Während im globalen Maßstab die großen ökologischen Krisen voranschreiten und auf Tipping Points (Kipppunkte) zutreiben, verschärfen sich zugleich die Krisen im sozio-ökonomischen System. Diese sind kaum weniger bedrohlich, aber ihre negativen Effekte unmittelbarer erfahrbar als die der ökologischen Krisen und könnten diese somit in den Hintergrund drängen. Die nie dagewesene Kumulation von fundamentalen Bedrohungen (Megathreats) lässt Zweifel aufkommen, ob und wie noch ein Ausweg gefunden werden kann.
Dass essenzielle ökologische Systeme auf Kipppunkte zutreiben, wird kaum noch bestritten, ebenso wenig, dass dadurch erhebliche, ja unermessliche Kosten im ökonomischen und gesellschaftlichen System entstehen. Im Folgenden wird die umgekehrte Wirkungsrichtung in den Vordergrund gestellt: Welche Kipppunkte können im sozio-ökonomischen System auftreten – und wie wirkt sich das dann auf die Einhaltung von ökologischen Belastungsgrenzen aus? Diese Fragestellung erscheint besonders deshalb relevant, weil drohende sozio-ökonomische Kipppunkte sehr viel früher und mit kurzfristig größerer Intensität auftreten können als ökologische (wie Klimawandel und Artensterben). Zu erwarten ist, dass sozio-ökonomische Kipppunkte in der kurz- und mittelfristig ausgerichteten Politik sehr viel mehr Aufmerksamkeit erhalten – und damit die Wahrscheinlichkeit für das Erreichen ökologischer Tipping Points weiter zunimmt.
Ein einschlägiges Fall-Beispiel ist Deutschland. Hier kann beobachtet werden, wie das Thema „Wachstumsschwäche“ den Klimaschutz und den Artenschutz von der Spitze der politischen Agenda verdrängt. Um diesen Vorgang besser zu verstehen und auch um die Erfolgsaussichten der fleißig formulierten kleinteiligen Reformprogramme zur Behebung der Wachstumsschwäche (Wachstumsinitiative, Wachstumsbeschleunigung, Deutschland-Fonds etc.) besser einordnen zu können, kann ein Überblick über die großen (alten und neuen) sozio-ökonomischen Krisenpotentiale hilfreich sein. Vor diesem Hintergrund kann besser verstanden werden, woher die allgemeine Verunsicherung und Angst kommt, die zunehmend das Wirtschafts- und Gesellschaftsleben nicht nur in Deutschland prägt. Denn die meisten dieser bedrohlichen Trends sind durchaus im Bewusstsein der breiten Öffentlichkeit und verhaltensprägend.
Die große Bedrohung entsteht nicht nur aus jedem einzelnen dieser sozio-ökonomischen Trends, sondern auch dadurch, dass sie auf Punkte bzw. Zustände zutreiben, an denen sich ihr Verhalten disruptiv ändert (Kipppunkte), sie sich gegenseitig beeinflussen und verstärken (systemische Interdependenz) und sie sich zeitgleich mit der Verschärfung von Umwelt-Katastrophen vollziehen, die mit immer höheren Vorsorge- und Reparaturkosten verbunden sind.
Um Panik-Reaktionen zu vermeiden und eine Grundlage rationalen politischen Handelns zu schaffen, ist eine nüchterne, ganzheitliche Bestandsaufnahme unerlässlich. Das ist ein Blick in den Abgrund, den nur die Schwindelfreien tun sollten (z.B. die Vertreter der dismal science). Dann ist die Analyse gefordert, das Erkennen von Zusammenhängen und von Handlungsoptionen. Selbst am Abgrund ist die Lage weder aussichtslos noch ausweglos – aber es empfiehlt sich ein Pfadwechsel.
Die Bedrohungslage: Sozio-ökomische Megathreats
Die großen Bedrohungen der Menschheit bezeichnet Nouriel Roubini als „Megathreats“, die aufgrund ihrer Dimension (scale) und ihrer Dringlichkeit (urgency) ein unermesslich hohes Schadenspotenzial haben. Charakteristika sind Selbstverstärkungsmechanismen, Beschleunigung und die „Ansteckung“ anderer Systeme (Spillover-Effekte), so dass eine Eskalationsspirale (vicious circle) entstehen kann, deren Eigendynamik durch nichts und niemanden mehr zu stoppen ist. Nicht immer münden Megathreats in Kipppunkte – sie können auch zu weniger spektakulärem langfristigem Siechtum und Niedergang führen.
