Europa

Wie gut hat die EU-Kommission ihren neuen „Kompass für Wettbewerbsfähigkeit“ eingestellt?

Mit einem neuen Werkzeug will die Kommission eine stärkere Koordination der nationalen Industriepolitiken erreichen. Es zeichnet sich bereits ab, dass es dagegen in einigen Mitgliedstaaten Widerstände geben wird. Eine Analyse von André Wolf.

Im Rahmen ihres „Competitiveness Compass“, der die künftige wirtschaftspolitische Strategie der EU skizziert, hat die Europäische Kommission am gestrigen Mittwoch die Einführung eines „Competitiveness Coordination Tools“ angekündigt. Dieses Instrument soll die nationalen Industriepolitiken der Mitgliedstaaten besser koordinieren, indem gemeinsame Prioritäten definiert werden, die sich eng an EU-weit definierten politischen Zielen orientieren.

Das neue Instrument wird auf dem bestehenden wirtschaftspolitischen Koordinierungsrahmen aufbauen, der durch das Europäische Semester definiert und kürzlich durch die NextGenerationEU-Initiative ergänzt wurde. Unter anderem soll ein zentraler Lenkungsmechanismus für die Allokation von Fördermitteln geschaffen werden. Die Identifikation zu priorisierender Industriesektoren soll auf Grundlage einer von der Kommission entwickelten Methodik erfolgen. Die hierüber verteilten Finanzmittel sollen zumindest teilweise aus dem EU-Haushalt finanziert werden, was den politischen Druck zur Einführung eines dezidierten EU-Wettbewerbsfähigkeitsfonds weiter erhöhen dürfte.

Das neue Koordinierungsinstrument könnte daher, wenn es wie geplant umgesetzt wird, die Rolle der Kommission bei der Gestaltung der Industriepolitik erheblich erweitern. Sie könnte sich von einem Impulsgeber und einer Monitoring-Instanz für Maßnahmen der Mitgliedstaaten zu einer zentralen koordinierenden Kraft entwickeln, die die künftige Strategie der EU für industrielles Wachstum wesentlich prägt. Dies wird potenziell starke Vorbehalte bei einigen Mitgliedstaaten hervorrufen – sowohl bei denjenigen mit hoher Präferenz für politische Autonomie als auch bei denjenigen, die die Rolle des Nettofinanziers einer zentral organisierten Industriepolitik einnehmen würden. Um diese Widerstände zu überwinden, muss die Kommission im weiteren Verfahren die langfristigen Vorteile einer EU-weiten Politikkoordination deutlich machen.

Industriepolitische Koordination ist per se weder gut noch schlecht

Eine Herausforderung bei der Bewertung der EU-weiten Wohlfahrtseffekte von wirtschaftspolitischer Koordination ist die starke interne wirtschaftliche Heterogenität. Die Volkswirtschaften der Mitgliedstaaten unterscheiden sich grundlegend in ihren komparativen Vorteilen und Spezialisierungsmustern auf den Weltmärkten. Und angesichts der Stabilität der räumlichen Agglomeration und der ungleichen Verteilung der natürlichen Ressourcen (insbesondere der Energieressourcen) in der EU ist es unwahrscheinlich, dass sich diese in absehbarer Zeit angleichen werden.

Die wirtschaftswissenschaftliche Literatur liefert keine eindeutigen Hinweise darauf, ob politische Koordination unter diesen Umständen vorteilhaft oder nachteilig ist. Die grundsätzliche Frage ist, was genau unter Koordination zu verstehen ist. Versteht man darunter die einheitliche Umsetzung bestimmter sektorspezifischer Fördermaßnahmen durch die Mitgliedstaaten, so würden die wettbewerbsverzerrenden Effekte unilateraler Politiken auf den Binnenmarkt vermieden und damit die Effizienz der Politik insgesamt erhöht. Dieser „one-size-fits-all“-Ansatz dürfte jedoch mit starken Umverteilungseffekten erkauft werden. Mitgliedstaaten mit geringem inländischen Spezialisierungspotenzial in den geförderten Sektoren würden zu den Verlierern gehören.

