Interview

„Das Konzept der gewerkschaftlichen Solidarität ist erneuerungsbedürftig“

Ein Gespräch mit Gewerkschaftssekretär Christian Weis über die Potenziale der Lieferkettengesetzgebung für die Gewerkschaften und die Bedeutung von Nachhaltigkeit für die deutsche Industrie.

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Das deutsche Lieferkettengesetz stellt nicht nur Unternehmensführungen, sondern auch Betriebsräte vor neue Herausforderungen. Christian Weis ist Gewerkschaftssekretär im Vorstand der IG Metall, wo er zu betriebspolitischen Themen und im Ressort für Unternehmenspolitik und transnationale Konzerne arbeitet.  Unter anderem organisiert sein Bereich Weiterbildungen zum Lieferkettengesetz. Mit Leon Raabe, Michael Reck und Sarah Mewes vom Next Economy Lab (NELA) sprach Weis über die Potenziale der Lieferkettengesetzgebung für die Gewerkschaften und die Bedeutung von Nachhaltigkeit für die deutsche Industrie.

Herr Weis, welche Potenziale bietet das Lieferkettengesetz (deutschen) Gewerkschafter*innen, um sich für gute und nachhaltige Arbeitsbedingungen weltweit einzusetzen?

Christian Weis: Das Gesetz bietet das erste Mal eine gute Möglichkeit für die Betriebsräte, in dieser Debatte mitzuwirken. Denn bisher haben Fragen zu Lieferketten in deren Arbeit keine große Rolle gespielt. Es ging immer mehr um die Fragen nach den Unternehmens-, Standort- und Arbeitnehmer*inneninteressen.

Das Interesse, sich Lieferketten genauer anzuschauen, gab es allerdings schon vor dem Lieferkettengesetz, seit den 1990er Jahren. Die IG Metall und unser globaler Gewerkschaftsdachverband IndustriALL Global haben diese Bewegung mitgeprägt und mit deutschen Konzernen Globale Rahmenvereinbarungen (GRV) geschlossen. Darin sind einige internationale Kernarbeitsnormen der ILO (Internationale Arbeitsorganisation), manchmal auch die Arbeitsbedingungen bei Zulieferern und Ansätze von Sorgfaltspflichten der Konzerne vertraglich festgehalten. Der Abschluss dieser Vereinbarungen ist jedoch freiwillig und bei Verstößen manchmal nicht wirkmächtig genug.

Mit dem deutschen und dem europäischen Lieferkettengesetz wird dieser Mechanismus weiter ausgebaut. Für Arbeiter*innen weltweit gibt es zum ersten Mal den rechtlichen Anspruch, mit den Konzernen in Kontakt zu treten und auf Verstöße im eigenen Geschäftsbereich und in der Lieferkette hinzuweisen. Gleichzeitig gibt es eine Verpflichtung der Unternehmen, sich den Hinweisen und Verstößen anzunehmen. Mit diesem Paradigmenwechsel geht ein enormes Potential einher, Menschenrechte in den Lieferketten besser durchzusetzen und den Arbeiter*innen einklagbare Rechte zuzusichern, die sie bisher in diesem Umfang noch nicht hatten.

Was können BRs konkret machen, um die Beschwerdemechanismen und das Lieferkettengesetz umzusetzen?

Um Beschwerdemechanismen global durchsetzen zu können, bauen Betriebsräte aus großen Konzernen auf Strukturen, die sie global miteinander vernetzen. In den vergangenen 30 Jahren wurden bereits in einer Reihe großer deutscher Unternehmen globale Netzwerke und sogar „Weltbetriebsräte“ aufgebaut und. Durch Globale Rahmenvereinbarungen (GRV) sind regelmäßige Treffen der Netzwerke vertraglich festgehalten. Es findet also weltweit ein regelmäßiger Austausch auf Konzernebene statt und die deutschen Betriebsräte bekommen von den Problemen vor Ort mit. Das betrifft auch Probleme in der Zulieferkette aus anderen Ländern.

Mit dem neuen Lieferkettengesetz geht ein Informations- und Konsultationsrecht einher. Die Betriebsräte müssen bei der Umsetzung der menschenrechtlichen Sorgfaltspflichten im Konzern einbezogen werden. Im Lieferkettengesetz wird der Wirtschaftsausschuss genannt, ein Ausschuss des Betriebsrats. Der im Zuge des Lieferkettengesetz angepasste Paragraf 106 des Betriebsverfassungsgesetzes verpflichtet das Management dazu, in diesem Gremium Auskunft über unternehmerischen Sorgfaltspflichten und dem Risikomanagement in den Lieferketten zu geben. So können Betriebsräte in den Dialog mit dem Arbeitgeber treten.

