Fremde Federn

Zukunftsklagen, Zölle, Sprind

Diese Woche unter anderem in den Fremden Federn: Ein juristisches Extremwetterereignis, wie es mit der UNO weitergehen soll und was wir aus dem Zusammenbruch historischer Zivilisation lernen können.

Foto: Jojo Bombardo via Flickr (CC BY-ND 2.0)

In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst Forum (früher piqd) eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. Formum.eu versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.

Der Style-Guy erklärt: Was Zölle bewirken

piqer:
Rico Grimm

Wer (noch) auf X unterwegs ist, hat vielleicht schon diesen Typen kennengelernt, den der Algorithmus liebt. Er zeigt in Threads, wie guter Stil bei Männermode aussieht, und das so erfolgreich, dass ihm inzwischen knapp eine Million Menschen folgen.

Was ich nicht wusste: Er ist studierter Ökonom und hat deswegen in diesem schönen Thread seine beide Expertise-Gebiete zusammengebracht: Anzüge und Zölle. Er zeigt sehr konkret mit Beispielzahlen, um wie viel teurer Anzüge in den USA werden, wenn Donald Trump die Zölle erhöht, sobald er die Wahl gewinnt. Laut Trump solle mit den Zoll-Einnahmen der Staat finanziert werden; Trump glaubt, dass so vor allem fremde Unternehmen zahlen werden.

Das stimmt nicht. Denn die Zölle wirken wie versteckte Steuern – das zeigt der Style-Guy auf X.

Überleben und Untergang von Zivilisationen – damals wie heute?

piqer:
Thomas Wahl

Eric H. Cline ist ein amerikanischer Archäologe und Historiker. Er ist ausgewiesener Spezialist für die Bronzezeit in der Levante, also die griechische Halbinsel und die griechischen Inseln in der Ägäis, die mediterranen Küstengebiete der Türkei, Zypern, der Libanon, Palästina, das historische Syrien und Ägypten. Bekannt geworden ist er 2014 mit seinem populärwissenschaftlichen Buch „1177 v. Chr. – Der erste Untergang der Zivilisation“. Das Buch behandelt das östliche Mittelmeer im 12. Jahrhundert vor Christus:

Städte brennen, Reiche gehen unter, Völkerschaften verschwinden. Fast alle antiken Kulturen zwischen Ägäis und Persischem Golf stecken in der Krise. Die späte Bronzezeit geht zu Ende, und Gewaltkonflikte erschüttern die Region. Eine Zeitenwende, die deutliche Spuren in den Überlieferungen hinterlässt.

Die Frage: Können wir aus dem Zusammenbruch einer hoch entwickelten Zivilisation vor mehr als 3.000 Jahren für unsere Zeit Schlüsse ziehen? Clines erstes Buch entstand in den Jahren 2008 bis 2013, die durch Klimawandel und Waldbrände, sowie durch die Finanzkrise der Wall Street 2008 geprägt waren. Im Vorwort dieses Buches schreibt Cline direkt:

Die griechische Wirtschaft ist am Ende. In Libyen, Syrien und Ägypten ist es zu revolutionsartigen Aufständen gekommen, fremde Mächte und ausländische Soldaten gießen Öl ins Feuer. Die Türkei befürchtet, in die Konflikte mit hineingezogen zu werden. Jordanien ist überfüllt mit Flüchtlingen. Der Iran wetzt die Messer und übt sich in Drohgebärden, während es auch im Irak drunter und drüber geht. Sie glauben, dies seien ein paar Schlagzeilen aus den aktuellen Nachrichten? Das stimmt zwar. Aber genauso war die Situation bereits vor mehr als 3000 Jahren, im Jahr 1177 v. Chr., als die Zivilisationen der Bronzezeit rund um das Mittelmeer nacheinander zusammenbrachen und den Lauf der Geschichte für immer veränderten.