Wenn unter Koordination stattdessen die Schaffung eines Rahmens verstanden wird, in dem die Mitgliedstaaten ihre individuellen industriepolitischen Strategien hinsichtlich möglicher Konflikte abstimmen, wäre der Freiheitsgrad, nationale Spezialisierungspotenziale zu entdecken und zu nutzen, wesentlich größer. Dies würde jedoch voraussetzen, dass jeder Mitgliedstaat sorgfältig analysiert, wie sich seine Politik auf die Wettbewerbsfähigkeit der übrigen Mitgliedstaaten und auf die EU-weiten Ziele auswirkt. Bei 27 Mitgliedstaaten wären die Kosten für das interne Politikmanagement in einem solchen Rahmen sehr hoch. Auch wäre die Gefahr von Marktverzerrungen größer, die die Funktionsfähigkeit des Binnenmarktes gefährden und Kapitalströme in der EU fehllenken könnten.

Gemeinschaftliche Infrastrukturentwicklung als Alternative zu sektoraler Industriepolitik

Eine dritte Idee bestünde darin, die Koordination indirekt zu stärken, indem durch gemeinschaftliche Anstrengungen bestehende praktische Hindernisse für die Integration des Binnenmarktes beseitigt werden. So könnte etwa der Ausbau grenzüberschreitender Infrastrukturen für den Austausch von Energie und Daten die Marktintegration erhöhen und damit die Mitgliedstaaten noch stärker motivieren, an gemeinsamen politischen Lösungen zu arbeiten. Dies würde im Idealfall in EU-weite Effizienzgewinne münden und könnte so zusätzliche Ressourcen für Innovationsaktivitäten freisetzen.

Aber selbst gemeinsame Infrastrukturstrategien dürften auf den Widerstand einiger Mitgliedstaaten stoßen. Denn jede Politik, die die Kosten des grenzüberschreitenden Handels senkt, stärkt auch die wirtschaftlichen Agglomerationskräfte – und bedroht so bestehende industrielle Strukturen in peripheren Regionen. Diesen Befürchtungen einfach mit einer stärker auf Umverteilung bedachten Kohäsionspolitik zu begegnen, ist keine nachhaltige Lösung und verschärft die bestehenden Haushaltskonflikte zwischen den Mitgliedstaaten. Es ist deshalb unerlässlich, eine EU-weite Infrastrukturstrategie durch Maßnahmen zu ergänzen, die neue Wachstumsperspektiven für die gesamte EU schaffen.

Um die wettbewerbsverzerrenden Effekte eines sektoralen Ansatzes zu verringern, sollten solche Maßnahmen gezielt Bereiche unterstützen, die langfristig hohe Produktivitätszuwächse erwarten lassen. Dies betrifft vor allem junge Technologien mit dem Potenzial für hohe zukünftige Skalenerträge. Bei ihnen sind räumliche Spezialisierungsmuster innerhalb der EU noch nicht voll entwickelt. Langfristige Effizienzgewinne durch Skaleneffekte dürften daher etwaige räumliche Umverteilungseffekte EU-weiter Förderprogramme überwiegen. Zweitens sollte sich die Förderung auf Aktivitäten konzentrieren, von denen potenziell ein hoher sektorübergreifender Nutzen ausgehen kann, z.B. in Form von Wissenstransfers oder Beiträgen zu gesellschaftlicher Versorgungssicherheit.

Industriecluster für grüne Technologien als Keimzelle für eine neue EU-Industriepolitik

Ein vielversprechender Ansatz für eine gemeinschaftliche Förderung von Zukunftsindustrien wäre die Schaffung eines EU-weiten Netzwerks regionaler Cluster. Die EU hat im Rahmen ihres Net-Zero Industry Acts das Konzept der Net-Zero Acceleration Valleys begründet: Durch die Schaffung passgenauer lokaler Rahmenbedingungen sollen Produktionszentren für grüne Technologien aufgebaut werden, wobei sich Mitgliedsstaaten bei Auswahl und Förderung solcher Regionen abstimmen sollen.

Dieser Rahmen sollte als Grundlage für eine intensivere politische Zusammenarbeit im Clustermanagement genutzt werden, einschließlich einer strategischen Planung regionaler Clusterprofile und der damit verbundenen Infrastrukturbedarfe. So könnten eine EU-weite Infrastrukturstrategie und das Modell der Net-Zero Acceleration Valleys gemeinsam zur Keimzelle einer zukunftsgewandten EU-Industriepolitik werden.

 

Zum Autor:

André Wolf ist Fachbereichsleiter für Technologische Innovation, Infrastruktur und industrielle Entwicklung am Centrum für Europäische Politik (cep) in Berlin.