In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst Forum (früher piqd) eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. Formum.eu versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.
Was wirklich das Problem der deutschen Wirtschaft ist
piqer:
Antje Schrupp
Der deutschen Wirtschaft geht es nicht gut, und Politiker*innen wie Medien überschlagen sich derzeit mit Thesen, woran das liegen könnte – einer angeblich unkontrollierten Migration, dem unglücklichen Agieren des Wirtschaftsministers, der bösen Welt drumherum. Aber das wichtigste Problem ist ein anderes, und Larry Elliott, Wirtschaftsredakteur des Guardian, hat in diesem Meinungsartikel schonungslos aufgeschrieben, wie es ist:
Deutschland war einst ein Wirtschaftsmodell, dem man nacheifern sollte, aber seine Abhängigkeit von Industrien, die ihr Verfallsdatum überschritten haben, kommt das Land teuer zu stehen.
Die deutsche Wirtschaft hat sich viel zu lange, unterstützt von einer Politik des „Immer weiter so“, in der eigenen Überlegenheit gesonnt und vom Ersparten gelebt. Investitionen in die Zukunft wurden versäumt, weil es doch in der Gegenwart so gemütlich für alle ist. Investitionen hat man sich gespart – von der Bildung über Mobilitätsinfrastruktur bis zur Digitalisierung. Jetzt ist die deutsche Wirtschaft in fast allen Zukunftsbranchen hinterher, von E-Autos bis zur künstlichen Intelligenz.
Die AfD als Wohlstandsvernichterin
piqer:
Jürgen Klute
Die sogenannte „Alternative für Deutschland“ scheint aus wirtschaftlicher Sicht tatsächlich eine Alternative zu sein, denn sie garantiert eine Alternative zum gesellschaftlichen und individuellen Wohlstand: Wohlstandvernichtung. Bei genauerem Hinsehen entpuppt die AfD sich offensichtlich als Wohlstandvernichterin.
In dem prägnanten Interview des taz-Redkateurs Simon Poelchau begründet der Chef des Deutschen Instituts der Wirtschaft in Berlin (DIW), Marcel Fratzscher, diese These als gut nachvollziehbar. Gleichzeitig zeigt Fratzscher Wege auf, wie aus seiner Sicht der Wohlstand erhalten werden kann. Für gefährlich hält Fratzscher es, „wenn die demokratischen Parteien versuchen, die AfD zu kopieren und migrationsfeindliche Politik machen“, da sie damit in die Falle der AfD laufen und genau die wohlstandsvernichtende Politik der AfD umsetzen, die es dem DIW-Chef nach zu vermeiden gilt, um dem Rechtsextremismus den Boden zu entziehen.
Die USA, ein spätes „Sowjetamerika“?
piqer:
Thomas Wahl
Vor etwa 2 Monaten hatte Rico Grimm hier auf forum.eu einen interessanten Essay von Niall Ferguson empfohlen. Dieser hatte auf „the free press“ den Zustand der heutigen USA mit der absterbenden Sowjetunion verglichen, unter dem Motto:
Eine Regierung mit einem dauerhaften Defizit und einem aufgeblähten Militär. Eine falsche Ideologie, die von Eliten vorangetrieben wird. Schlechte Gesundheit unter gewöhnlichen Menschen. Senile Führer. Kommt dir das bekannt vor?
Nun antwortet in der NZZ der russische Ökonom und Putinkritiker Wladislaw L. Inosemzew auf N. Ferguson. Er reagiert dabei nicht immer direkt auf die Vergleiche von Ferguson und übersieht auch etwas die von diesem genannten Unterschiede. Und doch ist die Sicht des „gelernten“ Russen auf den Westen und die Sowjetunion interessant. Er warnt vor der im Westen verbreiteten „Weltuntergangsstimmung“ angesichts der Offensiven der globalen Gegenspieler und der wachsenden Zahl der Konflikte. Die angebotenen historischen Parallelen, die die heutigen Prozesse erklären sollen, um gleichzeitig vor deren zukünftigen Folgen zu warnen, scheinen dabei oft als Zweckkonstruktionen. Dabei werden angesichts des aktuellen rasanten Aufstiegs Chinas und der Aggressionen Russlands die damaligen sowjetischen Erfolge überschätzt. Man neige dazu
die dramatischen und offensichtlichen Unterschiede zwischen der Sowjetunion und dem heutigen Westen zu vernachlässigen, indem … [man] sich auf formale Ähnlichkeiten konzentrier[t].
