Unsere Gesellschaft befindet sich inmitten eines tiefgreifenden Transformationsprozesses. Im Zentrum: die Wirtschaft und die Suche nach Wegen zur Nachhaltigkeit. Die nächsten Jahre werden entscheiden, ob uns dieser Wandel by disaster passiert – oder by design gelingt.
Die Debattenreihe Economists for Future (#econ4future) widmet sich den damit verbundenen ökonomischen Herausforderungen und diskutiert mögliche Lösungsansätze. Die Beiträge analysieren Engführungen in den Wirtschaftswissenschaften und Leerstellen der aktuellen Wirtschaftspolitik. Zugleich werden Orientierungspunkte für ein zukunftsfähiges Wirtschaften aufgezeigt und Impulse für eine plurale Ökonomik diskutiert, in der sich angemessen mit sozial-ökologischen Notwendigkeiten auseinandergesetzt wird.
Die Kooperation zwischen Economists for Future e.V. und Makronom startete mit der ersten Ausgabe 2019. Seitdem ist jährlich eine neue Reihe mit wechselnden Themenschwerpunkten erschienen. Die mittlerweile sechste Staffel beleuchtet nun Aspekte rund um das Thema Überfluss. Hier finden Sie alle Beiträge, die bisher im Rahmen der Serie erschienen sind.
Die politische Diskussion über alternative Wohlstandsmodelle jenseits einer klassischen Wachstumslogik hat es nicht leicht. Um die Gründe dafür zu verstehen, ist es hilfreich, sich mit der politischen Ökonomie des „Neins“ in politischen Prozessen auseinanderzusetzen.
Demokratie lebt von der Kritik. Sie ist von der Überzeugung getragen, dass erst durch Kritik an bestehender Praxis die Lösungsräume größer werden. Damit wird die Entwicklung von demokratischen Gesellschaften grundsätzlich offen gehalten. Nur die Kritik an Regierenden hält diese in produktiver Spannung, immer nach dem besten Weg zu suchen. Wenn einer Regierung das nicht gelingt, dann schaffen Wahlen die Chance, den Weg für andere Akteure und Vorgehensweisen freizumachen.
Diese positive Erzählung von Demokratie schafft eine tiefe Legitimation für Kritik im demokratischen Staat. Wer Kritik übt, stärkt demnach das Herz der demokratischen Idee. Diese Legitimationskulisse schafft aber auch die Grundlage für Akteure, denen es gar nicht in erster Linie um die Stärkung von Demokratie geht, sondern um die Blockade von Veränderungsprozessen. Sie nutzen den demokratisch eigentlich positiv belegten Klang der Kritik für eine ganz besondere politische Ökonomie des „Neins“. Und diese Ökonomie funktioniert besonders gut in Zeiten des fundamentalen Umbruchs und umfassender Transformation.
Denn Phasen der Transformation – und das gilt gerade für eine Herausforderung wie die einer Nachhaltigen Entwicklung mit ihren umfassenden ökonomischen Konsequenzen – zeichnen sich durch zwei wichtige Charakteristika aus:
Sie muten Menschen viel zu und lösen damit Verunsicherung und Veränderungsängste aus. Die Mobilitätsdebatte oder auch die Diskussion um das Heizungsgesetz haben das wieder eindrucksvoll gezeigt.
Sie erfordern bisher nicht erprobte Politik- und Veränderungsansätze. Das bestehende politische Instrumentarium reicht häufig nicht aus, um umfassende Transformationen anzustoßen. Gerade eine Postwachstumspolitik ist auf z.T. völlig neue und bisher nicht erprobte Politikansätze angewiesen. Damit ist Transformationspolitik aber auch in besonderer Form fehleranfällig, denn viele Nebenwirkungen lassen sich bei neuen Politikdesigns kaum umfassend abschätzen.
Und genau das liefert die Ansatzpunkte für eine besondere politische Kaste professioneller „Nein“-Sager. Dies sind politische Akteure, die in hohem Maße erprobt sind, zu blockieren. Dafür verfügten sie über ein breites Instrumentarium, das sie oft bis zur Perfektion entwickelt haben: Es reicht vom Rekurs auf formale und rechtliche Bedenken, der Infragestellung der Relevanz des Problems, der Überdramatisierung von Transformationsfolgen bis hin zur persönlichen Diskreditierung von Transformations-Akteuren, um damit auch deren Vorhaben zu delegitimieren.