Mir sind solche direkten Parallelen immer etwas suspekt. Das Buch macht allerdings nachdenklich. Gerade weil es zeigt, das nicht eine Ursache allein all diese gut vernetzten Gesellschaften zu Fall brachte. Wie die Rezension in H-Soz-Kult zusammenfasst, war es (wie heute) eine Multikrise:

Erdbeben, Klimawandel mit Dürre und Hungersnöten, Aufstände, Invasoren, die den lebensnotwendigen Fernhandel zum Erliegen brachten, private Fernhändler, welche die zentralisierten Palastwirtschaften aushebelten, und eben die sogenannten Seevölker. In Bezug auf die wieder verstärkt geführte Diskussion über die Auswirkungen des Klimas auf Gesellschaften hält Cline zu Recht fest, „dass es in dieser Region im Laufe der Geschichte ziemlich oft zu Zeiten der Dürre kam und dass sie meistens nicht zum Zusammenbruch einer ganzen Zivilisation führten“. Hinsichtlich der „Seevölker“ folgt er der momentan populären Forschungsmeinung, dass es sich bei ihnen um mehr oder weniger friedliche Migranten handelte, die als Flüchtlinge selbst Opfer des Kollapses waren, …..

Damals (wie heute) handelte es sich also um komplexe, interagierende Gesellschaften und Handelsnetzwerke, die multiplen Störungen und Stressfaktoren ausgesetzt waren. Bis irgendwann die grundlegenden Lieferketten rissen und dadurch die gegenseitige wirtschaftliche Abhängigkeit zum Zusammenbruch der Wirtschaften dieses „goldenen Zeitalters“ führte. Der Prozess dauerte allerdings viele Jahrzehnte, das Jahr 1177 v.Chr. ist daher nur eine Metapher.

Nun legt Cline mit einem sich thematisch anschließenden Buch nach:  „Nach 1177 v. Chr.: Wie Zivilisationen überleben“. Dem widmet die WELT in dem von mir empfohlenen Artikel (der leider hinter der Bezahlschranke liegt) ein Interview mit dem Autor. Offensichtlich rückt Cline von seinem Untergangsszenario im ersten Buch etwas ab und betont den historischen Prozess des Wandels. Oder auch, wie aus dem Chaos eine neue Ordnung entsteht. Gesellschaften also überleben. Und er hat sicher recht, wenn er sagt:

Nun zu glauben, dass wir nicht untergehen werden, weil wir „too big to fail“ wären, zu groß, um zu scheitern, könnte sich als zu überheblich erweisen. Tatsächlich sind alle Zivilisationen der Menschheitsgeschichte untergegangen oder haben sich in etwas völlig anderes verwandelt. Das war zum Beispiel beim römischen Reich der Fall, das zwar zusammenbrach, im Orient aber als byzantinisches Reich noch gut tausend Jahre weiterexistierte. Meiner Meinung nach ist die Frage also nicht, ob unsere Zivilisation untergehen wird, sondern wann. Und was wir dagegen tun können.

Cline zeigt etwa, wie der internationale Handel und die gegenseitigen Verbindungen der Gesellschaften in der Bronzezeit möglicherweise ihren Untergang beschleunigt haben. Was auch bedeutet, dass Netzwerke, die für eine Wohlstandsgesellschaft Voraussetzung sind, wenn sie in Krisenzeiten zerreißen, den Zusammenbruch beschleunigen können.

In der Bronzezeit haben internationale Beziehungen und der Handel dazu beigetragen, die miteinander verbundenen Gesellschaften – der Assyrer, Babylonier, Mykener und anderen – voranzubringen. Als es dann jedoch zu kriseln begann, gab es Probleme in der Versorgungskette, bei Getreide, Zinn und Kupfer. Die Material-Knappheit trug dann dazu bei, die Situation selbst zu verschlimmern, da die einzelnen Gesellschaften zu sehr davon abhängig waren: Nur die Ägypter hatten Gold, die Zyprer fast ein Monopol auf Kupfer und die Mykener auf Silber.

Wen das nicht an unsere Gegenwart erinnert, dem ist schwer zu helfen. Und die Geschichte zeigt auch, die Völker reagierten sehr unterschiedlich. Am besten überlebten die Innovativen.

Die Phönizier und Zyprer gehören tatsächlich zu denjenigen, die sich am besten geschlagen haben. Sie konnten schnell reagieren, weil sie fähig waren, zu erfinden und zu gestalten. So haben die Phönizier ihr Alphabet standardisiert und anschließend im ganzen Mittelmeerraum verbreitet. Sie entwickelten außerdem das Tyros-Purpur, das dann zu einem luxuriösen Farbstoff wurde. Sie haben ihre Produktion standardisiert und dann ebenfalls überall im Mittelmeerraum verbreitet.

