Mehrheitsbildung im EU-Parlament

Ein formaler Koalitionsvertrag kann mehr Stabilität bringen und die Demokratie stärken

Sowohl die EVP als auch der Europäische Rat werden wohl darauf drängen, die Wahl der Kommissionspräsidentin schnell abzuschließen. Das Parlament sollte sich aber nicht zu sehr unter Druck setzen lassen. Ein Beitrag von Manuel Müller.

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Bekommt Ursula von der Leyen eine zweite Amtszeit als Präsidentin der Europäischen Kommission? Als Spitzenkandidatin der Europäischen Volkspartei (EVP), die bei den EU-Wahlen vom 6. bis 9. Juni 2024 die meisten Sitze errungen hat, hat sie starke politische Argumente für sich. Im Europäischen Rat gibt es wenig Appetit auf weitere institutionelle Unsicherheiten, insbesondere angesichts Neuwahlen in Frankreich Ende Juni. Für das Europäische Parlament wiederum ist von der Leyens Wahl die einzige plausible Möglichkeit, dem Spitzenkandidatenverfahren gerecht zu werden. Und ohnehin hat sich bislang keine andere Kandidat:in herauskristallisiert, die in beiden EU-Organen die erforderlichen Mehrheiten erreichen könnte.

Nach der Wahl forderte EVP-Fraktionschef Manfred Weber die Sozialdemokrat:innen und Liberalen auf, von der Leyen rasch zu unterstützen. Doch obwohl nur wenige politische Akteur:innen eine zweite Amtszeit für von der Leyen rundheraus ablehnen, ist ihr Weg noch nicht frei. Bevor sie ihrer Wiederwahl zustimmen, wollen die anderen Fraktionen der Mitte Zusicherungen sowohl hinsichtlich politischer Inhalte als auch hinsichtlich der Art und Weise, wie die EVP künftig Mehrheiten im Parlament bilden wird – insbesondere einen Verzicht auf die Zusammenarbeit mit Rechtsaußen-Parteien.

Tradition flexibler Mehrheiten

Dieses starke Interesse an der Vorab-Festlegung künftiger parlamentarischer Mehrheiten mag überraschend erscheinen. Während es in den meisten nationalen Parlamenten eine klare Unterscheidung zwischen Regierungs- und Oppositionsparteien gibt, sind die Mehrheiten im Europäischen Parlament traditionell flexibel und themenspezifisch. Die meisten Entscheidungen wurden dabei immer von einer „Großen Koalition“ getroffen, die sich aus den wichtigsten Fraktionen der Mitte zusammensetzte: der konservativ-christdemokratischen EVP, der sozialdemokratischen S&D und der liberalen Renew Europe (RE), oft ergänzt durch die Grünen. Diese Zusammenarbeit ist jedoch weitgehend informell geblieben, mit nur wenigen Vereinbarungen in Verfahrensfragen.

Außerdem gab es daneben meistens noch alternative Mehrheiten, die bei bestimmten Abstimmungen zum Tragen kamen. In den letzten fünf Jahren haben sich beispielsweise S&D, RE und Grüne manchmal mit der Linksfraktion zur einer knappen Mitte-Links-Mehrheit zusammengetan, vor allem in Umwelt- und Sozialfragen. Die EVP wiederum bildete in der Vergangenheit zeitweise ein Mitte-Rechts-Bündnis mit der RE- und der EKR-Fraktion, die damals von den britischen Conservatives dominiert wurde. Dieses Bündnis verlor jedoch bei den Wahlen 2019 seine Mehrheit und war nach dem Brexit auch politisch nicht mehr tragfähig, da die polnische PiS und die italienische FdI die EKR nach rechts drängten.

Die versuchte Rechtsöffnung der EVP erzeugt Misstrauen

Die Wahlen 2024 haben die politische Landschaft erneut verändert. Obwohl die beiden Rechtsaußenfraktionen EKR und ID ihren Sitzanteil erhöht haben, können sie von den anderen politischen Kräften immer noch leicht überstimmt werden. Durch die Wahlverluste der Grünen und der Liberalen kann das Mitte-Links-Bündnis im neuen Parlament jedoch keine Mehrheit mehr bilden. Dies stärkt die Position der EVP, die nun de facto ein Vetorecht hat und die Mitte-links-Fraktionen in jedem Fall zum Aushandeln von Kompromissen zwingen kann.

