Ende letzter Woche war ein Konzeptpapier von Christian Lindner an die Öffentlichkeit gekommen, in dem der (damalige) FDP-Finanzminister eine marktliberale Wirtschaftswende propagierte. Dieses Papier hat letztlich mit dazu geführt, dass Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) den Finanzminister gestern entließ. Diese Entscheidung ist richtig und überfällig, denn Lindner hat bereits großen Schaden verursacht und seine wirtschaftspolitischen Ideen sind ökonomisch rückständig. Umso überraschender ist es, dass das Lindner-Papier viel Zuspruch in Ökonomenkreisen erhielt. So schreibt zum Beispiel ifo-Chef Clemens Fuest auf Twitter/X: „(Das Papier) sollte kein Scheidungsdokument sein, sondern Leitlinie der Wirtschafts- und Finanzpolitik der Ampel.“
Die Evidenz spricht gegen die gewagte These von Clemens Fuest. Zwar ist marktliberale Wirtschafts- und Finanzpolitik a la FDP in der Regel gut für eine kleine Gruppe von Kapitaleigentümern, aber sie ist schlecht für die Gesamtwirtschaft und damit die große Mehrheit der Bevölkerung. So zeige ich in meinem aktuellen Buch Fehldiagnose, dass die marktliberale Medizin während der Energiekrise desaströse Konsequenzen für die deutsche Wirtschaft hatte. Anders gesagt: Der Wirtschaftsliberalismus funktioniert vielleicht in der fiktiven Welt der VWL-Lehrbücher für Bachelorstudierende, aber in der ökonomischen Realität schafft er häufig Chaos und Zerstörung.
Wie aber kann es sein, dass eine solch krude Theorie von Wirtschaft und Gesellschaft immer noch die öffentliche Debatte in Deutschland dominiert? In meinem Buch bin ich eben dieser Frage nachgegangen und möchte hier aus gegebenem Anlass eine leicht überarbeitete Passage daraus präsentieren.
Eine kontraproduktive Schocktherapie
Viele Ökonomen empfehlen gern eine Schocktherapie, obwohl diese in der Regel mit hohen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kosten verbunden ist. In Russland hat die marktliberale Medizin nicht nur zu einem wirtschaftlichen Desaster geführt, sondern auch die Entwicklung demokratischer Institutionen verhindert. Die wirtschaftlichen und politischen Folgen der marktliberalen Schocktherapie in den ostdeutschen Bundesländern nach der Wiedervereinigung sind heute noch zu spüren. Daher ist es ein großes Glück, dass die Bundesregierung sich im Frühjahr 2022 dem medialen Druck marktradikaler Ökonomen widersetzte und gegen eine Schocktherapie entschied. (Welches Ausmaß an wirtschaftlichen Schäden eine solche Therapie hätte annehmen können, zeichne ich ebenfalls in meinem Buch nach.)
Angesichts dieser und anderer Fehldiagnosen drängt sich die Frage auf, warum marktliberale Ökonomen und ihre kruden Theorien immer noch so einflussreich sind. Wie kann es sein, dass Märchenerzähler die öffentliche Debatte zu wirtschaftlichen Themen dominieren?
Eine offensichtliche Antwort ist, dass der von ihnen vertretene Wirtschaftsliberalismus den Interessen der Kapitalseite dient und finanziell gut unterstützt wird. Wer das Geld hat, kann zusätzliche Stellen an Universitäten schaffen, marktliberale Wirtschaftsinstitute unterstützen und pseudoprogressive Denkfabriken gründen. Diese Strategie garantiert natürlich nicht die Unterstützung in jedem einzelnen Punkt, wie die Embargodebatte gezeigt hat – hier standen sich marktliberale Ökonomen und die Arbeitgeberverbände diametral gegenüber. Und dies ist kein Einzelfall: Es gehört zum guten Ton im Lager marktradikaler Ökonomen, sich als unabhängig zu gerieren und gegen Subventionen zu wettern.
Solche Episoden können nicht darüber hinwegtäuschen, dass der marktliberale Fundamentalismus langfristig den Kapitalinteressen dient. Denn viel wichtiger als diese Störgeräusche ist für die Kapitalseite, dass sie auf ihre Ökonomen zählen kann, wenn es darum geht, einen angemessenen Mindestlohn, eine Stärkung der Gewerkschaften oder die Reaktivierung der Vermögenssteuer zu verhindern. Und auch das marktliberale Märchen von einem Staat, der sich auf das Setzen von Rahmenbedingungen beschränken soll, ist letztlich nur eine Forderung nach Steuersenkungen für die Wohlhabenden. Solange hinreichend viele Ökonomen mit ihren Argumenten diese für das Kapital so vorteilhafte Agenda unterstützen, erlaubt man ihnen gern – wie den Narren an den europäischen Fürstenhöfen der Vergangenheit – die gelegentliche Kritik an den Vermögenden und an den Vorschlägen der Unternehmensverbände.
