Am 6. November 2024 ist mit dem Ampel-Aus ein gesellschaftspolitisches Experiment nach drei Jahren Versuchsphase grandios gescheitert. Die gängigen Erklärungen für das Scheitern der Ampelregierung thematisieren die charakterlichen Defizite von Christian Lindner oder die Widrigkeiten der deutschen Schuldenbremse. Diese Argumente sind nicht verkehrt, aber sie greifen zu kurz.
Der tiefere Grund für das Ampel-Aus ist eine Energiekrise, die schonungslos aufgedeckt hat, dass Marktliberalismus und Sozialdemokratie zwei unvereinbare Gesellschaftsentwürfe sind. Marktliberalismus glorifiziert persönlichen Eigennutz und den Markt, während die sozialdemokratische Bewegung auf der gesellschaftlichen Solidarität und einem funktionsfähigen Staat basiert. Zudem ist der Marktliberalismus gefräßig. Er ist ein Monotheismus, der keinen Gott neben dem heiligen Markt duldet. So ist es nicht überraschend, dass Christian Lindner rücksichtlos versuchte, FDP-Interessen innerhalb der Ampelregierung durchzusetzen. Und es überrascht nicht, dass er letztlich mit seinem Konzeptpapier zur Wirtschaftswende und der damit verbundenen Forderung nach „FDP-pur“ dem sozialdemokratischen Bundeskanzler die Pistole auf die Brust setzte.
Überraschend ist nur, wie lange Grüne und SPD sich den Wünschen von Christian Lindner und seiner neoliberalen FDP beugten, und damit der deutschen Wirtschaft und Gesellschaft großen Schaden zufügten. In meinem aktuellen Buch Fehldiagnose zeige ich, dass Christian Lindner mit seinen marktliberalen Ideen die Wirtschaftspolitik der Ampelregierung bereits seit dem Frühjahr 2023 maßgeblich geprägt hat. Dabei gehe ich ausführlich auf die unrühmliche Rolle der Mainstream-Ökonom:innen ein, die mit ihren marktradikalen Konzepten und ökonomischen Fehlanalysen wichtige Schützenhilfe für den FDP-Kurs innerhalb der Ampelregierung leisteten.
Ökonomische Fehldiagnosen und politische Fehlentscheidungen
Das Ampel-Aus ist also die logische Konsequenz einer Regierungszeit, die von ökonomischen Fehldiagnosen und politischen Fehlentscheidungen geprägt war. Und diese Fehltritte können alle auf die marktliberalen Tendenzen in der Ampelregierung zurückgeführt werden. Ganz konkret haben vier politische Fehlentscheidungen dazu geführt, dass aus der Energiekrise die größte Wirtschaftskrise der deutschen Nachkriegsgeschichte wurde.
Erstens lehnen die meisten Ökonom:innen und die FDP Energiepreisbremsen grundsätzlich ab, weil sie fälschlicherweise glauben, dass auch in Krisenzeiten die Preissignale voll wirken müssten – der Markt hat angeblich immer recht. Diese Skepsis gegenüber staatlichen Eingriffen in das Preissystem führte dazu, dass die Ampelregierung zu lange mit der Einführung der Gas- und Strompreisbremse zögerte und die AfD im Sommer/Herbst 2022 stark an Zustimmung gewinne konnte. Darüber hinaus gab es für gewerbliche Energieverbraucher nur eine unwirksame Pseudo-Preisbremse. Die Industrie war also dem Energiekostenschock schutzlos ausgeliefert, und die Produktion und Investitionen wurden entsprechend runtergefahren.
Zweitens hat die Mehrzahl der Ökonom:innen die Folgen der Energiekrise fahrlässig unterschätzt, weil sie in einer marktliberalen Märchenwelt leben, in der sich Menschen und Unternehmen schnell und problemlos an hohe Energiepreise anpassen können. Dieses verzerrte Weltbild führte dazu, dass große Teile der Ökonomenzunft zusammen mit der Ampelregierung die Krise bereits im Frühjahr 2023 für beendet erklärten.
Doch die Lebensrealität der Menschen sah anders aus. Die Beschäftigten mussten 2022 die höchsten Reallohnverluste der deutschen Nachkriegsgeschichte hinnehmen, und die Energiekrise hatte die deutsche Wirtschaft schwer getroffen. Die Diskrepanz zwischen ökonomischer Realität und den Äußerungen von Regierungsvertretern im Jahr 2023 erzeugte Unmut in der Bevölkerung, und gab der AfD weiteren Auftrieb. Zudem konnte Christian Lindner im Frühjahr 2023 eine „Normalisierung“ der Finanzpolitik ausrufen, weil die Krise angeblich vorbei war – ohne Krise keine Krisenpolitik. Die restriktive Finanzpolitik der Ampelregierung hatte zur Folge, dass 2023 und 2024 keine nennenswerten wirtschaftspolitischen Impulse gesetzt werden konnten und die wirtschaftliche Erholung ausblieb.
