In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst Forum (früher piqd) eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. Formum.eu versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.
Wer kennt Angela Merkel?
piqer:
Thomas Wahl
Unter dem Titel „Schicksalsjahre einer Kanzlerin“ bringt die ARD, anlässlich des 70. Geburtstages (am 17. Juli) von Angela Merkel eine 5-teilige Dokumentation. Eine Rezension in der FAZ beginnt so:
Kein Mensch kennt Angela Merkel, sagt Samira El Ouassil. Kein Mensch? Kennen wir sie nicht alle, die frühere Bundeskanzlerin, die das Land 16 Jahre lang regierte? Wir kennen sie nicht, und wir kennen sie, wenn wir ehrlich sind, sehr wohl. Denn Angela Merkel ist ein Spiegel unserer selbst und der Verfasstheit dieses Landes. Sie ist kaum zu greifen, aber durchaus zu begreifen. „Das schwer Greifbare“, sagt Marina Weisband, „ist, was einen in einem eher ängstlichen Land mehrheitsfähig macht. Was schwer greifbar ist, da kann man viel drauf projizieren. Jeder hat sich so seine eigene Angela Merkel zurechtprojiziert, wie er sie haben wollte. Und dadurch konnte sie gewählt werden.
Ich habe begonnen, mir die Folgen in der Mediathek anzusehen. Und frage mich jetzt auch, wer war diese Frau, wer oder was war unsere Bundeskanzlerin? Aber auch wer und was waren wir selbst in dieser Geschichte, die da noch mal an uns vorbeizieht? Ja, man erfährt wirklich etwas über sich selbst in diesem Film – alte Gedanken und vor allem Gefühle kommen hoch. Das Unfassbare, Atemlose der Wendezeit und die turbulenten Jahre danach. Und wieder die FAZ:
Die Stationen ihres Werdegangs sind bekannt: Jugend in der DDR, Aufwachsen in einer Pfarrersfamilie, berufliche Anfänge als Physikerin, politischer Start beim Demokratischen Aufbruch, dann bei der CDU, Karriere im Raketentempo in der Partei und im Kabinett von Helmut Kohl, Königsmörderin, die den Sturz ihres Förderers herbeiführte und nicht nur überlebte, sondern – als Retterin der CDU – zum Sprung an die Spitze nutzte; glanzlose Wahlsiegerin gegen Gerhard Schröder, der seine Niederlage bei der Bundestagswahl 2005 nicht kapierte; Kanzlerin der Effizienz, dann der Herzen, mit „Signature Move“, wie LeFloid sagt (die „Merkel-Raute“); dann Hassfigur der neuen Rechten und Menetekel in vielfacher Hinsicht; zu Beginn offen im kleinen Kreis, unterhaltsam und witzig, am Ende wie eine „verpanzerte Schildkröte“, wie Evelyn Roll meint und – die ewige Außenseiterin; abgelöst von Olaf Scholz, der sie im Habitus kopierte und genau deshalb bis heute im Amt ist. Was früher das „Merkeln“ war, sei heute das „Scholzen“, sagt Tilo Jung.
Im Hintergrund bald immer wieder Wladimir Putin. Dann der Atomausstieg und der berühmte Spruch „Wir schaffen das“. Sie regierte, in dem sie reagierte. Aber wofür stand sie? Alles vorbei und vergangen? Mitnichten, unser Heute ist geprägt durch diese mindestens 16 Jahre Angela Merkel. Insofern ist ihre-unsere Geschichte auch unsere Zukunft. Also sehen und versuchen zu verstehen.
Das Lieferkettengesetz schützt ArbeiterInnen
piqer:
Jürgen Klute
In kaum einem anderen EU-Mitgliedsland ist das Lieferkettengesetz, das von Unternehmen verlangt, entlang einer kompletten Lieferkette für die Einhaltung von Menschenrechten und Umweltschutzregeln Sorge zu tragen, ideologisch so umkämpft wie in der Bundesrepublik. Das mag daran liegen, dass die bundesdeutsche Wirtschaft häufiger in Lieferketten eingebunden ist als die Wirtschaften kleinerer EU-Länder.