Die Zyprer übernahmen die führende Rolle in der Eisenproduktion und im Handel mit Eisenwaren. Sie bahnten den Weg in das Eisenzeitalter. Der Erfolg der Innovativen hing natürlich auch damit zusammen, dass die anderen und ihre Handelsflotten zusammenbrachen. Es stellt sich die Frage, ob der Westen und seine Demokratien im Fall des Falles, als Ganzes oder in Teilen zu den Innovativen gehören würde?

Eine anschauliche Videodokumentation zum Thema findet man man in der ZDF-Mediathek. Einen interessanten Einblick in die Peripherie der damaligen Zeit und  die offensichtliche Bedeutung der Lieferketten auch für weit entfernte Regionen wie Nordeuropa zeigt diese Arte-Doku:

Die Zeit zwischen 3300 und 1200 vor Christus brachte große Fortschritte in Siedlungsbau, Landwirtschaft und Technik. Im Mittelmeerraum entstanden in Mykene, Ägypten und Anatolien mächtige Kulturen, die durch Handel, Diplomatie und Krieg zu Wohlstand gelangten. Im Gegensatz dazu galt Nordeuropa als weniger entwickelt und friedlich. Die Entdeckung, dass hier eine große Schlacht stattfand, sowie die Überreste einer Brücke, die auf eine wichtige Handelsroute hindeuten, könnten ein neues Licht auf die Entwicklung der Region werfen.

Verfehlte Klimaziele: Ein juristisches Extremwetterereignis

piqer:
René Walter

In der vergangenen Woche haben fünf Umweltverbände und mehr als 50.000 Privatpersonen erneut eine „Verfassungsbeschwerde für eine klimagerechte Zukunft gegen die unzureichende Klimapolitik der Bundesregierung beim Bundesverfassungsgericht“ eingereicht, die sogenannte „Zukunftsklage„. Die Beschwerde wurde im Juni von Umwelt-Rechtsanwältin Roda Verheyen als „Verfassungsbeschwerde 2.0“ vorgestellt — wir erinnern uns: die erste Verfassungsklage im Jahr 2020 führte ein Jahr später zum historischen Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das Klimaschutz erstmals in Verfassungsrang hob.

Die jüngste Verfassungsklage bezieht sich unter anderem auf eine von den Beschwerdeführern Greenpeace und Germanwatch in Auftrag gegebene Studie des New Climate Institutes (hier als PDF), die Deutschland eine Verschleppung der Einhaltung der Klimaziele bescheinigt, vor allem im Verkehrssektor. „Durch die verspätete Umsetzung zusätzlicher Maßnahmen bei gleichbleibenden Zielen“, so die Pressemitteilung zur Studie, „ergeben sich im Vergleich zu früherem Handeln (…) nach 2030 deutlich höhere Änderungsraten in den Emissionspfaden“ mit einer „deutlich größere(n) Härte“ für die Bevölkerung. Sprich: Fahrverbote und stark steigende Preise für Mobilität und andere Konsumgüter, worunter besonders Menschen mit geringen Einkommen und bereits marginalisierte Gruppen leiden, die in ihrer Freiheit durch diese verschleppungsbedingt harten Maßnahmen besonders beschnitten werden. Genau dagegen richtet sich die erneute Verfassungsbeschwerde.

Diese Verfassungsbeschwerde ist für Deutschland ein weiterer Meilenstein im international wachsenden Trend, Regierungen und Energiekonzerne juristisch zur Verantwortung zu ziehen und Klimaschutz durch die Gerichte zu erzwingen. Anfang September stellten die Organisationen Oil Change International und Zero Carbon Analytics einen Bericht über „Big Oil in Court“ vor, laut dem sich die Zahl der Klimaklagen alleine gegen Energiekonzerne seit 2015 verdreifacht hat: Derzeit werden 86 Klagen vor Gerichten verhandelt und 40 Verfahren befinden sich in der Schwebe.

Auch eine internationale Mehrheit unterstützt Klimaklagen. So fand eine Umfrage unter 22.000 Teilnehmern aus 22 Ländern heraus, dass stattliche 72% aller Menschen einer Kriminalisierung von Handlungen zustimmen, die „ernsthafte Schäden an Natur und Klima verursachen“. Eine Umfrage unter Wählern in den USA kommt zu ähnlichen Ergebnissen und ein Ende August veröffentlichter Entwurf eines UN-Berichts zu Klimaschutz und Menschenrechten fordert „strengere Strafen für Unternehmen, die zum Klimawandel beitragen, inklusive rechtlicher Haftbarmachung für ‚Misinformation‘ zum Klimawandel, und ein Werbeverbot für die Fossil Fuel Industrie“. Und die US-Präsidentschaftskandidatin Kamala Harris könnte im Falle eines Wahlsieges dafür Sorge tragen, dass sich der juristische Druck auf Unternehmen und Regierungen weiter erhöht: Harris hatte als Kaliforniens oberster Staatsanwalt bereits mehrere Klagen gegen Ölkonzerne eingeleitet und Untersuchungen gegen Exxon und Volkswagen geführt.

