Ungleichheit

Die „Lebenserwartungslücke“ ist größer geworden

Die Lebenserwartungslücke zwischen den deutschen Regionen hat sich in den letzten Jahren deutlich vergrößert. Wirksame Gegenmaßnahmen erfordern strukturelle Interventionen statt rein individueller Verhaltensansätze. Ein Beitrag von Stefan Sell.

Im März 2025 fand der mittlerweile 30. Kongress Armut und Gesundheit an der Freien Universität Berlin statt. Der Kongress gilt als die zentrale Public-Health-Veranstaltung in Deutschland. In diesem Jahr stand er unter dem Motto „Gesundheit fördern heißt Demokratie fördern“. Dabei wurden auch neue Daten zur gesundheitlichen Ungleichheit vorgestellt, unter anderem vom Robert Koch-Institut (RKI).

Laut RKI hat sich die Datenlage zur gesundheitlichen Ungleichheit über die letzten Jahrzehnte deutlich verbessert. Während es in den 1990er Jahren zunächst darum gegangen sei, gesundheitliche Ungleichheit mit repräsentativen Daten zu belegen und in Art und Ausmaß zu beschreiben, stellten sich heute stärker Fragen zu ihrer zeitlichen Entwicklung, also ob sich die Ungleichheit verringert oder verstärkt hat.

Ein Schwerpunkt lag auf der zeitlichen Entwicklung der sogenannten „Lebenserwartungslücke“ in Deutschland – mit besonderem Fokus auf regionale Unterschiede. Das RKI betonte, dass auch in einem wohlhabenden Land wie Deutschland die Gesundheits- und Lebenschancen eng mit der sozialen Lage zusammenhängen: „Menschen mit niedrigem sozioökonomischen Status haben höhere Erkrankungsrisiken und versterben im Durchschnitt früher als jene mit hohem sozioökonomischen Status.“

Im Rahmen des Kongresses wurde dazu eine neue RKI-Studie veröffentlicht. Darin untersuchen Jens Hoebel et al. die Unterschiede in der Lebenserwartung zwischen Deutschlands wohlhabendsten und am stärksten sozioökonomisch benachteiligten Regionen. Auch in einem wohlhabenden Land wie Deutschland haben Menschen in benachteiligten Lebensverhältnissen schlechtere Gesundheitschancen und höhere Krankheitsrisiken als Menschen mit besserem sozioökonomischen Status. Diese Ungleichheiten zeigen sich sowohl zwischen Bevölkerungsgruppen – etwa zwischen Menschen mit niedrigem und hohem Einkommen – als auch auf regionaler Ebene.

Für das Bundesgebiet zeigen Daten aus dem Jahr 2019, dass Frauen und Männer mit Wohnsitz im sozioökonomisch am stärksten benachteiligten Fünftel der Regionen ein 33% bzw. 43% höheres Risiko haben, vorzeitig zu versterben, als Gleichaltrige im wohlhabendsten Fünftel der Regionen. Dies spiegelt sich in einer entsprechend kürzeren Lebenserwartung von Frauen und Männern in den benachteiligten Regionen wider.

In der Periode 2020–2022 lag die Lebenserwartung in den am stärksten deprivierten Regionen für Frauen um 4,3 Jahre und für Männer um 7,2 Jahre niedriger als in den am wenigsten deprivierten Regionen. Zum Vergleich: In der Periode 2003–2005 betrug diese Lücke noch 2,6 bzw. 5,7 Jahre. Die Ausweitung der Lebenserwartungslücke resultiert aus einer ungünstigeren Entwicklung der Lebenserwartung in den am stärksten deprivierten Regionen. Sie bestand bereits vor und verstärkte sich während der COVID-19-Pandemie.

Die vorliegenden Ergebnisse bestätigen Befunde, nach denen sich die gesundheitliche Ungleichheit in Deutschland in den letzten Jahrzehnten verstärkt hat und die Gesundheits- und Lebenschancen zwischen den sozioökonomisch benachteiligten und wohlhabenden Regionen zunehmend auseinanderklaffen.

Nicht nur innerhalb von Deutschland ist die „Lebenserwartungslücke“ größer geworden – auch ein Vergleich mit anderen westeuropäischen Staaten bestätigt diese Entwicklung. Das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung berichtet unter der Überschrift Deutschland fällt bei Lebenserwartung in Westeuropa weiter zurück: »Deutschland gehört in Westeuropa zu den Schlusslichtern bei der Lebenserwartung und verliert weiter an Anschluss … Betrug der Rückstand Deutschlands auf die durchschnittliche Lebenserwartung bei Geburt im restlichen Westeuropa im Jahr 2000 rund 0,7 Jahre, so hat sich der Abstand bis 2022 auf 1,7 Jahre vergrößert.« Der Beginn der 2000er Jahre markiert einen Wendepunkt in der Dynamik der Sterblichkeitsentwicklung in Deutschland. Seitdem ist die Sterblichkeitslücke zwischen Deutschland und den anderen westeuropäischen Ländern relativ stetig angewachsen. Es geht also um die zurückbleibende Dynamik im Vergleich zu anderen westeuropäischen Ländern. Eine ausführliche Darstellung der Sterblichkeitsentwicklung  in Deutschland im internationalen Vergleich findet man in der Studie von Grigoriev et al. (2024).

