Economists for Future

Wie es zur neoliberalen Wende in der Steuerpolitik kam – und was jetzt zu tun wäre

Steuern haben Geschichte geschrieben: als Auslöser von Revolutionen, Werkzeug sozialer Reformen und Symbol von Ungerechtigkeit. Können sie in Zeiten wachsender globaler Herausforderungen wieder zum Schlüssel für mehr Gerechtigkeit werden? Ein Beitrag von Marc Buggeln.

Unsere Gesellschaft befindet sich inmitten eines tiefgreifenden Transformationsprozesses. Im Zentrum: die Wirtschaft und die Suche nach Wegen zur Nachhaltigkeit. Die nächsten Jahre werden entscheiden, ob uns dieser Wandel by disaster passiert – oder by design gelingt.

Die Debattenreihe Economists for Future (#econ4future) widmet sich den damit verbundenen ökonomischen Herausforderungen und diskutiert mögliche Lösungsansätze. Die Beiträge analysieren Engführungen in den Wirtschaftswissenschaften und Leerstellen der aktuellen Wirtschaftspolitik. Zugleich werden Orientierungspunkte für ein zukunftsfähiges Wirtschaften aufgezeigt und Impulse für eine plurale Ökonomik diskutiert, in der sich angemessen mit sozial-ökologischen Notwendigkeiten auseinandergesetzt wird.

Die Kooperation zwischen Economists for Future e.V. und Makronom startete mit der ersten Ausgabe 2019. Seitdem ist jährlich eine neue Reihe mit wechselnden Themenschwerpunkten erschienen. Die mittlerweile sechste Staffel beleuchtet nun Aspekte rund um das Thema Überfluss. Hier finden Sie alle Beiträge, die bisher im Rahmen der Serie erschienen sind.

Der Steuerstaat ist eine historisch junge Erscheinung. Er setzte sich im westlichen Europa im 16. Jahrhundert und damit deutlich vor der modernen Demokratie durch. Das frühneuzeitliche Steuersystem verstärkte aber die Ungleichheit, indem es die Reichsten von der Besteuerung ausnahm und insbesondere den Konsum besteuerte. Die Französische Revolution war in großen Teilen ein Aufstand gegen diese Verhältnisse. Zum einen war bekannt geworden, dass der König die Staatseinnahmen in erheblichen Maßen für Luxuskonsum ausgab und zum anderen die Steuern auf den Konsum der einfachen Bevölkerung immer weiter erhöht worden waren. Nach der Revolution wurden deswegen alle indirekten Steuern auf den Konsum sowie alle Steuerbefreiungen für Adel und Klerus abgeschafft. Das Ziel war ein proportionales Steuersystem, in dem jeder einen gleichen Teil seines Einkommens und Vermögens als Steuer abgeben musste.

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zeigte sich jedoch, dass ein proportionales Steuersystem nicht ausreichte, um die mit der Industrialisierung noch stärker auseinandergehende Schere zwischen Armut und Reichtum zu begrenzen. Deswegen gewannen Forderungen nach einem progressiven Steuersystem, in dem Reiche einen größeren Anteil ihres Einkommens an Steuern abgeben mussten als Arme, zunehmend an Gewicht. Es waren anfangs vor allem Stimmen aus der sich organisierenden Arbeiterbewegung, die diese Forderung aufstellten.

Doch als Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts erste progressive Steuern durchgesetzt wurden, befanden sich noch nirgendwo Parteien der Arbeiterbewegung in der Regierung. Stattdessen waren es bürgerliche und adlige Politiker, die progressive Steuergesetze verabschiedeten – mal aus Angst vor einer Revolution, mal aus der Einsicht, dass das Elend in den Städten sozialreformerisch bekämpft werden musste. Mitunter spielten aber auch andere Beweggründe eine Rolle. In Preußen wurde die progressive Einkommensteuer vor allem vom Adel eingeführt, auch weil dieser erkannt hatte, dass sie bürgerliche Unternehmer weit stärker belastete als Agrarier. So waren die monarchistisch-konservativen Bundesstaaten Sachsen und Preußen in Europa Vorreiter bei der Durchsetzung einer progressiven Einkommensteuer, während sie sich in Großbritannien, Frankreich und den USA erst im Vorfeld des Ersten Weltkriegs aufgrund der enorm gestiegenen Rüstungskosten durchsetzen konnte.