Eine effektive Strategie
Diese strukturellen Argumente sind bekannt und haben Gewicht, doch sie können nur ein Teil der Antwort sein. Denn marktliberale Ökonomen schaffen es immer wieder trotz ihrer teilweise absurden Analysen, unter dem Deckmantel der Wissenschaftlichkeit die öffentliche Debatte zu beeinflussen. Womit sich die Frage stellt: Merkt denn niemand, dass der marktliberale Kaiser keine Kleider trägt? Natürlich fällt es einigen Beobachtern auf, dass Ökonomen häufig mit pseudowissenschaftlichen Argumenten eine Fantasiewelt verteidigen und damit großen Teilen der Bevölkerung schaden. Doch neben ihrer zahlenmäßigen Stärke haben marktliberale Ökonomen eine effektive Strategie entwickelt, sich gegenüber Kritik immun zu machen.
Diese Immunisierungsstrategie hat zwei Säulen: aggressives Marketing der eigenen Ideen und selektive Wahrnehmung der Realität. Es lohnt sich, diesen Punkt genau zu analysieren, denn er erklärt den medialen Erfolg der Ökonomen in vielen Bereichen. Die wesentlichen Komponenten der Immunisierungsstrategie lassen sich gut an der bereits erwähnten Embargo-Studie der neun Wirtschaftsprofessoren demonstrieren.
Deren Veröffentlichung im März 2022 wurde begleitet von einer Medienkampagne der Autoren, in der sie wortgewaltig die Vorzüge der Studie und die Wissenschaftlichkeit der verwendeten Methodik anpriesen – die erste Säule der Immunisierungsstrategie. Der Tenor lautete: „Wir machen Wissenschaft, und alle anderen stümpern nur herum.“ Dieser Ansatz stieß in der Ökonomen-Community teilweise auf großen Anklang, und man gratulierte sich selbst zu dem wissenschaftlichen Fortschritt in der Politikberatung, die jetzt endlich relevant und „evidenzbasiert“ sei. Kritik an den zugrunde liegenden Annahmen oder Nachfragen zur Methodik wurden mit herablassenden Bemerkungen abgebügelt. Die breitbeinigen Auftritte dieser Professorengruppe in den sozialen Medien hatten zur Folge, dass kritische Stimmen sich zurückzogen und für viele Außenstehende der Eindruck entstand, dass die Studienergebnisse das Urteil „der Wissenschaft“ repräsentierten. Nur so ist es auch zu erklären, dass Anne Will in dem erwähnten Interview mit Bundeskanzler Olaf Scholz im März 2022 die Ergebnisse als wissenschaftlichen Konsens darstellte und andere Positionen unerwähnt ließ.
Die krude Zweiteilung in „Wissenschaft“ und „Lobbyismus“ ist ein beliebter Trick marktliberaler Ökonomen, um die eigene Position in der öffentlichen Debatte zu stärken und unliebsame Stimmen zu diskreditieren. Dieses Täuschungsmanöver ist aber nur möglich, weil sie die Realität selektiv wahrnehmen und entsprechend selektiv darstellen – die zweite Säule der Immunisierungsstrategie. Und diese Realitätsverweigerung wurde nicht nur in der Embargodebatte im Frühjahr 2022 betrieben, sondern 2023 in der Folgestudie der Ökonomen Benjamin Moll, Moritz Schularick und Georg Zachmann nochmals intensiviert. Darin stellen die drei Autoren zwei Thesen auf, die sie angeblich mit ihrer Arbeit bestätigen. Erstens, dass die Auswirkungen der Energiekrise milde ausgefallen seien und die Evidenz daher die Vorhersagen der neun Wirtschaftsprofessoren unterstütze. Zweitens, dass abweichende Ergebnisse nur in von Lobbyorganisationen unterstützten Studien veröffentlicht seien.