Kurz bevor die EU ihre Lieferketten-Richtlinie verabschiedete, verabschiedete der Bundestag ein deutsches Lieferkettengesetz, das aber nicht ganz so weitreichend ist wie die entsprechende EU-Richtlinie. Man kann diesen deutschen Vorstoß als Vorreiterrolle lesen, man kann ihn aber auch als einen Versuch lesen, der EU zu signalisieren, wo die Grenzen in der Bundesrepublik verlaufen, wenn es um die Umsetzung von Menschenrechten und Umweltschutzregelungen geht. Und die sind enger als auf EU-Ebene.
Kürzlich hat noch einmal das Institut der deutschen Wirtschaft in seinem Informationsdienst iwd das Lieferkettengesetz kritisiert. Thomas Wahl hat diesen Artikel des iwd hier vorgestellt.
Dass ein arbeitgebernahes deutsches Wirtschaftsinstitut das Lieferkettengesetz kritisiert, überrascht nicht. Unternehmen haben tatsächlich einen Mehraufwand, der die Kritik des iwd zwar nicht unbedingt rechtfertigt, sie aber als Interessenvertretung seitens der Wirtschaft nachvollziehbar macht.
Aus Sicht von Arbeitnehmer:innen erfährt das Lieferkettengesetz hingegen eine deutlich positivere Wertung. Darauf verweist Hannes Koch in einem Artikel für die taz. Am Beispiel eines Konfliktes zwischen dem Bekleidungsdiscounter KIK und einem pakistanischen Zulieferer, der mit einer pakistanischen Gewerkschaft im Konflikt liegt, zeigt Koch auf, dass und wie das Lieferkettengesetz die Interessenvertretung von Textilarbeiter:innen in Pakistan stärkt. Dass die Arbeitnehmer:innen am unteren Ende der Lieferketten infolge des Lieferkettengesetzes etwas mehr vom Kuchen abbekommen und die Unternehmen am oberen Ende der Lieferketten in der EU etwas weniger, war vom Gesetzgeber im Sinne von Menschenrechten und sozialer Gerechtigkeit beabsichtigt.
Wie Koch anmerkt, gehört das im nordrhein-westfälischen Bönen ansässige Unternehmen KIK allerdings zu der Gruppe von Unternehmen, die sich um eine konstruktive Umsetzung des Lieferkettengesetzes bemühen und so zu seinem Fortschritt im Verhältnis zwischen Unternehmen und Gewerkschaften in Pakistan beitragen.
„Jetzt sind wir alle Sowjets“
piqer:
Rico Grimm
Dieser Text bürstet komplett gegen den Strich. Einige von euch, die ihn lesen werden, werden ihn nicht gut finden, mehr noch, sie werden denken, ob ich mich jetzt auch langsam, aber sicher auf den Weg so vieler Journalisten mache und weit rechts abbiege.
Denn der Historiker Niall Ferguson vergleicht in dieser Analyse die USA mit der Sowjetunion und findet viele Parallelen. Angefangen mit einer völlig entkoppelten und überalterten Führungsklasse, hohen Schulden und etwas, was er eine „bogus ideology“ nennt und damit all das meint, was heutzutage als „woke“ bezeichnet wird.
Ich empfehle diesen Text gerade weil er so sehr zum Widerspruch anregt. Als ich ihn gelesen hatte, kam ich aus dem Kopfschütteln nicht mehr raus. Entweder zustimmend oder ablehnend.
Am Ende war ich um einen Interpretationsrahmen für diese unübersichtliche Welt reicher: Im neuen Kalten Krieg zwischen den USA und China spielen die USA die Rolle des zerfallenden Imperiums.
Ob der stimmt? Weiß ich nicht. Aber ein Realitätscheck ist es allemal.