Weiterhin können sich Mitbestimmungsträger bei der Errichtung eines Risikomanagementsystems mit ihren Themen einbringen. Viele Umsetzungsschritte des Gesetzes sind mitbestimmungspflichtig. Das bedeutet, dass nur mit der Unterschrift des Betriebsrates bestimmte Maßnahmen, wie zum Beispiel die Einführung eines internen Beschwerdemechanismus, rechtlich wirksam werden. Deshalb schulen wir als Gewerkschaft die BRs darin aktiver zu werden und unterstützen sie bei der mitbestimmten Umsetzung der menschenrechtlichen Sorgfaltspflichten in Konzernen.

Welche konkrete Rolle sollten Betriebsräte Ihrer Meinung nach bei der Umsetzung des Lieferkettengesetzes spielen? Und wie proaktiv sollten sie dabei sein?

Die Betriebsräte sollten bei der Gestaltung ganz vorne mit dabei sein und mitbestimmen. Das ist zum Beispiel bei der Formulierung der menschenrechtlichen Grundsatzerklärung der Fall, aber auch bei der Planung von Maßnahmen, um Verstöße in der Lieferkette abzustellen. In diesem Zusammenhang schlagen wir als IG Metall ein freiwillig vereinbartes und paritätisch besetztes Menschenrechtskomitee vor. Dort sollen Betriebsräte mit der Arbeitgeberseite alle Phasen der Sorgfaltspflichten mitsteuern und damit bei der Erreichung von Nachhaltigkeitszielen mitwirken.

Weiterhin sollen die Betriebsräte in alle Prozesse der Umsetzung des Gesetzes im Unternehmen eingebunden werden und sowohl beim Monitoring als auch bei der regelmäßigen Berichterstattung mitwirken. Das alles versuchen wir gerade in einigen Pilotunternehmen umzusetzen. Es geht bei Fragen der Lieferkette auch darum, erstmal für den Mehrwert der Mitbestimmung bei den Betriebsräten zu werben, damit diese in Zukunft auch angenommen werden.

Was müsste sich in Zukunft ändern, damit das Lieferkettengesetz besser umgesetzt wird?

Kein Akteur kann allein die Komplexität von Lieferketten analysieren. Es sind unterschiedlichste Expertisen gefragt, auch innergewerkschaftlich, um Hinweise zu geben wie die Beiträge von Gewerkschaften und Betriebsräten in Zukunft aussehen können. Wir als Einzelgewerkschaft können das nicht allein bewerkstelligen und sind auf die Informationen von Dritten angewiesen. Für einen guten Informationsfluss in Bezug auf die Lieferkettengesetze braucht es daher eine stärkere Koordinierung von Einzelgewerkschaften in Deutschland, Europa und global. In Deutschland gibt es Zuständigkeiten der Einzelgewerkschaften, die sich in Europa und global aber anders abbilden.

Was in Deutschland beispielsweise von der IG Metall organisiert wird, wird in anderen Ländern von der Dienstleistungs- oder einer anderen Branchengewerkschaft erledigt. Das heißt: Wir brauchen mehr Abstimmungs- und Koordinierungsarbeit des DGB für die verschiedenen Einzelfragen. Und es müssen europäische und globale Prozesse entwickelt werden, die einen systematischen Umgang mit Einzelbeschwerden ermöglichen, Verantwortlichkeiten klar zuweisen und die Bearbeitung der Beschwerden gewährleisten. Das muss sich verändern.

Es sollte außerdem ein vertrauensvoller und kollegialer Rahmen für die enge Zusammenarbeit zwischen Gewerkschaften und NGOs geschaffen werden, um auf zivilgesellschaftlicher und gewerkschaftlicher Ebene erfolgreich zusammenzuarbeiten. Die Kooperation könnte in einem ähnlich regelmäßigen Rahmen stattfinden wie zwischen den Gewerkschaften und sich ebenfalls um anfallende Einzelfragen aus den Unternehmen und Beschwerden kümmern.

Das klingt nach jeder Menge Zusatzaufwand. Wieso sollten sich deutsche BRs überhaupt für Nachhaltigkeit, bessere Arbeitsbedingungen im globalen Süden und für eine Umsetzung des Lieferkettengesetzes interessieren?