Vom Diskurs zur Praxis: die beiden Weltkriege

In den führenden Industrienationen setzte sich bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs vermehrt die Ansicht durch, dass die progressive Einkommensteuer zur Abfederung der sozialen Ungleichheit notwendig war. Allerdings blieb die reale Umverteilungswirkung vorerst überschaubar, da der Spitzensatz überall unter 10% lag. Erst der Krieg führte zur Erhöhung des Spitzensatzes in den USA auf 77% und in Großbritannien auf 60%. In Deutschland setzte Finanzminister Matthias Erzberger kurz nach Kriegsende eine grundlegende Steuerreform in einem Bündnis von Sozialdemokratie, Linksliberalen und katholischen Zentrum durch, die u.a. die Heraufsetzung des Einkommensteuerspitzensatzes auf 60% zur Folge hatte.

Im Zweiten Weltkrieg wurden die Steuersätze abermals erhöht. In den USA und Großbritannien lag der Spitzensatz zu Kriegsende bei über 90%. In den führenden Industrienationen wurde die progressive Einkommensteuer durch progressive Erbschafts- und Vermögensteuern sowie Unternehmenssteuern unterstützt. In der Bundesrepublik lag der Einkommensteuerspitzensatz bei ihrer Gründung aufgrund alliierter Steuererhöhungen auch bei 95%, doch die CDU-geführten Regierungen reduzierten den Satz noch in den 1950er Jahren bis auf 58%. Damit verfügte die Bundesrepublik unter den OECD-Nationen über einen niedrigen Spitzensatz. Nichtsdestotrotz hatte das Steuersystem auch in der Bundesrepublik, ebenso wie in den anderen OECD-Nationen, den Charakter, von oben nach unten umzuverteilen. Diese Politik war vergleichsweise konfliktfrei, weil die hohen Wachstumsraten der 1950er und 1960er Jahre fast allen Bevölkerungsschichten deutliche Einkommenszuwächse bescherten, wobei sowohl die Einkommens- wie die Vermögensungleichheit in den meisten OECD-Nationen abnahm.

Neoliberale Wende

Bis in die 1970er Jahre nahmen sowohl in den USA als auch in der Bundesrepublik Vertreter der keynesianischen Fiscal Policy wichtige Positionen in den Finanzwissenschaften ein. Sie unterstützten die progressive Steuerpolitik und hielten diese auch für geeignet, einen Beitrag zur Bekämpfung von Wirtschaftskrisen zu leisten. Diese Position geriet jedoch mit der Ölkrise 1973 und der sie begleitenden Stagflation in die Defensive. Vertreter neoliberaler Denkschulen gewannen zunehmend die Diskurshoheit. In der Summe liefen neoliberale Steuerpläne auf eine Stärkung der Angebotspolitik und eine Absenkung der Steuerprogression wie der Steuerquote hinaus – eine Politik, von der insbesondere die Besserverdienenden profitieren würden.

Politikmächtig wurden diese Ideen mit den Wahlen von Ronald Reagan und Margaret Thatcher. Beide vertraten offensiv neoliberale Vorstellungen und bemühten sich um deren Umsetzung in der Steuerpolitik. Thatcher wie Reagan begannen kurz nach der Regierungsübernahme mit der Senkung der Spitzensteuersätze. In den USA sank dieser bei der Einkommenssteuer innerhalb von sechs Jahren von 70% auf 28%. Auch in Großbritannien sank der Spitzensteuersatz, der 1975 noch bei 83% gelegen hatte, bis 1990 auf 40%. So verschob sich in beiden Ländern der Anteil der erhobenen Steuern von der redistributiven zur regressiven Seite und die Umverteilungswirkung des Steuersystems ging deutlich zurück.

Auch dadurch bedingt begann in beiden Ländern die soziale Ungleichheit in den 1980er Jahren wieder anzusteigen. Für Großbritannien ergibt eine detaillierte Analyse der Steuerveränderungen unter Thatcher und Major von 1985 bis 1995, dass die egalisierende Wirkung der Steuern durch die Reformen um 28% sank. Es zeigt sich zudem, dass etwa 50% der vom Staat gewährten Steuererleichterungen den reichsten 10% zugutekamen. Für die USA wurde nachgewiesen, dass vor allem das oberste Prozent der Bevölkerung mit den allerhöchsten Einkommen ganz überdurchschnittlich von den Steuerreformen unter Reagan profitiert hat.