So sei das sowjetische Plansystem während der gesamten 70 Jahre seines Bestehens nicht in der Lage gewesen, mit der technologischen Revolution der industrialisierten Welt Schritt zu halten.
Mehr als 2000 Fabriken wurden in der UdSSR vom Ende der Zwanziger bis zum Anfang der siebziger Jahre von westlichen Unternehmen errichtet und keine einzige von einheimischen Spezialisten. Kein neues Konsumgut kam auf den sowjetischen Markt, bevor es nicht in den USA eingeführt worden war. Die sowjetische Volkswirtschaft war nicht von ökonomischen Zielen angetrieben; sie unterdrückte die Privatinitiative und schuf Bedingungen, die Wert vernichteten und nicht schufen, da viele sowjetische Produkte letztlich weniger kosteten als die für ihre Herstellung verwendeten Rohstoffe.
Ebenso steht es mit dem Vergleich der sowjetischen „weichen Budgetrestriktionen“ im öffentlichen Sektor mit den heutigen westlichen Haushaltsdefiziten. So war die UdSSR zwischen 1945 und 1991 zwecks Konfiskation privaten Reichtums gezwungen
mindestens drei «Währungsreformen» [durchzuführen] und im gleichen Zeitraum zweimal ihre inländischen Anleihen …[«zu annullieren»]. Das Land war streng genommen permanent bankrott. Darüber hinaus zwang die sowjetische imperiale Ambition der Globalisierung des Kommunismus den Kreml, Dutzende von Milliarden Dollar in seine nutzlosen Satelliten zu investieren, während der von den USA betriebene Welthandel Billionen in die amerikanische Wirtschaft fliessen liess. Nur schon dieser Unterschied erklärt, warum die Sowjetunion niemals zu einem globalen Hegemonen geworden ist.
Der permanente dramatische „Unterkonsum“ der Bevölkerung ermöglichte dem Staat enorme Summen für Rüstung oder die „Eroberung des Weltraums“ sowie für riesige, aber ineffiziente Industrie- und Infrastrukturprojekte auszugeben. So schätzt man:
Auf Seiten der UdSSR wird der Anteil der Rüstungs- und Militärausgaben am Staatshaushalt auf 19 bis 33 Prozent taxiert, wobei die Aufwendungen inflationsbereinigt zwischen 1965 und 1988 verdoppelt wurden. […]. Tatsächlich soll die Sowjetunion rund 15 Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts Jahr für Jahr in das Militär investiert haben. In den USA waren es dagegen nur sechs Prozent, in der Bundesrepublik drei und in Japan eins.
Hinzu kamen laut dieser Quelle die Transferzahlungen der Sowjetunion an seine Verbündeten in Osteuropa. Die schwollen u.a. zwischen 1975 und 1981 von 5,3 auf 18,6 Milliarden Dollar an. Das Volk der UdSSR hatte sicher die naive Hoffnung, dass die Politik ihrer Führer irgendwann den zukünftigen Generationen zugutekomme. Tatsache bleibt hingegen, wie es Inosemzew formuliert:
Das sowjetische kommunistische Modell zerstörte systematisch und über die Generationen hinweg den Willen zur Produktivität, während das amerikanische kapitalistische Modell bis heute einen ständig wachsenden Drang nach Innovation, Wachstum und Erfolg erzeugt.