Wenn Wunschdenken die Analyse dominiert
Wir haben bereits gesehen, dass die erste These falsch ist, doch auch die zweite Behauptung ist widerlegt. Denn die Bundesbank und die fünf Wirtschaftsinstitute der Gemeinschaftsdiagnose hatten gesamtwirtschaftliche Produktionsverluste von 8 bis 10 Prozent in einem Risikoszenario ermittelt. Das ist gewaltig und liegt deutlich höher als die angebliche Obergrenze von 1,5 Prozent, die von den neun Wirtschaftsprofessoren in der Embargo-Studie berechnet wurde. Die Bundesbank und die fünf Wirtschaftsinstitute der Gemeinschaftsdiagnose haben vielleicht aus strukturellen Gründen die Tendenz, in wichtigen Fragen eine der Kapitalseite genehme Position zu beziehen, aber es ist sicher nicht richtig, deren Forschungsarbeiten pauschal als Lobbyarbeiten abzuqualifizieren.
Angesichts dieser Fakten ist es verwunderlich, dass die drei Studienautoren Benjamin Moll (London School of Economics), Moritz Schularick (IfW) und Georg Zachmann (Bruegel) die These „Wir haben recht, und alles andere ist Lobbyarbeit“ in den Raum stellen und angeblich empirisch bestätigen können. Wie ist das möglich? Einfach deshalb, weil die sie die Arbeiten der Bundesbank nur unvollständig erwähnen und die Studien der fünf Wirtschaftsinstitute der Gemeinschaftsdiagnose komplett ignorieren. Anders gesagt: Unliebsame Evidenz wird ausgeblendet und die Realität nur sehr selektiv wahrgenommen – Wunschdenken dominiert die Analyse. Dieses Vorgehen ist besonders pikant, weil das Kieler Wirtschaftsinstitut IfW eines der fünf Wirtschaftsinstitute ist, die die Simulationsstudien zur Embargofrage erstellt haben, und Moritz Schularick dessen Präsident ist.
Abwarten ist keine Option
Die aktuelle Lage in Deutschland ist schlecht. Die Energiekrise hat die Wirtschaft schwer getroffen, die Reallöhne liegen rund 8 Prozent unter ihrem Vorkrisentrend, und die Bevölkerung ist zu Recht verunsichert. Eine Politik, die diese Fakten verdrängt, redet an der Lebensrealität der Menschen vorbei.
Deutschland braucht also mehr Wirtschaftswachstum in der Breite. Aber wie? Christian Lindner hat mit seinem Konzeptpapier ein einfaches, aber wenig überzeugendes Rezept vorgestellt: Steuersenkungen für die Wohlhabenden, mehr Bock auf Arbeit (Strukturreformen) und ganz viel Vertrauen in den Markt. Deutschland muss mutig sein und mehr Wirtschaftsliberalismus wagen – FDP-pur sozusagen. Marktliberale Ökonomen lagen mit ihren Diagnosen und Vorschlägen in der Vergangenheit regelmäßig falsch und haben bereits sehr viel Schaden angerichtet. Wollen wir wirklich die Zukunft Deutschlands in die Hände solcher Experten legen?
Olaf Scholz hat gestern richtigerweise entschieden, dass das keine gute Idee wäre – Schluss mit der wirtschaftsliberalen Märchenstunde! Deutschland braucht eine neue Politik, die auf einem ökonomischen Realismus basiert und zwei Prinzipen in den Mittelpunkt rückt: ökonomische Vernunft und soziale Gerechtigkeit, die das alte Marktdogma durch eine realistische Theorie von Wirtschaft und Gesellschaft ersetzt.
In dieser neuen Theorie spielen Unsicherheit (John Maynard Keynes), Anpassungskosten (Karl Polanyi) und Marktmacht (Karl Marx) eine zentrale Rolle. Sie bietet eine Methode zur Analyse einer Gesellschaft im Transformationsprozess, die sich am besten mit dem Begriff „ökonomischer Realismus“ umschreiben lässt. Das Ergebnis eines solchen Paradigmenwechsels ist eine Politik, die ökonomische Vernunft und soziale Gerechtigkeit in den Mittelpunkt rückt. Dieser Ansatz steht im krassen Widerspruch zum marktliberalen Fundamentalismus mit seinen realitätsfremden Annahmen und gefährlichen Schlussfolgerungen, wie er immer noch die öffentlichen Debatten und die Darstellung in den Lehrbüchern der Volkswirtschaftslehre dominiert. Welche Maßnahmen sich daraus meiner Meinung nach konkret ableiten, habe ich in meinem Buch ausführlich oder in diesem Beitrag zusammengefasst dargelegt.
Zum Autor:
Tom Krebs ist Professor für Makroökonomik an der Universität Mannheim und wissenschaftliches Mitglied der Mindestlohnkommission. Weitere Informationen zu seinem neuen Buch „Fehldiagnose: Wie Ökonomen die Wirtschaft ruinieren und die Gesellschaft spalten“ finden Sie hier.