Diese Politik setzte sich nicht sofort in allen OECD-Ländern durch, doch langfristig folgten fast alle reichen Staaten dieser neoliberalen Umverteilung der Steuerlast. Während die Steuerquote in vielen Ländern konstant blieb, erfolgte fast immer eine Entlastung von Unternehmen und Spitzenverdienern durch Senkung von Einkommen-, Vermögen- und Unternehmenssteuern. Demgegenüber stieg die Belastung der Faktoren Arbeit und Konsum im Regelfall an.

Ein wichtiges Element, dass zu diesen Steuersenkungen beitrug war, dass die seit den 1970er Jahren scharf ansteigende internationale Steuerhinterziehung in Steueroasen von den Regierungen kaum wirksam bekämpft wurde. Diese erhöhte den Druck auf das progressive Steuersystem deutlich. Erst als auf der Steuerkonferenz der OECD in Berlin im Oktober 2014 der automatische Informationsaustausch zum OECD-Standard gemacht wurde, erschwerten die Regierungen die Steuervermeidung von Privatpersonen deutlich. Laut einer jüngsten Studie führte dies in Dänemark dazu, dass 70% der vormals in Steueroasen versteckten Vermögen in den folgenden Jahren deklariert wurden. Damit haben sich zumindest die Möglichkeiten verbessert, wieder progressivere Steuern zu erheben. Bisher fehlt jedoch oft der Wille, weil die Staatsführungen eher auf die Klagen der Vermögenden hören, die häufig führende Unternehmer des Landes sind.

Globale Steuerfragen

Während das Steuersystem in bereits erprobten Verfahren historisch dazu in der Lage gewesen ist, national die soziale Ungleichheit zu verringern und zu einer gerechteren Gesellschaft beizutragen, und dies bei klar benennbaren Reformschritten auch wieder leisten könnte, hat es für globale Gerechtigkeitsfragen bisher eine geringe Rolle gespielt. Die Entscheidungen über Steuersystem und Regierungsform werden bis heute national getroffen. Globale Ungleichheitsfragen werden vorwiegend über repressive Migrationskontrolle, geregelte und ungeregelte Migrationsprozesse sowie sogenannte „Entwicklungshilfe“ verhandelt und ausagiert.

Durch die zu erwartenden Folgen der Erderwärmung werden sich Fragen der globalen Gerechtigkeit in der nächsten Zeit aber in neuer Dringlichkeit stellen. Die reichen Länder haben mit ihrem Ressourcenverbrauch überproportional zur Erderwärmung beigetragen, während viele ärmere Länder die ersten Leidtragenden sind. Die reichsten 1% mit Privatjets, Superyachten und beheizten Swimmingpools haben zweifelsohne in besonderem Maße zur Misere beigetragen. Aber auch der Ressourcenverbrauch der europäischen Mittelschichten liegt weit über dem, was die Erde vertragen kann.

Angesichts dieser Problematiken haben in den letzten zehn Jahren die Diskussionen um globale Steuergerechtigkeit oder die Einführung von globalen Steuern etwa auf CO2-Verbrauch, Vermögen oder Börsentransaktionen zugenommen. Auch auf EU-Ebene verhandelte man zunehmend über diese Fragen. Dass aber selbst auf EU-Ebene bisher kaum Einigkeit erzielt werden konnte, zeigt bereits an, dass der Weg zu global abgesprochenem Handeln in Steuerfragen ein weiter sein wird. Technisch dürfte es allerdings kein großes Problem sein, eine globale Steuer auf den Ressourcenverbrauch zu entwickeln, deren Erträge dann für den Natur- und Katastrophenschutz eingesetzt werden könnten. Es fehlt bisher vor allem der Wille der reichen Nationen, sich auf dauerhaft geregelte Weise der eigenen Verantwortung für die Folgen hohen Ressourcenverbrauchs zu stellen, anstatt kurzfristig Spenden und Katastrophenhilfe zur Verfügung zu stellen.

 

Zum Autor:

Marc Buggeln ist Professor für regionale Zeitgeschichte und Public History an der Europa-Universität Flensburg und Direktor der Forschungsstelle für regionale Zeitgeschichte und Public History (FRZPH) in Schleswig.