Roubini identifiziert zehn Megathreats. Die Europäische Umweltagentur (EEA) und der US-amerikanische National Intelligence Council erfassen weitere (andere) Großrisiken. Auch die 17 Ziele der Vereinten Nationen für eine nachhaltige Entwicklung (SDGs) können als Aufzählung globaler Megathreats gelesen werden – mit dem Versuch, sie (bis 2030) deutlich zu entschärfen. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit, ohne Gewichtung und ohne Analyse der Interdependenzen ergeben sich dann Listen etwa der folgenden Art (vgl. auch Spangenberg/Kurz 2023):
Bedrohungen aus dem ökonomischen Kernprozess: Regelmäßig wiederkehrende (konjunkturelle) Krisen sind Teil der DNA des Marktsystems und eine permanente Bedrohung. Sie können ihren Ausgangspunkt sowohl im Finanzmarkt (Aktien, Immobilien, Staatsanleihen) als auch in der Realwirtschaft (Nachfrageschwankungen) nehmen. Mit (Massen-)Arbeitslosigkeit und Inflation entfalten sie ihre zerstörerische Dynamik.
Globalisierungskrise: Die Vorteile der internationalen Arbeitsteilung (Effizienz, Vielfalt) gibt es nur um den Preis der (gegenseitigen) Abhängigkeit, d.h. es muss ein höheres Risiko in Kauf genommen werden, dass sich eine Unterbrechung der Lieferketten und Absatzkanäle ergibt. Es drohen daher ständig exogene Schocks, sektorale Engpässe (bottlenecks), die sich global ausbreiten. Pandemie und Ukraine-Krieg verdeutlichen das Gefahrenpotenzial. Die tickende Zeitbombe ist allerdings China und die globalen Folgen einer disruptiven „Entkoppelung“ (z.B. nach einem Angriff auf Taiwan).
Demografie: Ein Rückgang der Bevölkerung bringt ökologische Entlastungseffekte, führt allerdings zu sozio-ökonomischen Belastungen durch Alterung (Alterslastkoeffizient) und zunehmenden Generationenkonflikten („demographic time bomb“).
Bedrohung durch technischen Fortschritt, insbes. die disruptive Wirkung von Künstlicher Intelligenz (KI): Erwartet wird ein Technologiesprung, der einerseits Entlastung und Produktivitätssteigerung bringt, andererseits aber Millionen von Arbeitsplätzen bedroht und Kontrollverlust bedeutet. Im Rüstungswettlauf der Systeme spielt KI eine entscheidende Rolle, deren Entwicklung daher staatlich weiter befeuert werden dürfte.
Heiße und kalte Kriege: Mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine ist am 24. Februar 2022 ist bereits ein Kipppunkt erreicht worden (Zeitenwende): 75 Jahre Frieden in Europa gingen zu Ende. Und der Krieg in der Ukraine ist „nur“ ein Teil der globalen Konfrontation zweier Machtblöcke, die sich um die USA einerseits und um China andererseits gebildet haben – und die beide massiv aufrüsten. Ein Funke, ein Fehler, ein Missverständnis genügt, um die fragile Balance zum Kippen zu bringen.
Ungelöste Verteilungsprobleme: Jahre des Wachstums, der Friedens- und der Globalisierungsdividende sind nicht genutzt worden, um eine gerechtere Gesellschaft einzurichten. Ungleichheit und Armut haben daher unverminderte gesellschaftliche Sprengkraft, wobei die Konfliktlinien und die Bündnisstrukturen unübersichtlicher geworden sind. Zukünftig wird es nicht mehr um die Verteilung von Zuwächsen, sondern um Lastverteilung gehen – und die Lasten werden so groß sein, dass (fast) keine Bevölkerungsschicht ausgenommen werden kann; alle werden die „Zumutungen“ spüren – und dagegen ankämpfen.
Der rettende Staat kollabiert: Angesichts der Megathreats wird allenthalben ein „starker Staat“ gefordert, der aktiv gestaltend eingreift. Mindestanforderungen sind die Verbesserung der öffentlichen Infrastrukturen, der öffentlichen Güter (Zugang zu Bildung, Mobilität, Umweltqualität) und der Erhalt der sozialen Sicherungssysteme. Das soll ein schlanker (digitaler) Staat möglichst ohne Steuererhöhungen (notfalls mit höherer Staatsverschuldung) leisten. Mit einem solchen Anforderungsprofil ist „Staatsversagen“ vorprogrammiert.