All das ist nur Vorrede zur eigentlichen Link-Empfehlung: einem neuen Paper im wissenschaftlichen Fachmagazin Nature, das 211 der Autoren des IPCC-Berichts nach ihrer persönlichen Einschätzung befragte, ob die Ziele des 2015er Abkommens von Paris eingehalten werden können. Die Ergebnisse sind eindeutig: Eine Mehrheit von 86% der IPCC-Autoren erwartet eine Erwärmung von mehr als 2°C zum Ende des Jahrhunderts, dem Minimalziel des Pariser Abkommens. Die durchschnittlich erwartete Temperaturerhöhung der IPCC-Experten beträgt 2,7°C, wobei die Erderwärmung aus 2,1°C begrenzt werden könnte, sollten alle Nationen ihre proklamierten Klimaziele einhalten. 58% der IPCC-Autoren schätzt die Chance, bis zum Jahrhundertende eine Erderwärmung um mehr als 3°C zu erreichen, auf mindestens 50%. Umfragen des Guardian vor wenigen Monaten unter 380 Klimawissenschaftlern kamen zu ganz ähnlichen Resultaten.

Das Abkommen von Paris ist völkerrechtlich verbindlich und wurde bereits erfolgreich in einer Klage gegen Jair Bolsoneros Regierung in Brasilien juristisch als Menschenrechtsvertrag interpretiert und angewendet. Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hatte in Entscheidungen im April den Klimaschutz zur Menschenrechtsfrage erklärt. Juristen derzeit diskutieren sogar, ob man Energiefirmen und Regierungen wegen „Klima-Totschlags“ juristisch belangen könnte.

Der wissenschaftliche Konsens deutet also in eine Richtung, nach der die Klimaziele praktisch aller Nationen auf einem internationalen Level verfehlt werden, während eine neue Studie feststellt, dass diese Verfehlung der Klimaziele dazu führen wird, dass nicht weniger als 70% der Erdbevölkerung sich Extremwetterereignissen aller Art ausgesetzt sehen wird, verglichen mit „nur“ 20% bei eingehaltenen Klimazielen. Und zwar nicht 2100, sondern innerhalb der nächsten 20 Jahre mit „strong and rapid changes in extreme temperatures and rainfall“.

Sollten auch nur ein Bruchteil dieser 70% in den kommenden Jahren und Jahrzehnten juristische Maßnahmen gegen diese Beschränkungen ihrer Freiheit und Verletzungen ihrer Menschenrechte ergreifen und gegen Regierungen und Unternehmen vor Gericht ziehen, werden sich Big Oil und die Klimapopulisten konservativer Regierungen einem Extremwetterereignis ganz anderer, nämlich juristischer Art ausgesetzt sehen. Immerhin ein Aspekt des Klimawandels, auf den man sich freuen kann.

Der Klimawandel erzwingt geordnete Flächenrückzugspläne

piqer:
Ole Wintermann

In diesem spannenden Long Read bei „FastCompany“ geht es um den geordneten Rückzug von Immobilienbesitzern aus einem vom Klimawandel zunehmend bedrohten Gebiet. Im Zentrum steht eine Region in South Carolina, die immer häufiger von Überschwemmungen betroffen ist, die teils Ergebnis von vorher nicht bekanntem Starkregen oder aber von Stürmen sind.

Der Autor hat Gespräche mit Maklern, Verwaltungsmitarbeitern, mit Immobilienbesitzern geführt, die ihr Haus angesichts der Überschwemmungen bereits verkauft oder aber nicht verlauft haben. Er zeigt anhand der unterschiedlichen Verkaufsprozesse, dass wir in Ergänzung der formalen Bebauungspläne für den Neubau tatsächlich auch „staatlich verwaltete Rückbaupläne“ benötigen, um geordnete „Buyouts“ und Planbarkeit für die betroffenen Immobilienbesitzer zu garantieren. In den Gegenden, in denen es keine klare Regelung für die Auskunftspflichten der Makler gegenüber Käufern gibt oder in denen auch keine öffentlichen Überschwemmungskarten existieren, gibt es Spekulationsgewinne für die Makler und geschädigte Käufer, die nun in eigentlich nicht mehr bewohnbaren Häusern wohnen.

