2024 war ein Jahr mit zahlreichen Wahlen, bei denen fast die Hälfte der Weltbevölkerung zu den Urnen gerufen wurde – und in denen die radikale Rechte vielfach deutliche Zugewinne verzeichnen konnte. In den USA wurde Donald Trump nach einem Wahlkampf, der durch eine Reihe rassistischer, antidemokratischer und gewalttätiger Äußerungen gekennzeichnet war, für eine weitere Amtszeit gewählt. Bei den Wahlen zum EU-Parlament konsolidierte sich die radikale Rechte als wichtiger Akteur in Europa. Und in Österreich holte die FPÖ die meisten Stimmen unter der Führung von Herbert Kickl, der erklärt hatte, er wolle „Volkskanzler“ werden – ein Begriff, der an Hitlers Rhetorik erinnert.
Es ist verlockend, diese Entwicklungen als Beweis für eine zunehmende „Hinwendung der Wähler zur radikalen Rechten“ zu werten. Es gibt jedoch ein Problem mit dieser Art von Analyse: Die politischen Ansichten der Wähler zu Themen wie Einwanderung, ihr Vertrauen in politische Institutionen oder ihr allgemeines politisches Interesse ändern sich, wenn überhaupt, nur langsam. Wie lässt sich dann der rasante Aufstieg rechtsradikaler Parteien wie Vox in Spanien erklären, die von 0,2% der Wählerstimmen im Jahr 2016 auf 15% nur drei Jahre später anwuchsen?
Eine Spirale des Schweigens
Dieses Rätsel versuche ich in meinem kürzlich erschienenen Buch The Normalisation of the Radical Right: A Norms Theory of Political Supply and Demand zu lösen. Ich argumentiere darin, dass ein Großteil des Wachstums der radikalen Rechten in den westlichen Demokratien nicht darauf zurückzuführen ist, dass die Wähler ihre Meinung ändern und rechtsradikal werden. Der Grund sind vielmehr Menschen, die bereits rechtsradikal waren, diese Ansichten aber aus Angst vor sozialen Folgen (Verurteilung, Verlust sozialer Beziehungen oder Klatsch) nicht offen gezeigt haben. Tatsächlich sind viele Personen, die rechtsradikale Parteien im Verborgenen unterstützen – zum Beispiel bei der Stimmabgabe – nicht bereit, diese Ansichten zuzugeben, wenn sie mit anderen interagieren. So entsteht eine Schweigespirale, in der jeder dieser Wähler unterschätzt, wie weit verbreitet seine Ansichten sind, und sich folglich weigert, sie zu äußern.
Die Tatsache, dass rechtsradikale Wähler ihre Ansichten oft verbergen, hat auch wichtige Auswirkungen für die Politik. Politiker können zu der Überzeugung gelangen, dass sie keinen Wahlerfolg haben werden, wenn sie mit einem rechtsradikalen Programm Wahlkampf machen. Folglich können sie es vorziehen, sich Parteien mit anderen Ideologien anzuschließen oder einfach gar nicht antreten. Da somit weniger Politiker zur Auswahl stehen, haben rechtsradikale Parteien am Ende weniger fähige Führungspersönlichkeiten, die nicht einmal in der Lage sind, die Wähler, die rechtsradikale Ansichten haben, zu mobilisieren. Dies ist einer der Gründe, warum die radikale Rechte früher erfolglos war: Nicht, weil Einzelne ihre Ansichten nicht teilten, sondern weil die Politiker, die sie vertraten, nur sehr geringe Erfolgschancen hatten. Es machte also keinen Sinn, für sie zu stimmen, denn das bedeutete, seine Stimme wegzuwerfen.
Normalisierung und Wahlerfolg
Gesellschaftliche Schocks – wie Terroranschläge oder die Flüchtlingskrise 2015/16 – können jedoch einige Wähler vorübergehend dazu ermutigen, rechtsradikale Ansichten öffentlich zu äußern. Geschickte Politiker, die daraus den Schluss ziehen, dass rechtsradikale Ansichten wahrscheinlich weiter verbreitet sind als angenommen, werden oft versuchen, diese Wähler zu mobilisieren, um einen Durchbruch bei Wahlen zu erzielen.
Und wenn ein solcher Durchbruch gelingt, unterstreicht dies noch einmal, dass rechtsradikale Ansichten populärer sind als bisher angenommen. In dem Maße, wie diese Politiker an Boden gewinnen und in politische Institutionen wie Parlamente oder gar Regierungen einziehen, erscheinen ihre Ansichten auch legitimer. Die Folge ist, dass das, was früher als inakzeptabel galt, normalisiert wird und rechtsradikale Wähler, die sich früher schämten, ihre Ansichten zu äußern, sich nun ermutigt fühlen, dies zu tun. Sie sind eher bereit, diese Überzeugungen in Gesprächen zu äußern, an Kundgebungen teilzunehmen oder sich sogar an rechtsextremen Gewalttaten zu beteiligen. Dies ist ein Grund dafür, warum diese Art von Verhalten oft nach Wahlen, bei denen die radikale Rechte besonders gut abschneidet, einen Höhepunkt erreicht.
Wenn man den Aufstieg der radikalen Rechten als einen Prozess der Normalisierung betrachtet, erklärt sich, warum diese Parteien oft „aus dem Nichts“ zu kommen scheinen. Da ihr Wachstum nicht voraussetzt, dass die Wähler in einem langsamen Prozess ihre Ansichten ändern, sondern lediglich widerspiegelt, dass ihre bereits vorhandenen Ansichten akzeptabler werden, kann dieser Prozess sehr schnell vonstattengehen.
Gleichzeitig deutet dies darauf hin, dass rechtsradikale Parteien keine reinen „Protestparteien“ sind, deren Unterstützung so schnell abnimmt wie sie zunimmt. Die Bekämpfung dieses Phänomens erfordert mehr als die Hoffnung, dass der Erfolg dieser Parteien nachlässt. Es bedarf einer bewussten Anstrengung, um die ausgrenzenden Ansichten, die die Wähler näher an die rechtsradikale Ideologie heranführen, in Frage zu stellen. Dies mag zwar ein langsamer und schwieriger Prozess sein, ist aber für die langfristige Wahrung der demokratischen Grundsätze der Integration und Toleranz unerlässlich.
Zum Autor:
Vicente Valentim ist Assistenzprofessor für Politikwissenschaft an der IE University und assoziiertes Mitglied des Nuffield College an der University of Oxford. Kürzlich erschien sein Buch The Normalisation of the Radical Right: A Norms Theory of Political Supply and Demand bei der Oxford University Press. Eine deutsche Ausgabe wird voraussichtlich im Sommer erscheinen.