Seit den 1970er Jahren hat sich die politische Linke in den westlichen Demokratien unwiderruflich verändert. Vor 50 Jahren hatten fast alle Länder eine dominante linke Partei, die sich auf soziale Absicherung und eine moderate wirtschaftliche Umverteilung zugunsten der weniger Begünstigten konzentrierte. Diese Parteien traten typischerweise unter den Bezeichnungen sozialdemokratisch, sozialistisch oder Arbeiterpartei an. Heute hingegen ist die alte Familie der sozialdemokratischen Parteien nur noch eine von mehreren politischen Strömungen, die versuchen, den Risiken und Ungleichheiten entgegenzuwirken, die durch kapitalistische Marktwirtschaften generiert werden.
Innerhalb des – insgesamt recht stabilen – linken Parteienspektrums, das Umverteilungsanliegen aufgreift, wurde die Sozialdemokratie durch links-grüne ökologische und libertäre Parteien sowie durch radikal-linke sozialistische Parteien ergänzt und teilweise verdrängt. Auch in der politischen Mitte sind neue Alternativen entstanden, und viele etablierte, gemäßigt konservative Parteien haben sich strategisch neu positioniert, um Wähleranteile aus dem Mitte-links-Spektrum zu gewinnen. Gleichzeitig hat sich eine radikale Rechte etabliert, die mit nationalistischen und gesellschaftlich traditionalistischen Positionen versucht, auch ökonomisch links stehende Wähler und Wählerinnen anzusprechen.
Jenseits der Sozialdemokratie
In einem neuen Sammelband (kostenloser Zugang hier) argumentieren wir, dass die Wahlniederlangen sozialdemokratischer Parteien nicht einfach darauf zurückzuführen sind, dass sie ihre einst loyale Wählerschaft aus der Arbeiterklasse aufgegeben hätten. Vielmehr sind diese Wählergruppen im Zuge struktureller ökonomischer Veränderungen geschrumpft, wodurch es schwieriger wurde, stabile Wählerbindungen aufrechtzuerhalten.
Gleichzeitig entstanden und wuchsen völlig neue Berufsgruppen, die – ähnlich der alten Arbeiterklasse – den ungezügelten Kapitalismus entschieden ablehnen. Allerdings formulieren diese Gruppen auch eigene Anliegen, die denen der Arbeiterbewegung aus der Blütezeit der Sozialdemokratie im 20. Jahrhundert fremd sind. Diese unterschiedlichen Ansprüche sind in vier grundlegenden politökonomischen und gesellschaftlichen Herausforderungen verwurzelt:
Der technologische Wandel und sich herausbildendende Wissensgesellschaften erfordern, angefacht durch die Globalisierung, beispiellose Investitionen in Bildung, berufliche Qualifikationen und lebenslanges Lernen.
Der demografische Wandel setzt die umlagefinanzierten Sozialsysteme unter enormen fiskalischen Druck.
Veränderte Geschlechterverhältnisse und Familienstrukturen haben neue soziale Risiken geschaffen.
Die durch fossile Brennstoffe verursachte Klimakatastrophe erzwingt eine fundamentale Neuorientierung der Wirtschaft und harte Verteilungsentscheidungen.
Die Sozialdemokratie des 20. Jahrhunderts ist auf keine dieser strukturellen Herausforderungen ausreichend vorbereitet. Zudem bergen unterschiedliche politische Strategien zur Bewältigung dieser Probleme das Risiko, alte und neue Wählergruppen zu spalten: Auch wenn diese sich mit Blick auf die Grundwerte Gleichheit, Chancen und Solidarität einig sein mögen, definieren und priorisieren sie diese Werte angesichts neuer Herausforderungen doch sehr unterschiedlich.
Schrumpfende Wählerbasis
Aus diesem Framework ergeben sich drei zentrale Schlussfolgerungen. Die erste laut, dass die Sozialdemokratie bei mehreren soziodemografischen Wählergruppen verliert, die sich nun anderen parteipolitischen Alternativen zuwenden. Entgegen der behaupteten massiven Verluste unter den Arbeiterklassen an die radikale Rechte stellen wir vielmehr fest, dass die Hauptverschiebungen weg von den sozialdemokratischen Parteien unter den höher gebildeten und jüngeren Wählern stattgefunden haben, vor allem zu Parteien der politischen Mitte und der ökologischen Linken. Weit weniger Wählerstimmen sind zur radikalen sozialistischen Linken gewechselt und noch weniger sind bei der radikalen populistischen Rechten gelandet.