Darüber hinaus will die EVP-Führung die Machtposition ihrer Fraktion weiter verbessern, indem sie neue Mehrheitsoptionen auf der rechten Seite eröffnet. Damit ist nicht ein stabiles Bündnis mit der EKR oder der ID gemeint, das politisch ohnehin nicht möglich wäre. Vielmehr will sich die EVP weiterhin in erster Linie auf die Große Koalition stützen, dabei aber auch jene Rechtsaußenparteien in die Mehrheitsbildung mit einbeziehen, die „pro-EU, pro-Ukraine und pro-Rechtsstaat“ sind – wozu aus Sicht der EVP die italienischen FdI, nicht aber die polnische PiS oder das französische RN zählen. Aber selbst eine solche begrenzte Öffnung nach rechts könnte es der EVP ermöglichen, bei der Mehrheitsbildung auf die Grünen und den linken Flügel von S&D und RE zu verzichten. Die plausible Landezone für politische Kompromisse im Parlament läge damit künftig sehr nahe bei den Positionen der EVP selbst.

S&D, RE und Grüne hingegen lehnen eine solche Unterscheidung zwischen vermeintlich akzeptablen und inakzeptablen Rechtsaußen-Parteien ab. Im Wahlkampf forderten sie die EVP wiederholt auf, jegliche Zusammenarbeit mit EKR und ID auszuschließen, was diese jedoch stets zurückwies. Dass es im Parlament keine stabile rechte Mehrheit ohne S&D und RE gibt, gibt diesen nun allerdings ein Druckmittel in die Hand, um die Wiederwahl von der Leyens von bestimmten Zugeständnissen abhängig zu machen. Neben politischen Zielen wie der Fortführung des Green Deals dürften diese Zugeständnisse vor allem auch eine ausdrückliche, möglicherweise schriftliche Verpflichtung beinhalten, keine Mehrheiten mit Rechtsaußenparteien anzustreben.

Ein Koalitionsvertrag würde das Parlament stärken

Wenn es dazu kommt, könnten die Herausforderung durch die extreme Rechte, das wachsende Misstrauen zwischen der EVP und den anderen Fraktionen und der Mangel an alternativen Mehrheiten zuletzt noch zu einem demokratischen Fortschritt führen: einem echten Koalitionsvertrag auf europäischer Ebene. Eine solche Vereinbarung würde eine stabilere und formalisiertere Zusammenarbeit ermöglichen und die demokratische Transparenz und Verantwortlichkeit erhöhen. Langfristig würde sie auch die institutionelle Position des Parlaments stärken, das auf diese Weise seinen eigenen politischen Prioritäten neben der Strategischen Agenda des Europäischen Rates und den Politischen Leitlinien der Kommission sichtbarer machen könnte.

In den kommenden Wochen werden sowohl die EVP als auch der Europäische Rat wahrscheinlich darauf drängen, die Wahl der nächsten Kommissionspräsident:in schnell abzuschließen, um institutionelle Instabilität zu vermeiden. Tatsächlich hat die unglückliche Entscheidung des Europäischen Rates, die Europawahl erst im Juni statt im Mai abzuhalten, den Zeitrahmen für die Ernennung der Kommission unnötig verkürzt. Das Parlament sollte sich aber nicht zu sehr unter Druck setzen lassen. Jetzt eine verlässliche Vereinbarung zwischen den großen Fraktionen auszuhandeln, wird die politische Stabilität für die nächsten fünf Jahre verbessern und ist es allemal wert, von der Leyens Wiederwahl von Juli auf September zu verschieben.

 

Zum Autor:

Manuel Müller ist Senior Research Fellow am Finnish Institute of International Affairs in Helsinki. Er betreibt das Blog „Der (europäische) Föderalist“. Auf X: @foederalist.

Hinweis:

Dieser Beitrag ist zuerst beim Finnish Institute of International Affairs (FIIA) in englischer Sprache erschienen.