Solche Erkenntnisse wären sicher für die Menschen im Ahrtal nach der Katastrophe nützlich gewesen.

So soll es mit der UNO weitergehen

piqer:
Jürgen Klute

In den vergangenen Tagen habe ich bereits zwei Mal Artikel zur UNO-Zukunftskonferenz empfohlen: hier und hier. Diese kleine Reihe will ich heute vervollständigen und abschließen mit einem Artikel von Amélie Bottollier-Depois im Tageblatt Lëtzebuerg.

Am 22. September 2024 haben die UN-Mitgliedsstaaten einen Zukunftspakt beschlossen, der Antworten auf die globalen Herausforderungen vom Klimawandel bis zu militärischen Konflikten geben soll. Bottollier-Depois stellt den Kern des 56 Punkte umfassenden Zukunftspakts vor und ordnet ihn kurz politisch ein.

Leak aus Putins Desinformations-Fabrik

piqer:
René Walter

Facebook/Meta hatte Anfang der Woche mehrere russische Staatsmedien, unter anderem Russia Today (RT), gesperrt aufgrund von „Verschleierungstaktiken zur Ausführung von verdeckten Online-Operationen“. Die Sperre folgte einer Anklageerhebung des amerikanischen Justizministeriums gegen Mitarbeiter von RT, die „versucht haben (sollen), mit Propaganda, Bestechung und Hacking Einfluss auf westliche Demokratien zu nehmen und die öffentliche Meinung zu manipulieren“ (Social Media Watchblog). Unter anderem hatten die RT-Mitarbeiter rechte amerikanische Influencer (u.a. die prominenten Youtuber Tim Pool und David Rubin) verdeckt angeworben und bis zu 400.000 Dollar pro Monat für die Verbreitung russischer Propaganda gezahlt. Insgesamt sollen rund 10 Millionen Dollar geflossen sein.

Nun zeigt ein Leak von Dokumenten der russischen SDA („Social Design Agency“), offensichtlich der Nachfolger der berühmt-berüchtigten IRA („Internet Research Agency“, besser bekannt als „Putins Troll Armee“), dass diese Episode nur die Spitze des Eisbergs von Russlands Desinformations-Fabrik darstellt. Ein internationales Team aus Reportern, unter anderem von WDR, NDR und der Süddeutschen Zeitung, konnten nun interne Dokumente der SDA auswerten.

Die investigative Nachrichtenseite VSquare, ein internationales Team aus Journalisten und News-Organisationen aus Polen, Ungarn, Tschechien und der Slovakei, die ebenfalls Einblicke in den jüngsten Leak erhielten, berichten über die neue professionalisierte Desinformations-Fabrik:

The leak reveals how the SDA operates as a center for psychological warfare. Its “army” consists not of soldiers, but of meme creators and internet trolls. According to internal records, the agency employs “ideologists”, eight “commentators,” and a “bot farm operator.”
The scale of disinformation production is astonishing. A leaked report claims that in the first four months of 2024, the SDA’s bot army, dubbed the “Russian Digital Army,” generated 33.9 million comments. They also claim to have produced 39,899 “content units” on social media, including 4,641 videos and 2,516 memes and graphics.
Clear quotas are set. For example, in one project targeting Germany and France, the quotas were as follows: “Cartoons – 60 units. Memes – 180 units. Article comments – 400.”
There are hundreds of examples of memes in the leaked documents, some of which were created by cartoonists employed by the SDA.

In einem internen Video trägt SDA-Chef Ilya Gambashidze einen Hoodie mit dem Aufdruck „Russian Ideological Troops“. Die Ziele der SDA: „im Westen gezielt Stimmung für Russlands Narrative zu machen – und bestehende gesellschaftliche Konflikte zu verstärken.“

Genau das waren bereits die erklärten Ziele der ehemaligen IRA, deren Einflussnahme auf die 2016er Wahlen in den USA bekanntermaßen eben nicht nur durch Unterstützung rechter Narrative lief, sondern durch Unterstützung und Verbreitung sämtlicher polarisierender Inhalte. So kaufen russische Firmen politische Anzeigen auf Facebook, die mal Black Lives Matter, dann wieder Trump, dann wieder radikale No Policing-Forderungen unterstützten, mit dem Zweck die Gesellschaft als Ganzes zu destabilisieren. Der Impact der einzelnen Maßnahmen ist von Fachleuten umstritten, gleichzeitig aber nannte der ehemalige NSA-Chef Michael Hayden die russische Desinformations-Kampagne die „erfolgreichste verdeckte Einfluss-Operation der Geschichte“.