Reuters deckt Desinformations-Kampagne des US-Militärs auf
piqer:
Ole Wintermann
Im Zeitalter der Desinformationen durch Putin und die HelferInnen seines Regimes kommt immer stärker die Frage auf, wer oder was Garant der einen Wahrnehmung von Realität sein könnte. Staatlichen Institutionen oder öffentlich-rechtliche Medien genießen in dieser Frage – relativ gesehen – nach wie vor hohes Vertrauen. Was geschieht aber, wenn eine Recherche wie die, die Reuters durchgeführt hat, zu dem Ergebnis kommt, dass das US-Militär unter dem damaligen Präsidenten Trump einen Desinformationskrieg zu Lasten von Zehntausenden von philippinischen BürgerInnen geführt hat?
Worum geht es? China hatte nach Ausbruch der Pandemie versucht, den USA eine beträchtliche Mitschuld an der Ausbreitung des Virus zu geben, indem versucht wurde, den Ursprung der Pandemie in die USA zu verlegen. In Antwort auf diese „Kränkung“ der USA und Trumps startete das US-Militär auf den Philippinen eine Desinformationskampagne, um den chinesischen Impfstoff und damit China in der Region zu diskreditieren. Langfristiges Ziel der Desinformation sollte es sein, die geopolitische Bedeutung Chinas in der Region einzudämmen. Kurzfristig kam es infolge der Kampagne, so Reuters, zu Tausenden von Corona-Toten, da sich die überwiegend muslimische Bevölkerung durch den Hinweis des Militärs auf die Möglichkeit der Nutzung von Schweinen im Zuge der Herstellung der Impfstoffe von der Impfung abschrecken ließ.
Der Text ist absolut lesenswert, da er verschiedene Politikfelder bis hin zur persönlichen Kränkung eines Präsidenten miteinander verbindet und ein ganzheitliches Bild zeichnet.
Rechtsextremismus, in Szene gesetzt
piqer:
Mohamed Amjahid
In nur wenigen Tagen haben ARD und ZDF zwei (aus journalistischer Sicht) problematische Sommerinterviews mit den beiden AfD-Politiker*innen Tino Chrupalla (in der ARD) und Alice Weidel (im ZDF) ausgestrahlt. Hier wie dort haben die rechtsextremen Politiker*innen ihre menschenfeindlichen Thesen verbreitet, falsche Zahlen und rechtlich fragwürdige Forderungen platziert. Auf Tagesschau.de erschien deswegen begleitend zum Interview ein Faktencheck, der einen etwas verzweifelten Eindruck hinterlässt. Hatte der AfD-Chef im Hauptprogramm ja seine Sendezeit samt Falschinformationen schon längst bekommen. Einige User*innen beschwerten sich im Netz über Pushnachrichten, die sie von der tagesschau-App auf ihre Handys erhalten haben sollen. Dort war (zunächst ohne Kontext) zu lesen: „Weidel wäre eine sehr gute Kanzlerkandidatin.“ Eine Formulierung wie aus der AfD-Propagandazentrale.
Seit Jahren stehen vor allem die sogenannten Sommerinterviews in der Kritik. Die Idee dahinter ist durchaus lohnenswert: Politiker*innen können ausgeruht und ohne aktuellen Nachrichtendruck von erfahrenen Journalist*innen kritisch interviewt werden. Alles schön inszeniert, meist in einer ruhigen Natur-Kulisse. Nur funktioniert diese Idee im Fall von Rechtsextremismus nicht: Falschinformationen, Hass, Spekulationen und politische Plattitüden, so können die entsprechenden Interviews mit AfD-Figuren beschrieben werden. Das gilt auch für Print-Interviews und Gastbeiträge von Politiker*innen, die (meiner Meinung nach) generell abgeschafft werden sollten. Dazu kommt noch, dass die AfD (und andere rechtsextreme Parteien) sich bei diesen Auftritten in den klassischen Medien bedienen, um ihre Propaganda-Maschine im Netz zu speisen.
