Hierfür sind offene, vertrauensvolle und ehrliche Verhandlungen entscheidend. Marokko beispielsweise lehnt eine Zusammenarbeit mit Deutschland im Gesundheitsbereich weitgehend ab – insbesondere wegen des Mangels an Ärzt:innen und Pflegepersonal in marokkanischen Krankenhäusern. Werden solche Aspekte nicht ernsthaft in den Verhandlungen berücksichtigt, leidet die Wirksamkeit und Nachhaltigkeit der Abkommen erheblich.

Kein deutscher Alleingang – EU-Initiativen stärken

Die deutschen bilateralen Aktivitäten sollten komplementär zu europäischen Strategien wirken – etwa den 2021 gestarteten „Talentpartnerschaften“ der EU, die gezielt legale Migrationswege für Fachkräfte aus Drittstaaten eröffnen und damit dem Arbeitskraftmangel im EU-Binnenmarkt begegnen sollen. Gleichzeitig gilt es, nationale Maßnahmen zu vermeiden, die die europäische Zusammenarbeit untergraben. Ein Beispiel sind die wechselseitigen Grenzkontrollen zwischen Polen und Deutschland: Sie binden erhebliche polizeiliche Ressourcen, führen zu Verzögerungen im grenzüberschreitenden Verkehr – und haben bislang trotzdem keinen nennenswerten Einfluss auf die irreguläre Migration.

Potenzial der Geflüchteten im Land besser nutzen

Ein weiterer zentraler Aspekt sollte darin bestehen, dass Arbeitskräftepotenzial der Geflüchteten, die bereits in Deutschland leben, besser zu nutzen. Der sogenannte „Spurwechsel“, also der Wechsel vom Asyl- in das Erwerbsmigrationssystem, funktioniert bislang in der Praxis nur unzureichend und wird insbesondere von populistischen Akteuren als Beleg für politische Fehlsteuerung kritisiert. Dabei zeigen Erfahrungen aus Kanada: Wenn solche Wechseloptionen in ein transparentes, gut strukturiertes System eingebettet sind, können sie einen sinnvollen Beitrag zur Fachkräftesicherung leisten – ohne den humanitären Auftrag aus dem Blick zu verlieren.

Das gesellschaftliche Selbst-Verständnis

Im Gegensatz zu vielen anderen westlichen Staaten wurde in Deutschland das erste umfassende Einwanderungsgesetz (Zuwanderungsgesetz) erst 2005 eingeführt. Seither wurden migrationspolitische Regelungen, wie etwa das Fachkräfteeinwanderungsgesetz (2020, überarbeitet 2023/24), weitgehend punktuell und ohne übergreifende strategische Ausrichtung eingeführt. Das Ergebnis ist eine fragmentierte und in sich teils widersprüchliche Migrationspolitik. Zuständigkeiten für Entscheidungsprozesse und das Migrationsmanagement sind zum einen zwischen Bundesministerien, aber auch über Bundes-, Länder-, und kommunale Ebene verteilt – oft ohne klare Abgrenzung oder effektive Koordination. Die Ausländerbehörden vor Ort sind zudem häufig unterbesetzt, was zu langen Bearbeitungszeiten und erheblichen Verzögerungen führt.

Deutschland liegt im Herzen Europas und grenzt an neun Nachbarstaaten. Umso mehr braucht es Ehrlichkeit darüber, dass Deutschland schon immer ein Einwanderungsland war – und auch zukünftig bleiben wird. Das Leugnen dieser Realität durch viele politische Entscheidungsträger:innen hat die Entwicklung einer kohärenten nationalen Strategie behindert, die Fragen der Identität und Zugehörigkeit in einer sich wandelnden Welt aktiv gestalten könnte. Die mitunter scharfen und von Falschinformationen geprägten Debatten über Migration untergraben den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Deutschland.

Zugleich sorgt der wachsende Einfluss rechtspopulistischer Akteure in der öffentlichen Debatte dafür, dass gerade jene hochqualifizierten Migrant:innen, auf die Deutschland besonders angewiesen ist, darüber nachdenken, das Land zu verlassen – wegen entmutigender Erfahrungen mit Bürokratie und Diskriminierung. Dies mag Teile der Bevölkerung und Politiker:innen, die sich vor „Überfremdung“ oder Ähnlichem fürchten, sogar freuen. Doch wer sich ehrlich um die Zukunft Deutschlands sorgt, muss endlich anerkennen, dass wir Migration brauchen – und zwar in zunehmendem Maße.

 

Zu den AutorInnen:

Jana Kuhnt ist Projektleiterin und Wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung „Transformation politischer (Un-)Ordnung“ des German Institute of Development and Sustainability (IDOS).

Mark Furness ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung „Inter- und transnationale Zusammenarbeit“ des German Institute of Development and Sustainability (IDOS).