Ich würde es nicht ganz so idealisiert formulieren. Die Amerikaner sind durchaus der Versuchung erlegen, die billigen Waren aus China zu genießen und eigene Industrien dafür herunterzufahren. Oder sie glaubten, durch riskante Finanzspekulationen schnellen Reichtum zu erlangen. Der Drang nach Innovation, Wachstum und Erfolg ist also auch dort keine sichere Konstante.
Und so arbeitet sich Inosemzew an weiteren Vergleichspunkten ab, nicht immer in der gebotenen Tiefe. Was man aber in einem Artikel nicht erwarten kann. So etwa, was die Militärmacht betrifft:
Im Irak übertraf die amerikanische Militärmacht sowohl 1991 als auch 2003 jene des Gegners dramatisch – und nicht anders wäre es, wenn die Nato beschliessen würde, den «Wüstensturm» im Donbass zu wiederholen. Die sowjetischen Waffen waren nie besonders effektiv: Dafür gibt es zahllose Belege, vom arabisch-israelischen Krieg 1973 bis zum sowjetischen Einmarsch in Afghanistan 1979, so dass es wenig Grund zur Annahme gibt, dass mit den militärischen Fähigkeiten des Westens grundsätzlich etwas im Argen liegt.
Was den Vergleich von Ideologie und Gesellschaft betrifft, macht der Autor klar, dass
die Sowjetunion keine Nation im modernen Sinne war, sondern eine Art Patchwork-Imperium, das aus «nationalen Republiken» und «autonomen Einheiten» bestand.
Und die, sobald die Gelegenheit da war, versuchten unabhängige Nationalstaaten zu werden. Wohingegen sich die Amerikaner wohl mehrheitlich als eine Nation verstehen. Bei all ihren Problemen mit Integration und Zuwanderung.
Inosemzew argumentiert auch dagegen, die aktuell verbreiteten „links-woken Ideologien“, mit der erzwungenen kommunistischen Staatsideologie zu vergleichen.
Die heutige Linke im Westen geniesst eine Gedanken- und Redefreiheit, wie es sie im Mutterland des Kommunismus nie gegeben hat. Sie entwickelt und verbreitet ihre Gedanken in Konkurrenz zur konservativen Rechten, die bei den Wahlen die Oberhand gewinnen könnte, so dass es sich beim linken Aufbruch um ein vorübergehendes Phänomen handeln könnte.
Das sollten wir nie vergessen, es ist der wesentliche Kern der Demokratie.
Wahl in Sachsen und Thüringen: Klimaschutz ist abgewählt
piqer:
Nick Reimer
„Die Wahlergebnisse sind katastrophal für den Klimaschutz.“ Die Einschätzung stammt von Klima-Ökonomin Claudia Kemfert, die unter anderem im DIW für die Energiepolitik zuständig ist. Die Union habe mit ihrer Kampagne gegen die Bündnisgrünen am eigenen Ast gesägt. Das, was zum Thema Energiewende in den CDU-Wahlprogrammen steht, sei nur mit den Grünen zu erreichen, die aber hätten die CDU-Wahlkämpfe zu ihrem „Hauptfeind“ erklärt, so Kemfert.
Nun also Sahra Wagenknecht. Das BSW streite „zumindest den Klimawandel schon mal nicht ab“. Auch will das Bündnis, das den Namen Sahra Wagenknechts trägt, die Erneuerbaren ausbauen, Agri-PV, Bio-Energie und die Wärmewende fördern. Allerdings lehnt das BSW einen früheren Kohleausstieg ab, will dafür wieder Erdgas aus Russland kaufen. In Thüringen sieht das Bündnis Windenergie im Wald als Problem. Die Klima-Ökonomin erwartet schwierige Koalitionsverhandlungen.
Egal ob im Erzgebirge, in Westsachsen, der Rödernschen Heide nördlich von Dresden oder sonst wo im Freistaat: Wo immer ein Windkraft-Projekt zwischen Neiße und Zwickauer Mulde bekannt wird, bildet sich eine Bürgerinitiative, die das Projekt bekämpft. Das hat die Politik in Sachsen nachhaltig beeinflusst. „Die Energiewende ist gescheitert“, erklärte Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) vor der Wahl. Die AfD sagt schlicht „nein“ zur Windkraft und publizierte „sieben Windenergiemärchen“.