System Change: Megathreats erzeugen eine allgemeine, schwer fassbare Unsicherheit und Unzufriedenheit, die nur schwer einzelnen Akteuren oder Gruppen zuordenbar ist (Politiker, Eliten, Kapitalisten). Als sicher gilt: Etwas ist faul mit „dem System“ – es muss grundlegend verändert oder gar abgeschafft werden. Die Soziale Marktwirtschaft und mit ihr die demokratischen Entscheidungsverfahren werden in Zweifel gezogen. Selbst autokratische Regierungsformen erscheinen attraktiv, würden aber faktisch eine Verschärfung der Megathreats mit sich bringen.
All diese (und weitere) Megathreats sind tickende sozio-ökonomische Zeitbomben, die größte öffentliche und politische Aufmerksamkeit verlangen. Gleichzeitig und unaufhaltsam verschärfen sich die ökologischen Katastrophen, von denen jede für sich und erst recht alle in Kombination zu einem „uninhabitable planet“ (Roubini) führen.
Ende des Wachstumszeitalters: Megathreat oder Chance?
Das Wirtschaftswachstum hatte bislang einen zentralen Stellenwert in der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik. Die anhaltende Wachstumsschwäche (nicht nur) in Deutschland könnte das Ende des Wachstumszeitalters einläuten – mit weitreichenden Konsequenzen für alle Bereiche der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik. Je länger die Wachstumsschwäche anhält (in Deutschland seit mehr als fünf Jahren), desto weniger überzeugt die Behauptung, es handele sich nur um ein temporäres, konjunkturelles Problem – und desto größer wird die Wahrscheinlichkeit, dass ein Bruch (Disruption) im langfristigen Trend vorliegt. Die notwendige Konsequenz wäre das Formulieren einer Politik, die davon ausgeht, dass das Wachstumsversprechen nicht mehr eingehalten werden kann.
Weil aber nach wie vor alle Erwartungen auf (Einkommens-)Zuwächse ausgerichtet sind, ist der Übergang in eine Wirtschaft und Gesellschaft ohne Wachstum einer der zentralen Megathreats. Ohne Wachstum scheint auch der Wohlstand und der (sichere, gut bezahlte) Arbeitsplatz bedroht. Mit dieser Wahrnehmung der Mehrheit der Bürger*innen wird ein Rückgang von Produktion und Konsum zur (inakzeptablen) Bedrohung, verbunden mit dem Verlust einer Fortschrittsperspektive und mit Abstiegsangst. Dagegen treten die ökologischen Entlastungseffekte, die notwendige Ergänzung von Effizienz und Substitution (Erneuerbare), in den Hintergrund. Es droht die Verschärfung von Verteilungskonflikten bis hin zu der Frage, ob Demokratie ohne Wachstum (als „social mollifier“) möglich ist.
Tatsächlich gibt es in der Wirtschaftsgeschichte keine Erfahrungen, wie in einer wettbewerbs- und kriegsgetriebenen Weltwirtschaft ein „soft landing“ gelingen könnte. Dabei geht es nicht nur um die seit Jahren laufende Transformation als Strukturwandel der Industrie, sondern um einen fundamentalen Kulturwandel, um ein neues Entwicklungsmodell, das Wohlstand nicht primär aus Steigerung der Konsumgütermengen herleitet; um ein Ende des Über-Konsums und der Über-Produktion und den Übergang von einer imperialen zu einer frugalen Lebensweise.
Perspektiven zwischen Dystopie und Utopie
Nach dem Blick auf diese bedrohlichen Megathreats stellt sich die bange Frage: „how to survive them?“ (Roubini 2022). Auf der Suche nach Antworten kann man leicht in Extreme verfallen. Und tatsächlich: Wie wahrscheinlich ist es, eine kulturelle Revolution, die ein kooperatives, solidarisches, friedfertiges, kommunikatives und kreatives Leitbild hat, innerhalb von wenigen Jahrzehnten umzusetzen? Der (starke) Staat kann jedenfalls nicht der Treiber, sondern nur ein Vehikel sein. Die Schubkraft muss aus der Zivilgesellschaft kommen.
Die allgemeine Sehnsucht nach einem neuen visionären Zukunftsentwurf ist zwar groß, trifft aber noch immer nicht auf überzeugende Angebote. Bei Roubini besteht die „Utopie“ aus dem üblichen Technologieschub (mit Geoengineering, KI, Fusionsenergie etc.) und „high-powered economic growth“ (5-6% p.a.), also einem „rejuvenated Western system“.