Für diese Kaste der Blockadeprofis sind Transformateure ein äußerst dankbares Opfer. Denn Transformateure haben in der Regel ein tief verankertes Veränderungsanliegen; oft war es dieses Anliegen, dass sie in die Politik hat gehen lassen. Ihre Kernmotivation ist das Erreichen von Veränderung. „Nein“-Sager brauchen sich mit ihrem ausgefeilten Blockadeinstrumentarium diesen Transformateuren einfach nur in den Weg zu stellen. Denn sie wissen genau: Das Gegenüber ist durch die Aussicht auf produktive Veränderung motiviert. Und es wird einen Preis dafür zahlen, Blockaden zu überwinden und weiterzukommen.
Blockierer heimsen diese Preise ein; sie agieren als Zollstationen an den Pfaden der Transformation. Denn ihre Motivation ist nicht Veränderung, sondern die Erlangung von Macht im System. Mit dem gewonnenen „Transformationszoll“ in Form inhaltlicher Zugeständnisse oder dem Zugang zu Ämtern erwerben sie eine Währung zum Machterhalt und zum Machtausbau. Jeder im politischen Geschäft, ob auf internationaler, nationaler oder lokaler Ebene, hat bei dieser Beschreibung sehr schnell die Bilder solcher Akteure des politischen Neins im Kopf.
Für die politische Kultur in Zeiten grundlegender Veränderung sind sie Gift. Denn gerade Transformationsphasen brauchen Offenheit, Experimentiermut und Fehlerfreundlichkeit. Wenn jeder Fehler zum Angriffspunkt für Diskreditierung oder sogar Diffamierung wird, dann erlahmt jede Veränderung. Und die Akteure des Neins leben von der Blockade, sie brauchen im Zollhaus nur zu warten, bis sich im schlimmsten Fall irgendwann niemand mehr über die Grenze traut.
Zur besonderen Anfälligkeit der neuen Wohlstandsdebatte für die strukturelle Kraft des Neins
Die gerade beschriebenen Mechanismen funktionieren letztlich bei jeder Form von Veränderungsanliegen. Doch gerade bei der Diskussion über neue Wohlstandsmodelle sind sie besonders leicht und effektiv zu mobilisieren. Darum steckt gerade diese Debatte in einem besonderen Dilemma.
Warum ist das so? Die Diskussion über Postwachstum, Suffizienz und neue Wohlstandsmodelle berührt tiefe Selbstverständnisse unserer modernen Gesellschaft und der ganz persönlichen Lebenspraxis. Dass eine freie und offene Gesellschaft aus der engen Verbindung von Demokratie und einem Versprechen auf einen immer weiter wachsenden Wohlstand besteht, ist die kulturelle DNA gerade im Nachkriegsdeutschland. Dies in Frage zu stellen, löst allein schon erhebliche Widerstände und Abwehrreflexe aus. Wenn eine solche Diskussion dann noch mit dem Eingriff in die individuelle Lebenspraxis verbunden ist, dann potenziert das beim Einzelnen Ängste und Sorgen vor Veränderung.
Damit ist der ideale Boden für die politische Blockade geschaffen. Und er lässt sich gerade mit populistischen Mitteln hervorragend bedienen. „Verbote“ und „Zwangsbeglückung“ werden zu Kampfbegriffen gegen jede Form der Politik, die am Status quo rüttelt, und die politischen Gestalterinnen solcher Transformationspolitik werden dämonisiert. Dies trifft auf den dankbaren Boden der durch Veränderung Verunsicherten. Denn mit diesen politischen Argumenten löst sich für viele Bürgerinnen und Bürger die eigene kognitive Dissonanz in einfacher Form auf: Unterbewusst hatte man schon das Gefühl, dass es gewisse Veränderung bräuchte, doch die politische Diskussion liefert die Argumente für die Überzogenheit und die Unredlichkeit der Transformationspolitikerinnen.