Was nicht ohne Folgen blieb: Nur im kleinen Saarland und in Berlin gibt es weniger Windräder als in Sachsen. Und statt zu steigen, sinkt ihre Anzahl, denn die ältesten Anlagen fallen seit 2020 aus der EEG-Förderung raus und arbeiten dann selten noch wirtschaftlich. 2018 gab es noch 933 Anlagen, seitdem wurden mehr abgebaut, als neu hinzukamen: Derzeit sind es nur noch 873 Windräder. Im ersten Halbjahr 2024 wurde in Sachsen gerade einmal ein neues Windrad aufgestellt.
Während der Strom im bundesdeutschen Durchschnitt mittlerweile zu 58 Prozent aus Erneuerbaren kommt, sind es in Sachsen noch keine 30 Prozent. Das sorgt mittlerweile dafür, dass der Ausbau der regenerativen Energien einen milliardenhohen Zahlungsausgleich zwischen den Bundesländern mit sich bringt. Zwar erhielt Sachsen durch den Länderfinanzausgleich im vergangenen Jahr knapp 3,4 Milliarden in seine Staatskassen. Weil in anderen Bundesländern der Anteil an erneuerbarem Strom höher ist, zahlten die Sachsen über die EEG-Umlage etwa genau so viel an Schleswig-Holstein, Niedersachsen, Bayern oder Brandenburg. Und diese Kaufkraft fehlte in Sachsen, und damit auch die Steuereinnahmen.
Thüringen ist nicht ganz so gebeutelt wie Sachsen: Während es dort noch drei große Kohlekraftwerke gibt, läuft in Thüringen keines mehr. 2022 kamen mehr als 60 Prozent des Stromes in Thüringen aus Erneuerbaren, hier lieferten neben der Windkraft Photovoltaik und Biomasse große Anteile. Deshalb bekam Thüringen auch Geld über die EEG-Umlage – anders als die Sachsen, die zahlen müssen. Allerdings fürchtet DIW-Expertin Claudia Kemfert im Podcast mit dem MDR, dass eine neue Regierung aus Union und BSW den Ausbau nicht vorantreibt – einfach weil sie Klimaschutz nicht so wichtig nimmt.
Maßnahmen gegen das Problem der „Auto-Adipositas“ gefordert
piqer:
Ole Wintermann
„Mobesity“ – oder mobiles Adipositas – ist laut Christian Brand von der Oxford University in diesem Beitrag für NATURE das große Problem der Autoindustrie, das eine umfassende nachhaltige Transformation der Autoindustrie verhindert.
Mit Mobesity beschreibt er den scheinbar natürlichen Drang der Autoindustrie, nach der Umstellung einzelner Fahrzeug-Konzepte auf E-Mobilität sogleich mit dem vollkommen unnötigen und nicht nachhaltigen Großwuchs der SUV fortzufahren. Dieser Großwuchs konterkariert das Bemühen um eine nachhaltige Transformation, da die Vorteile der E-Mobilität durch die steigenden Nachteile des umfassenden Ressourcenverbrauchs der SUV-Dinosaurier aufgewogen werden.
Seine Lösungsvorschläge setzen beim Verbraucherverhalten, politischen Regulierungen und technischen Innovationen an. Im Kern stehen aber politische Maßnahmen, die die Konsumierenden dahingehend nudgen, kleinere, wendigere und günstigere Autos zu erwerben. Diese Maßnahmen können bei der konsequenten Besteuerung von Ressourcenverbrauch auf nationaler Ebene und auch bei der Verdrängung des Autos aus dem unmittelbaren Wohnumfeld der Menschen in den Städten ansetzen. Auch entsprechende Vorgaben zum Erreichen einer Kreislaufwirtschaft in dieser Branche würden eher einfacher konstruierte und kleinere E-Autos befördern.