Im Angesicht der apokalyptischen Reiter kann es keinen einfachen Survival Guide geben. Unseriös wäre es, einen Steuerungsoptimismus zu nähern, der die Dynamik der Kipp-Prozesse unterschätzt bzw. die politische Gestaltungsmacht überschätzt. Allzu großen Steuerungsoptimismus gilt es zu dämpfen –die Macher- und Retter-Rhetorik hat schon zu viel an Realitäts- und Zumutungsverweigerung erzeugt. Zwischen allzu finsterer Dystopie und (irregeleiteter) Utopie, können einige konkrete Handlungsempfehlungen jedoch hilfreich sein:
- Wachstumserwartungen nicht befeuern, sondern die Korrektur der Erwartungen vorbereiten: Während der Transformation der nächsten 25 Jahre werden die Einkommen (netto) sinken. Es wird darum gehen, Wachstumsunabhängigkeit (Souveränität) zu gewinnen, individuell und im Staat.
- Wirtschaftssicherheit verlangt Entkoppelung (insbesondere von China) und die Stärkung regionaler, also beispielsweise europäischer Wirtschaftskreisläufe. Mehr Sicherheit bedeutet Verzicht auf die Kostenvorteile globaler Lieferketten und wird den inländischen Konsum verteuern und drosseln.
- Äußere Sicherheit: „Nach-Rüstung“ erscheint aufgrund der Bedrohung durch Autokratien und kriminelle Clans, die sich ganzer Staaten bemächtigen, unvermeidlich. Weil wenig Zeit dafür bleibt, werden die Belastungen enorm sein und weit jenseits des in Deutschland dafür vorgesehenen Sondervermögens in Höhe von 100 Milliarden Euro liegen. Auch mit Kreditaufnahme (Notsituation) und Lastverschiebung in die Zukunft wird es zu Eingriffen in Lebensentwürfe kommen. Aus der militärischen wird so eine massive sozio-ökonomische Bedrohung.
- Mit Blick auf die innere Sicherheit muss sich der staatliche Katastrophenschutz auf drei Säulen stützen: Verteilungsgerechtigkeit ist nötig, um die soziale Kohäsion zu stärken. Das Kippen der sozialen Sicherungssysteme muss durch signifikante Reformen etwa bei den Leistungen und Beitragssätzen verhindert werden. Hochwertige Infrastrukturen und öffentliche Güter müssen Wohlstand für alle sein. Unverzichtbare Grundlage ist die Durchsetzung der rechtsstaatlichen Ordnung in allen Bereichen. Wie die äußere so erfordert auch die innere Sicherheit erhöhte Wehrfähigkeit.
- Akteurs-/gruppen-spezifische Aufgaben: In Kenntnis der Megathreats und der gesamtwirtschaftlich notwendigen Vorsorge, ist jede Akteursgruppe (Politik(er), Parteien, Zivilgesellschaftliche Organisation, Kirchen, Wissenschaft) gefordert, ihr Handeln und ihren Vorbereitungsstand zu prüfen. Durch die sozio-ökonomischen Megathreats verschieben sich die Kräfteverhältnisse und die politischen Prioritäten. Es muss gelingen, „Gegenmacht“ gegen die Last-Verschiebung in die Zukunft zu organisieren.
Zusammenfassend lassen sich die zentralen Fragestellungen dieses Beitrags also wie folgt beantworten:
Drohen sozio-ökonomische Kipppunkte? Ja, mehr denn je.
Wächst das Rettende auch (wie Hölderlin glaubte)? Ja, es wächst – aber nicht schnell genug. Die technische und gesellschaftliche Innovation kann nicht Schritt halten mit den Megathreats.
Sind ermutigende gesellschaftspolitische Reaktionen erkennbar? Bislang dominiert die Sehnsucht nach der Rückkehr zu einer alten „Normalität“. Es zeigt sich eher Lähmung als Aufbruch und systematisch vorsorgendes Handeln.
Was kann Hoffnung machen? Auch positive Disruption ist möglich, Lernen und Verhaltensänderung „über Nacht“. Das kann bei Menschen auftreten, aber auch bei Staaten (Zeitenwende). Jedenfalls gibt es in einer freiheitlichen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung viel Innovationspotential auch jenseits von „Technofix“. Gemeinsam mit anderen aktiv bleiben oder werden gibt Hoffnung und hilft auch gegen die Angst.
Zum Autor:
Rudi Kurz war bis 2017 Professor für Volkswirtschaftslehre an der Hochschule Pforzheim. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Innovation, Wirtschaftswachstum, Umweltökonomie und Nachhaltige Entwicklung. Aktuell ist er Sprecher des BUND-Arbeitskreises Wirtschaft und Finanzen.