Die Studien in unserem Buch dokumentieren diese Entwicklungen empirisch und kommen zu konsistenten Ergebnissen, obwohl sie sehr unterschiedliche Datenquellen analysieren. Dazu gehören etwa die Verwendung aggregierter regionaler Daten zur Untersuchung der geografischen Veränderungen der linken Wählerschaft, Wählerwanderungsdaten hin zur und weg von der Sozialdemokratie, Daten zur Wahlneigung und Wahlwahrscheinlichkeiten, die massive Überschneidungen mit grünen und zentristischen Parteien aufzeigen, langfristige Paneldaten zur Unterstützung der Sozialdemokratie entlang des Lebenslauf der Wählerschaft, sowie Belege für die zunehmende Brüchigkeit der intergenerationalen Kontinuität der sozialdemokratischen Parteisozialisation.
Programmatische Neuausrichtung
Die zweite Folgerung lautet, dass die beobachtete Fragmentierung der Linken eine programmatische Neuausrichtung ist – und keine unstrukturierte Volatilität oder ein kurzfristiges, kandidaten- oder themenorientiertes Wahlverhalten. Wähler und Wählerinnen, die sich von der Sozialdemokratie abwenden, laufen zu Parteien über, die ihren Präferenzen präziser und markanter entsprechen.
Programmatisch motivierte Wahlentscheidungen sind weiterhin sehr häufig, doch das Wahlpotenzial des linken Spektrums verteilt sich auf mehrere Parteien. Zwar ist die Sozialdemokratie immer noch stark an die Gewerkschaften angebunden. Aber sie verliert ihre dominante Position als deren parteipolitischer Verbündeter, und andere linke Parteien gewinnen bei den gewerkschaftlich organisierten Wählern an Zugkraft. Unter den Wählern und Wählerinnen, die in Erwägung ziehen würden, eine sozialdemokratische Partei zu wählen, finden die Strategien der radikalen Linken und der neuen (grünen) Linken die größte Resonanz. Mitte-Links-Strategien finden weniger Unterstützung, und linksnationalistisch-xenophobe Appelle sind bei potenziellen Wählern und Wählerinnen linker Parteien am unbeliebtesten.
Trade-offs
Die dritte Implikation ist, dass sozialdemokratische Parteien mit unterschiedlichen Zielkonflikten oder Trade-offs konfrontiert sind, je nachdem, wie sie auf ihre Herausforderungen und Wettbewerber reagieren. Jede Strategie kann zusätzliche Wähleranteile gewinnen, während sie andere Wählergruppen abschreckt.
Wir zeigen, dass es kein allgemeingültiges Erfolgsrezept gibt, aber die Erfolgsaussichten der Trade-offs unterschiedlich stark ausgeprägt sind. Eine zentristische Strategie kann beispielsweise kurzfristig für die Sozialdemokraten erfolgreich sein, jedoch radikalere Anhänger verprellen, die zu linksgrünen oder linksradikalen Parteien wechseln. Dennoch könnte es für die Sozialdemokraten Sinn machen, diese bittere Pille zu schlucken, wenn sie glauben, dass dadurch der Gesamtanteil der linken Parteien steigt, selbst wenn ihre eigene Partei Stimmen verliert. Andererseits könnten sie stark an Unterstützung verlieren, wenn sie aus der Regierung heraus eine zentristische Wirtschaftspolitik verfolgen. Dies gilt vor allem für Austeritätspolitik, also z. B. die Kürzung von Sozialleistungen.
Der Weg nach vorn
Die Evidenz in unserem Buch zeigt, dass der Niedergang der Sozialdemokratie nicht durch eine Abkehr von alten linken Strategien zu erklären ist, sondern durch das Auftreten neuer Herausforderungen. Forderungen nach einer Rückkehr zu radikaleren, traditionellen linken Programmen dürften daher wenig erfolgsversprechend sein. Eine nostalgische Linke, die sich an den 1950er und 1960er Jahren orientiert, würde sich in die politische Bedeutungslosigkeit verabschieden, was auch erklärt, warum viele radikal-linke Parteien so klein bleiben.
In Westeuropa werden sozialdemokratische Parteien wohl nie wieder Wahlergebnisse von über 40% erreichen, da die Linke dauerhaft fragmentiert ist. Sie sollten sich daher auf ein klares programmatisches Profil konzentrieren, um als relevante politische Kraft zu bestehen. Daten zur Wählerpräferenz zeigen, dass ein grün-linkes Profil am vielversprechendsten ist, gefolgt von der Rolle als zentristischer Koalitionsvermittler. Die schlechteste Option wäre, das Profil in verschiedenste Richtungen zu verwischen oder ständig die strategische Ausrichtung zu ändern, da so eindeutiger positionierten linken Parteien das Feld überlassen würde.
Zu den Autoren:
Herbert Kitschelt ist George V. Allen Distinguished Professor für Internationale Beziehungen an der Duke University.
Silja Häusermann ist Professorin am Institut für Politikwissenschaft der Universität Zürich.
Hinweise:
Den Sammelband, auf dem dieser Beitrag beruht, finden Sie hier. Eine englischsprachige Version dieses Beitrags ist im LSE-Blog erschienen.