Wenn wir es nicht schaffen, die deutsche und europäische Industrie nachhaltig auszurichten, im Rahmen der sich ja schon längst vollziehenden Veränderungen, dann sind Arbeitsplätze gefährdet. Mit einem Risikomanagement kann beispielsweise verhindert werden, dass Investoren oder Kunden abspringen oder dem Unternehmen rechtliche Folgen drohen aufgrund von Menschenrechtsverletzungen, die wiederrum die hiesige Beschäftigung gefährden. Das ist ein Hauptgrund, warum sich ein BR mit Lieferketten beschäftigen sollte.

Es besteht zudem die Gefahr, dass Betriebsräte im Verlauf des Nachhaltigkeitsprozesses der Unternehmen abgehängt werden, wenn sie das Zukunftsthema der Nachhaltigkeit nicht als Standardaufgabe definieren. Daher sollten sie das Lieferkettengesetz zentral aufgreifen. Wegen der vielen gesetzlichen Vorgaben schätze ich, dass die Betriebsräte in Zukunft zum Thema der Nachhaltigkeit ganz erheblichen Einfluss haben werden – auf die Zukunftsfähigkeit der Unternehmen in Deutschland und weltweit.

Wir müssen jeden einzelnen Betriebsrat erreichen: Ein Betriebsrat ist gewählt und hat ein Mandat. Dieses ist örtlich auf den Betrieb begrenzt, in dem er seine Wählerschaft hat. Dass ein Betriebsrat also betriebsübergreifend agiert und sich mit anderen Betriebsräten in Deutschland, in Europa und global oder mit weiteren Akteuren vernetzt, ist kein Selbstläufer. Die Vernetzung über den eigenen Standort hinaus ist absolut zentral. So erlangen die Betriebsräte mehr Macht und Möglichkeiten, um im Konzern zu  steuern und mitzugestalten. Sie können Gefahren frühzeitig erkennen, die sie als Betriebsrat am Standort gar nicht überblicken könnten.

Durch die Vernetzung wollen wir die Betriebsräte stärken. Die Erfahrung von transnational vernetzten Betriebsräten in den großen Konzernen zeigt uns, dass sie oft über Dinge früher Bescheid wissen als das deutsche Management. Damit haben unsere Betriebsräte andere Möglichkeiten zu agieren und sind in der Lage, rechtzeitig Gefahren abzuwenden z.B. in Bezug auf die Einhaltung des Lieferkettengesetzes.

Man könnte also sagen, dass solidarisches Handeln in Bezug auf Lieferketten einen gewissen Selbstschutz darstellt?

Solidarität spielt eine Rolle. Allerdings ist das Konzept der gewerkschaftlichen Solidarität erneuerungsbedürftig. Es ist wegen des Drucks auf die Gewerkschaften durch die Unternehmen – Stichwort Standortkonkurrenz – nicht immer belastbar. Dem zu begegnen ist schwierig. Gewerkschaftliche Solidarität muss aufgebaut werden und ist das Ergebnis von jahrelanger vertrauensvoller Zusammenarbeit.

Deshalb sehe ich Solidarität eher als ein zu erarbeitendes Ziel. Durch die Vernetzung, die wir seit mehr als drei Dekaden voranbringen, sollen sich diese Netzwerke bilden, die am Ende solidarisch zusammenstehen. Aber ich bin vorsichtig: Wir sehen eine Phase der Renationalisierung der Politik und wir haben Angriffe auf das Globale allerorten. Und es wird immer schwieriger, diese Solidarität mitzuorganisieren. Oft ist sich jeder selbst am nächsten. Und dass es am Ende nicht mich trifft, sondern irgendjemanden anderen.

Dasselbe lässt sich auf die Lieferkette übertragen: Hauptsache die Kollegen im eigenen Betrieb vor Ort sind nicht betroffen. Dem müssen und können wir etwas entgegensetzen. Das geht nur, indem wir internationale Netzwerke stärken und ein Klima der fruchtbaren Zusammenarbeit schaffen, in dem wir realisieren, dass wir gemeinsam stärker sind.

 

Hinweis:

Dieses Interview ist Teil des Projekts „Die globale sozial-ökologische Transformation – eine Veranstaltungsreihe zur Rolle der Gewerkschaften“, das von ver.di GPB und dem Next Economy Lab (NELA) durchgeführt und von Engagement Global mit Mitteln des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) und der Postcodelotterie gefördert wurde. Mehr Informationen, Aufzeichnungen der Keynote-Vorträge, sowie der im Projekt veranstalteten Online-Podiumsdiskussionen finden Sie hier.