Drittens sind marktliberale Ökonom:innen und die FDP aus ideologischen Gründen gegen eine grüne Industriepolitik, wie sie Präsident Joe Biden in den USA aggressiv mit dem Inflation Reduction Act (IRA) betrieben hat. Denn sie glauben, dass ein hinreichend hoher CO2-Preis in Kombination mit magischen Marktkräften ausreichen würde, um die notwendige Transformation der Industrie erfolgreich zu gestalten.
Doch die ökonomische Realität sieht anders aus: Ohne eine durchdachte Förderpolitik zieht die Industrie ins Ausland und die deutsche Wirtschaft leidet. Das wissen auch Bundeskanzler Olaf Scholz und Wirtschaftsminister Robert Habeck, und deshalb unterstützen sie – gegen die Widerstände vieler Ökonom:innen und der FDP – eine transformative Industriepolitik. Doch die Industriepolitik der Ampelregierung war häufig planlos und widersprüchlich, weil das übergreifende ökonomische Konzept fehlte und vieles Stückwerk blieb. Das zeigt, dass schlechte bzw. marktliberale wirtschaftspolitische Beratung – Industriepolitik nur mit „Bauchschmerzen“ – oft zu einer schlechten Wirtschaftspolitik führt.
Viertens sind die meisten Ökonom:innen und große Teile der Politik nicht gewillt, sich ernsthaft mit den Aufgaben und Wirkungsweisen von Gewerkschaften und Mindestlöhnen auseinanderzusetzen. Gewerkschaften sind keine Lobby-Gruppe für Spezialinteressen und der Mindestlohn ist vornehmlich kein Instrument der Sozialpolitik, wie es häufig in der öffentlichen Debatte behauptet wird. Gewerkschaften und Mindestlohn sind essenzielle Institutionen der Sozialen Marktwirtschaft zum Ausgleich asymmetrischer Machtverhältnisse auf dem Arbeitsmarkt. Sie sorgen dafür, dass die vielen abhängig Beschäftigten – die große Mehrheit der Gesellschaft – einen angemessenen Anteil am produzierten Mehrwert erhalten. Die Stärkung der Verhandlungsmacht der Arbeitnehmerseite ist nicht nur zentral für eine gerechte Verteilung der Markteinkommen, sondern sie steigert langfristig auch die Produktivität und das Wirtschaftswachstum.
Doch die Mehrzahl der Ökonom:innen können oder wollen dies nicht sehen, weil Macht in ihrer marktliberalen Fantasiewelt nicht vorkommt. Diese ideologisch motivierte Realitätsverweigerung der Ökonomenzunft und der neoliberalen FDP führte in der aktuellen Legislaturperiode dazu, dass keine nennenswerten arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen umgesetzt werden konnten.
Der Kreis der marktliberalen Selbstbestätigung
Diese Überlegungen verdeutlichen, wie sehr die Krisenpolitik der Ampelregierung von marktliberalen Ideen geprägt war – zum Schaden für Wirtschaft und Gesellschaft. Und auch das Konzeptpapier von Christian Lindner, das letztlich zum Ampel-Aus führte, atmet aus jeder Pore den Geist des Marktliberalismus. Es lohnt sich daher, den Marktliberalismus etwas genauer unter die Lupe zu nehmen, um besser zu verstehen, wie es zu diesem Desaster kommen konnte.
Marktliberalismus ist eine Utopie, wie sie in den Werken von Friedrich A. von Hayek wortgewaltig beschrieben wird. In der marktliberalen Gesellschaft koordinieren selbstregulierende Märkte die Konsum- und Produktionsentscheidungen der vielen Millionen von privaten Haushalten und Unternehmen. „Freie“ Märkte und das damit verbundene Preissystem sind perfekt und führen zu einer Maximierung der gesamtwirtschaftlichen Produktion für gegebene Ressourcen. In der fiktiven Welt des Marktliberalismus hat der Staat im Wesentlichen die Aufgabe, durch anreizneutrale Umverteilung der Markteinkommen soziale Härten zu vermeiden. Anders gesagt: Die Marktwirtschaft macht den Kuchen so groß wie möglich, und der Staat sorgt durch ex-post Umverteilung für dessen sozial verträgliche Aufteilung.
Die hier beschriebene Utopie wird in öffentlichen Debatten auf zwei Argumentationsebenen genutzt, und die Vermischung der zwei Ebenen kann zu Missverständnisse führen. Zum einen dient der Marktliberalismus vielen Ökonom:innen als theoretische Grundlage zur Beschreibung wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Phänomene. Zum anderen ist der Marktliberalismus eine politische Agenda, die aus der – angeblich objektiven – Realitätsbeschreibung politische Empfehlungen ableitet. Beispielsweise analysieren viele Ökonom:innen die aktuelle Misere der deutschen Wirtschaft aus der marktliberalen Perspektive. Und Christian Lindner verwendet diese marktliberalen Analysen, um ein wirtschaftspolitisches Konzeptpapier zur Wirtschaftswende zu schreiben, das dann wiederum von marktliberalen Ökonom:innen in der öffentlichen Debatte gelobt wird. So schließt sich der Kreis der marktliberalen Selbstbestätigung.