Was tun?

Die Frage bleibt: Was kann – und sollte – getan werden? „Maßnahmen, die vornehmlich auf das individuelle Verhalten abzielen und z. B. auf Informationsangebote oder Anreize zu gesundheitsförderlichem Verhalten setzen, dürften allein nicht geeignet sein, gesundheitliche Ungleichheiten nachhaltig zu verringern“, so Hoebel et al. (2025). Denn solche Maßnahmen erzielten in sozial benachteiligten Gruppen in der Regel keine oder nur kurzfristige Wirkung. Auch Präventionsangebote des Gesundheitssystems wie Früherkennungsuntersuchungen oder Bonusprogramme der gesetzlichen Krankenkassen würden eher Angehörige sozial bessergestellter Gruppen ansprechen und von diesen stärker in Anspruch genommen. „Damit laufen solche Maßnahmen Gefahr, gesundheitliche Ungleichheiten zu verstärken statt sie zu verringern“, so die Studienautoren.

Insofern müsste man die Interventionsebene wechseln. Denn wirksamer zur Verringerung der gesundheitlichen Ungleichheiten seien laut den Autoren Maßnahmen, die auf strukturelle Veränderungen abzielen: „Neben gesetzlichen Rahmenbedingungen wie Regelungen zum Arbeits-, Verbraucher-, Umwelt- und Gesundheitsschutz, können dies zum Beispiel Setting- und Community-basierte Interventionen der Gesundheitsförderung und Prävention vor Ort oder auch fiskal- und sozialpolitische Maßnahmen auf gesellschaftlicher Ebene sein.“

Als ein empirisches Beispiel mit Bezug zu regionalen Gesundheitsungleichheiten in Deutschland werden von den Autoren die Erhöhungen von Sozialleistungen infolge der deutschen Wiedervereinigung genannt. Denn diese waren insbesondere in den sozioökonomisch schlechter gestellten Regionen im Osten Deutschlands mit Anstiegen der Lebenserwartung verbunden.

Dies wird etwa durch eine Studie von Julija Simpson et al. (2024) belegt, die untersucht hatte, ob Veränderungen innerhalb der Regionen bei den unterstellten Schlüsselfaktoren (Ausgaben für soziale Sicherheit, Verbesserungen im Gesundheitswesen, Veränderungen beim Alkoholkonsum und Lebenszufriedenheit) unterschiedliche Auswirkungen auf die Lebenserwartung bei der Geburt und im Alter von 65 Jahren gehabt haben. Eines der Ergebnisse: Für jede 10prozentige Erhöhung der Sozialversicherungsleistungen stieg die Lebenserwartung bei der Geburt in Ostdeutschland im Vergleich zu Westdeutschland um zusätzliche 1,05 Monate für Männer und um 0,57 Monate für Frauen. Daraus zogen Simpson et al. den Schluss, „dass eine Erhöhung der Sozialversicherungsausgaben ein wirksames politisches Instrument zur Verringerung gesundheitlicher Ungleichheiten in Regionen mit unterschiedlichem wirtschaftlichem Entwicklungsstand sein könnte“.

Interventionen, die wirksame Maßnahmen auf mehreren Ebenen miteinander kombinieren (Gesellschaft, Community, Individuum), können für die Verringerung der gesundheitlichen Ungleichheit besonders vielversprechend sein. Aber: „Komplexe Mehrebeneninterventionen zur Verringerung der gesundheitlichen Ungleichheit stehen in Deutschland bislang noch aus.“ Möglicherweise kann man aus anderen Ländern lernen: Im Vereinigten Königreich oder Norwegen wurden bereits nationale Aktionsprogramme zur Verringerung der gesundheitlichen Ungleichheit entwickelt und implementiert, durchaus mit Erfolg.

Letztendlich werden wir auch hier wieder mit einem grundsätzlichen Dilemma der Gesundheitspolitik konfrontiert: Interventionen auf der Ebene der Individuen, vor allem, wenn sie Verhaltensänderungen adressieren, scheitern nicht selten an der Widerständigkeit der Einzelnen, eine dauerhafte Verhaltensänderung auch zu realisieren oder diese realisieren zu können. Auf der anderen Ebene hingegen, also bei der Intervention und Gestaltung der Verhältnisse, handelt es sich um oftmals unwahrscheinlich zu realisierende Voraussetzungen wie eine „umfassenden und politikfeldübergreifenden Handlungsstrategie“, die man entwickeln müsste.

Auch Hoebel et al. (2025) formulieren Anforderungen, die sich leichter schreiben als realisieren lassen: „Zudem sollten nicht nur viele politische Ressorts beteiligt sein, sondern eine Vielzahl von Akteurinnen und Akteuren aus Wissenschaft, Praxis, Politik und Zivilgesellschaft. Menschen aus sozial benachteiligten Gruppen sollten ebenfalls aktiv beteiligt werden, um ihre Belange und Perspektiven einzubeziehen und wirksame Maßnahmen entwickeln zu können.“

Hoffentlich stirbt die Hoffnung in diesem Fall wirklich zuletzt.

 

Zum Autor:

Stefan Sell ist Professor für Volkswirtschaftslehre, Sozialpolitik und Sozialwissenschaften an der Hochschule Koblenz. Außerdem betreibt Sell den Blog Aktuelle Sozialpolitik.