Während die IRA vor wenigen Jahren noch halb-chaotisch mit relativ wenigen Mitarbeitern vorging, deuten die geleakten Dokumente auf eine Professionalisierung hin. So seien etwa Listen mit „rund hundert Namen und Aufgabengebiete fester und freier Mitarbeiter“ ausgewertet worden, die Memes und russische Narrative in Sozialen Medien streuen oder mit der „Doppelgänger“-Methode die Websites bekannter Medienmarken fälschen, um Falschnachrichten zu verbreiten. Correctiv.org beschäftigt sich mit letztgenannter Desinformations-Kampagne schon seit längerem und erst Anfang September hatte das US-Justizministerium „dutzende Internet-Domains der von der russischen Regierung gesteuerten Doppelgänger-Kampagne abgeschaltet„, während das FBI in einem Dossier schrieb, dass das „russische psy-ops (psychological operations) team Deutschland als speziell anfälliges Ziel für russische Einflussnahme ausgemacht habe“. Wir erinnern uns an die AFD-Spionage-Affäre vom April, laut der unter anderem auch Gelder aus Russland flossen. In einer internen Beschreibung der „Doppelgänger“-Kampagne schreiben die russischen Propagandisten: „Wir unterstützen die Partei mit allen Mitteln“ und es solle „das Bild von Märtyrern, die für die Demokratie und Deutschlands nationale Interessen litten“ geschaffen werden. Klappt hervorragend, wie die EU-Wahlen und die Ergebnisse aus Thüringen zeigen.

Der von mir hier empfohlene Text auf Tagesschau.de bildet eine gute Übersicht zum neusten Leak. Für eine tiefgehendere Lektüre zu aktuellen Entwicklungen von Putins Online-Propaganda-Maschinerie hier noch einige Artikel aus den vergangenen Wochen, die sich mit Details und weiteren, umfassenderen Kontexten beschäftigen:

Oberste deutsche Ideenschmiede – die Sprind

piqer:
Jannis Brühl

Aus der Reihe „wenig bekannte, aber interessant-nerdige Regierungsprojekte“ kommt diese Reportage von Christoph Koch aus dem SZ-Magazin: Er stellt die Sprind vor, die Bundesagentur für Sprunginnovationen. Sie fördert Ideen und Start-ups, aus denen Patente (zum Beispiel für extrem hohe Windräder) und Produkte entstehen sollen, die die Gesellschaft weiterbringen.

Die Agentur will so etwas wie die deutsche Arpa (bzw. Darpa) sein. Das US-Vorbild entwickelte nicht nur die Urform des Internets, sondern auch „die Computermaus, die Saturn-Raketen der NASA-Mondmission und das Ortungssystem GPS“ (und war am mRNA-Boom beteiligt). So viel hat Sprind der Welt noch lange nicht geschenkt, aber der Artikel zeigt, wie zäh und spannend die Arbeit an solchen Ideen ist – und die Rolle, die der Staat beziehungsweise Steuerzahler dabei spielt. Schließlich gehört zum Rezept des Silicon Valley auch die oft vergessene Rolle staatlicher Förderungen, Entwicklungen und der Militärforschung.

Es geht nicht einfach nur um irgendeine Behörde, es geht auch um die Fragen: Wie entsteht Innovation? Wie kommen wirklich nützliche Ideen in die Welt? Eine Antwort lautet: Altruismus hilft. Sprind ist bereit, auch Geld zu versenken – ein Vorteil staatlicher Förderstellen im Vergleich zu Risikokapitalgebern.

Und: Offene Forschung und ein Gemeinschaftsgefühl sind für Erfinder oft Ehrensache. Koch beschreibt das anhand eines Wettbewerbs, in dem Erfinderteams selbstständig navigierende Drohnen gegeneinander antreten lassen. Stürzt eine Drohne ab, gibt es Verbesserungsvorschläge vom Gegner.

Ich habe gelernt: Gute Ideen sind zum Teilen da.