Auch anderswo lässt sich dieses journalistische Phänomen im Umgang mit Rechtsextremismus beobachten: Über Jahre hinweg konnte sich die Chefin des rechtsextremen Front National normalisieren – dank ihrer medialen Präsenz. Marine Le Pen kam im französischen Fernsehen mehrmals in Home-Stories vor, in denen sie die Liebe zu ihren Katzen betont, schöne Familienbilder an der Wand kommentiert, sich in einen Sessel zurücklehnt und sanft lächelt. Diverse Medienhäuser freuten sich über so viel Nähe, profitiert hat in Frankreich davon aber vor allem der Rechtsextremismus, der (aufgrund einer Brandmauer) bei der Parlamentswahl nun zwar nicht auf Platz eins gelandet ist aber sein Ergebnis stark verbessern konnte.
Ein krasses Beispiel journalistischer Naivität hat der US-Sender CNN nur wenige Stunden vor der zweiten Runde der französischen Parlamentswahlen ins Netz gestellt: Christiane Amanpour sitzt bei einem als konfrontativ inszenierten Interview gegenüber von Marine Le Pen und liest Fragen von ihrem Tablet ab. Das Problem: die Moderatorin ist inhaltlich mehr als nur schlecht auf das Gespräch vorbereitet, wirkt wenig souverän gegenüber einer eingespielten Le Pen, die einfach Dinge behaupten kann und als wäre das nicht genug prangt im Hintergrund noch das Logo der rechtsextremen Partei. Ein Paradebeispiel, warum im Journalismus generell über den Umgang mit rechtsextremen Parteien und Politiker*innen nachgedacht werden muss.
Dabei ist CNN der Sender, der in der Vergangenheit wegen seines Umgangs mit Donald Trump eigentlich aus der Geschichte hätte lernen können. Viele Medien in den USA, das ist heute klar, haben dem rechtsextremen Trump überhaupt zu seiner ersten Präsidentschaft verholfen. Mit bis zu 2 Milliarden Dollar gratis Sendezeit, in denen Trump seine Botschaften ungefiltert und in Szene gesetzt für Millionen von Menschen platzieren konnte.
Wie Meta mit seinem KI-Label für Verwirrung sorgt
piqer:
Jannis Brühl
Es ist nur in kleiner Textzusatz über Fotos in sozialen Medien, aber er zeigt einen Grundkonflikt im Übergang zu einer Welt, in der mit künstlicher Intelligenz erzeugte Bilder allgegenwärtig sein werden. Eine Welt, in der die Realität beziehungsweise unsere Wahrnehmung von ihr in eine KI-induzierte Krise stürzen könnte.
Dieser kurze Text der Tech-Nachrichtenseite The Verge beschreibt Metas Schritt, Bilder zunächst als „Made with AI“ zu labeln, wenn das Facebook-System sie für KI-generiert hält – nur um dann zurückzurudern. Denn die Technik schlägt selbst bei Fotos aus dem Analog-Zeitalter an und verleumdet sie quasi als KI-Trick. Mutmaßlich führten selbst Photoshop-Standardmoves wie Croppen dazu, dass Bilder als „KI-gemacht“ markiert wurden. Nun heißt das Label – wie ich finde unfreiwillig komisch – „AI Info“. Meta vergibt also ein Label – wofür, weiß der Nutzer nicht wirklich, auch wenn er auf die Erklärung klickt.
Auf der einen Seite steht der Facebook- und Instagram-Konzern Meta. Er will sich nicht dem Vorwurf ausgesetzt sehen, sehenden Auges mit KI manipulierte Bilder zu verbreiten, etwa in den laufenden und anstehenden Wahlkämpfen. Auf der anderen Seite stehen Fotografen, die Prä-KI-Bildbearbeitung einsetzen, aber dennoch ungerechterweise „markiert“ werden, – und Adobe. Die Firma ärgert sich, dass Photoshop und Bildbearbeitung im Ganzen diskreditiert werden könnten. Und dann sind da natürlich noch die Nutzer, die durch so ein Label und die Debatte darum nur noch mehr verunsichert werden.
Ich bin gespannt, wie die Labeling- und Wasserzeichen-Experimente von Meta, Open AI und Co. weitergehen werden. Sie beginnen gerade erst.