Die marktliberale Theorie ist so problematisch, weil sie eine unterkomplexe Beschreibung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Realität darstellt. Diese Unterkomplexität hat beispielsweise dazu geführt, dass die Mehrzahl der Ökonom:innen die Auswirkungen der Energiekrise unterschätzte und auf Basis dieser Fehldiagnose die falschen politischen Empfehlungen abgegeben haben. Ganz allgemein schadet marktliberale Wirtschaftspolitik der Gesamtwirtschaft und den vielen abhängig Beschäftigten. Deshalb ist eine neoliberale FDP auch grundsätzlich regierungsunfähig, denn sie muss immer gegen die Interessen von 95 Prozent der Bevölkerung regieren. Denn marktliberale Wirtschaftspolitik hilft nur einer kleinen Gruppe wohlhabender Kapitaleigentümer, und das ist – neben den Taschenspielertricks marktliberaler Ökonom:innen – der Grund, warum der Marktliberalismus trotz seiner zahlreichen Fehldiagnosen die öffentliche Debatte zu wirtschaftspolitischen Fragen dominiert. Wer das Geld hat, kann zusätzliche Stellen an den Universitäten schaffen, marktliberale Wirtschaftsinstitute unterstützen und pseudo-progressive Denkfabriken gründen.
Es ist evident, dass der hier beschriebene Marktliberalismus im grundsätzlichen Widerspruch zu einer sozialdemokratischen Wirtschaftspolitik steht. Denn er bietet eine pseudo-wissenschaftliche Rechtfertigung für die Ausbeutung der abhängig Beschäftigten – also der großen Mehrheit der Gesellschaft – zugunsten weniger Kapitaleigentümer. Marktliberalismus als politische Agenda ist Klassenkampf von oben unter dem Deckmantel scheinbarer Wissenschaftlichkeit. Dieser grundsätzliche Widerspruch kann auch nicht aufgelöst werden, indem man – wie die SPD in der Ampelregierung – vergeblich versucht, dem Marktliberalismus durch etwas mehr Umverteilung ein soziales Gesicht zu geben. Eine FDP-Politik mit rot-grünen Tupfern bleibt immer noch eine FDP-Politik. Und eine SPD, die diesen grundsätzlichen Widerspruch aus politischem Kalkül ignoriert, verspielt ihre Glaubwürdigkeit und wird langfristig als sozialdemokratische Kraft in der Bedeutungslosigkeit verschwinden, so wie es in vielen anderen europäischen Ländern bereits geschehen ist.
Was kommt nach dem Ampel-Aus?
Die Energiekrise hat schonungslos aufgezeigt, wie schädlich der Marktliberalismus für Wirtschaft und Gesellschaft sein kann. Eine angebliche Fortschrittskoalition, die 2021 mit viel Hoffnung gestartet war, musste nach drei Jahren weitestgehend erfolgloser Regierungszeit die Segel streichen, weil Christian Lindner und seine neoliberale FDP spätestens ab dem Frühjahr 2023 das Kommando übernahmen. Die Ironie des Schicksals ist, dass nicht der Marktliberalismus, sondern die Sozialdemokratie den größten Schaden davontragen wird. Denn niemand wird der SPD noch glauben, dass sie sozialdemokratische Politik betreiben kann – nach der stetigen Erosion während der Merkel-Jahre folgte nun der Todesstoß durch die Energiekrise und Christian Lindner.
Was kommt nach der Bundestagswahl im Februar 2025? Marktliberale Ökonom:innen werden weiterhin Industriepolitik als ineffiziente Geldverschwendung verteufeln und gleichzeitig ein schuldenfinanziertes Sondervermögen für Rheinmetall & Co. fordern. Sehr wahrscheinlich wird ein Bundeskanzler Friedrich Merz mit der SPD als Juniorpartner die Regierung stellen – im politischen Berlin werden bereits die entsprechenden Vorbereitungen getroffen, auch wenn es niemand öffentlich aussprechen mag. Der Marktliberalismus wird also weiter Deutschland regieren, auch wenn die Union weniger dogmatisch ist als die FDP und sehr pragmatisch agieren wird. Die SPD wird von Verantwortung reden und sich damit brüsten, dass sie Kürzungen bei den Renten verhindert hat und die Union überzeugen konnte, die Schuldenbremse zu lockern. Und das alles wird dann als Fortschritt verkauft, weil es irgendwie marginal besser ist als die letzten zwei Jahre Ampelregierung. Doch vielleicht wird alles anders kommen – die Hoffnung stirbt zuletzt.
Zum Autor:
Tom Krebs ist Professor für Makroökonomik an der Universität Mannheim und wissenschaftliches Mitglied der Mindestlohnkommission. Kürzlich ist sein neues Buch „Fehldiagnose: Wie Ökonomen die Wirtschaft ruinieren und die Gesellschaft spalten“ im Westend-Verlag erschienen.