Inseln des Gelingens
In den vorangegangenen Abschnitten wurde deutlich, dass die Abwehr von ökonomischer Transformationspolitik in besonderer Weise mit Ängsten und Emotionen spielt. Da hilft es kaum, allein mit Sachargumenten dagegen zu halten. Eine andere ökonomische Welt und neue Wohlstandsmodelle müssen vielmehr in positiver Weise „fühlbar“ werden. Nur so entstehen Vertrauensräume und nur so lässt sich dem Gefühl der Sorge begegnen.
Erst die Vielfalt solcher „Inseln des Gelingens“ macht eine alternative Zukunft vorstellbar. Je mehr solcher Inseln entstehen und sich vernetzen, umso mehr wächst die Kraft für eine Transformationspolitik. Dass das funktionieren kann, spüren wir europaweit in der kommunalen Mobilitätspolitik: Immer mehr Städte machen sich auf, ihre (Innen-)Städte menschengerecht umzubauen: Super-Blocks, Entschleunigung und Herausnahme von Autos, Straßenplätze als neue grüne Oasen. In Deutschland sind das oft noch zierliche und hart umkämpfte Pflänzchen. Paris, Barcelona, Kopenhagen oder Amsterdam setzen als europäische Metropolen den Akzent und es ist vermutlich nur eine Frage der Zeit, bis auch Deutschland nicht das letzte Museum der automobilen Innenstadt des 20. Jahrhunderts sein möchte.
Nicht nur in der Mobilität, sondern auch im Ernährungsverhalten ist vieles in Bewegung, ganz ohne politischen Zwang. Gerade in der jungen Generation gewinnen fleischärmere, vegetarische, vegane und regionale, aber insbesondere bewusste Ernährungsformen an Bedeutung. In Städten und Kommunen entstehen zunehmend Gemeinwohl-Experimentierräume. In ihnen wird vorgelebt, dass andere Formen des Wohlstands und des lokalen Miteinanders möglich sind. Diese neue Klasse der „Stadtmacherinnen“ macht Mut auf die Chancen „realer Utopie“ (E.O. Wright).
Um die Dichte solcher Inseln des Gelingens zu erhöhen, braucht es mehr Freiräume auf lokaler Ebene. Denn gerade vor Ort ist der Mut zu neuer Verkehrspolitik oder neuen Formen pragmatischer Stadtgestaltung oft stark ausgeprägt. Hier verbindet er sich mit lokaler Identität sowie Vertrauen und persönlicher Begegnung der Akteure. Daher ist es so wichtig, die Bedingungen für kommunale Reallabore sowie weitgehende Experimentiermöglichkeiten auch jenseits von nationalen Regulierungen und Standards zu erweitern. Nur so lassen sich „Insel des Gelingens“ potenzieren und gesellschaftliche Lern- und Veränderungsprozesse beschleunigen.
Solche Inseln des Gelingens schaffen eine eigene Kraft des Ja´s, die es für die Akteure des Neins um vieles schwieriger im politischen Wettbewerb macht. Der Weg zur „Kraft des Ja´s“ ist allerdings lang. Daher ist es wichtig, seine Geschwindigkeit und seine Multiplikationsmöglichkeit durch bessere Bedingungen für vielfältige Experimente und Reallabore zu stärken. Kommunen sind dabei der ideale Ort für solche Experimentierräume.
Zum Autor:
Uwe Schneidewind ist seit November 2020 Oberbürgermeister der Stadt Wuppertal. Von 2010-2020 war er Präsident und wissenschaftlicher Geschäftsführer des Wuppertal Instituts und Professor für „Innovationsmanagement und Nachhaltigkeit“ am Fachbereich Wirtschaftswissenschaft der Bergischen Universität Wuppertal. Zuvor ist er zunächst Dekan und anschließend Präsident der Universität Oldenburg gewesen. Seine Promotion und Habilitation erfolgte an der Universität St. Gallen. Neben vergangener Mitgliedschaften u. a. im Wissenschaftlichen Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) und dem Hochschulrat der Universität Kassel, ist er Mitglied des Club of Rome.